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Welt im Untergang

Die künftige Kulturhauptstadt Essen verordnet ihren Kulturinstitutionen einen Sparkurs. Auch das Aalto-Theater ist davon betroffen. Oper und Schauspiel sollen die anstehenden Tariferhöhungen selbst ausgleichen. Trotzdem hat das Theater zu seinem 20-jährigen Bestehen nun ein Ring-Projekt begonnen. Und zwar hat Intendant Stefan Soltesz vier verschiedene Regisseure beauftragt. Den Anfang hat nun Tilman Knabe mit Wagners "Rheingold" gemacht.

Von Christoph Schmitz | 09.11.2008
    Tilman Knabe hat Wagners "Rheingold" radikal aktualisiert. Alle geheimen Kräfte des Mythos hat er ins Licht gerissen und in Bilder unserer Zeit übersetzt. Alles dunkel Wabernde hat er grell ausgeleuchtet und unmissverständlich gedeutet. Man ist überrascht, wie nüchtern und eiskalt analytisch der Spätromantiker Wagner sein kann. Sogar die Musik bekommt durch Knabes eindeutige Gegenwartsszenen einen kühleren Ton.

    Aus dem verführerischen Sog des Wagnerklangs wird der bedrohliche Soundtrack einer im selbstverschuldeten Unglück befangenen Jetztzeit. Wobei diese Jetztzeit nicht reine Gegenwart ist, sondern schon hineingezerrt ist in eine negative Utopie, die aber zeitlich vom Jahr 2008 gar nicht mehr entfernt zu sein scheint. Es geht um unsere westliche Zivilisation von heute, die aber schon tief in den Strudel des ökonomischen, sozialen und demokratischen Niedergangs geraten ist. Knabe lässt die Rheingold-Gesellschaft nicht langsam in die Phase des Niedergangs gleiten, sondern der Zusammenbruch ist bereits am Anfang, beim Vorspiel Realität.

    Keine Naturseligkeit einer intakten Welt im ökologischen und sozialen Gleichgewicht sehen wir bei diesen Klängen, sondern eine zerspaltene Gesellschaft. Links oben auf der Bühne die Götter als kleine Herrscherclique in holzgetäfeltem Ambiente, unter ihnen die Rheintöchter ganz im Sinne von Hanslicks Hurenaquarium als schrille Nutten eines billigen Clubs mit Bordell und Peepshow, rechts daneben die Welt der Nibelungen als Behausungen des Lumpenproletariats, das mit den Abfällen der Zivilisation überlebt, und rechts oben das kleine Büro der Riesen, die zwielichtige Architekten sind oder Bauunternehmer.

    Der Bühnenbildner Alfred Peter hat die verschiedenen Räume durch zahlreiche Leitern, Gänge und Treppen zu einem labyrinthischen Konglomerat verknotet. Dem Auge wird hier kein Ruhepol zugestanden. Unablässig wanderte der Blick über die parallel geschalteten Welten, in denen neben der Haupthandlung permanent agiert wird.
    Etwa wenn Wotan und Loge nach Lumpen-Nibelheim hinabziehen, um Alberich Ring und Gold zu stehlen, richten sich links unten die Rheingold-Huren zwischen Pappkartons ein und füttern rechts oben die Riesen in ihrem Büro die als Geisel genommene Freia. Die Gier nach Macht, Geld, Wohlstand und Vergnügen hat die ganze Welt verdorben und sie ins Elend gestürzt. Was bei Wagner als Entwicklung über vier Abende und sechzehn Stunden entfaltet wird, ist in Knabes "Rheingold" am Vorabend schon Faktum. Zum Glück muss er aus diesem Einstieg nicht die drei weiteren Teile entwickeln. Aber mit theatralischer Spiellust und Bildoppulenz hat er den Kern der Tetralogie herausgepult.

    Schön anzusehen ist das nicht immer, aber um Gefälligkeiten soll es im Theater ja auch nicht gehen, wenn es Wotan zum Beispiel zum Orchestervorspiel mit den Rheintöchtern pornoreif treibt oder Alberich als Peepshowkunde onaniert und bei den Worten "Garstig glatter glitschiger Glimmer" ejakuliert und die Hand aus der Hose zieht.

    Bei einer radikal zeitphänomenologischen Inszenierung entstehen natürlich Reibungen und Brüche, die aber die Wucht von Knabes Zugriff nicht untergraben. Was die Macht der Bilder allerdings untergräbt, das ist die Musik. Weil die Szene alles an sich reißt, hört man vor lauter Gucken nichts mehr. Allenfalls, dass das Essener Sänger-Ensemble musikalisch mitunter überfordert ist, was es schauspielerisch ausgleicht.

    Dass Knabe bei aller Oberflächendrastik einen Sinn für Geschichte, Psychologie und Mythos hat, das beweist sein effektvoller Auftritt Erdas. Wie aus tiefen Bewusstseinsschichten tritt sie als archaisches Menschenwesen in die seinsvergessene Zeit und warnt vor der Anbetung des Mammons.