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Weltläufig, menschenfreundlich

Seit 1999 erscheint in der Deutschen Verlags-Anstalt die "Tschechische Bibliothek". In diesem Frühjahr erschien der der 33. und letzte Band, "Die Hunde von Konstantinopel"; sein Autor ist der 1834 in Prag geborene Journalist, Dichter, Dramatiker und Übersetzer Jan Neruda. In deutscher Übersetzung gab es bisher ein einziges Buch von ihm, die "Kleinseitner Geschichten", burleske Genrebilder über die Bewohner der Prager Kleinseite, dem malerischsten Viertel der Stadt. Mit ihnen fand Jan Neruda nicht nur Eingang in die Weltliteratur, er war auch richtungweisend für Generationen tschechischer Erzähler, bis hin zu Hasek und Bohumil Hrabal.

Von Cornelia Staudacher | 06.08.2007
    Hans Dieter Zimmermann: " Wir haben ihn (natürlich) an den Schluss gesetzt, um einen Schlusspunkt zu haben, sozusagen einen Paukenschlag noch mal zum Schluss. Wir haben mit Hasek angefangen und hören mit Neruda auf. ..... (Also) es gibt eine Reihe von tschechischen Schriftstellern oder sagen wir wenigstens zwei oder drei, die auch in Deutschland relativ bekannt sind, das eine ist natürlich Jaroslav Hasek mit dem Braven Soldaten Schwejk, und der zweite ist wohl Hrabal, und der dritte ist wohl Jan Neruda, denn die "Kleinseitner Geschichten" von Neruda sind schon vor vielen Jahrzehnten übersetzt worden und in Deutschland immer wieder gelesen worden.......Wir wollten natürlich diese drei großen Gestalten in der Tschechischen Bibliothek unterbringen, aber nicht mit Büchern, die eh schon erreichbar sind, und so ist es uns gelungen, zu J. Hasek einen Band zu bringen mit bisher in Deutschland nicht bekannten Texten, frühe Schwejk-Fassungen, also der Ur-Schwejk heißt es, und bei Neruda, den man also für den etwas biedermeierlichen Poeten der Prager Kleinseite, also des Teiles unter der Prager Burg gehalten hat, den zeigen wir hier als einen Kosmopoliten, also einen Mann, der jahrelang durch Europa und die Mittelmeerländer gereist ist und einen so witzigen, klugen und verständnisvollen Blick für all die Ereignisse hat. ..... Er ist auch einer der Begründer des Feuilletons und hat übrigens auch über Egon Erwin Kisch, der natürlich gut Tschechisch konnte und der den berühmten Neruda gelesen hat, auch Einfluss auf das deutsche Feuilleton und auf den deutschen Reportagestil."

    Ein kleiner Paukenschlag ist dieses Buch in der Tat. Die in ihm versammelten Reisefeuilletons sind alles andere als biedermeierlich oder auf harmlose Weise unterhaltend. Weltläufigkeit und Offenheit spricht ebenso aus ihnen wie eine starke Empathie und Menschenfreundlichkeit des Autors. Nie belässt es Jan Neruda bei seinen Reisen nach Frankreich und Italien, auf den Balkan und in den Vorderen Orient, wo er die Türkei, Palästina und Ägypten besuchte, bei der bloßen Schilderung des Lokalkolorit. Wohl beschreibt er die orientalischen Märkte, das laute Treiben auf Straßen und Plätzen mit farbiger Anschaulichkeit und Emphase. Aber seine Neugierde und seine soziologische Aufmerksamkeit lässt ihn immer auch den Kontakt zu den Menschen aufnehmen und in Bibliotheken und Archiven an Ort und Stelle recherchieren. So flicht er eine Menge Hintergrundinformationen und Reflexionen über die geschichtlichen und gesellschaftlichen Gegebenheiten der Orte, die er besuchte, mit ein. Die Übergänge von den Passage sinnlichen Beschreibens in die sachlichen Reflektierens vollziehen sich fließend und harmonisch, wie in dem Porträt Konstantinopels. Lange hält sich der Erzähler auf der Brücke zum Goldenen Horn, der Nahtstelle zwischen Europa und Asien, zwischen Schwarzem und Mittelmeer auf, wo "das ganze Weltall und alle Töne und Farben, alle Formen und Gedanken zu einem Gedicht zu verschmelzen" scheinen.

    Wir saßen diesem Bild gegenüber, und Stunde um Stunde verstrich, und wir konnten uns nicht davon lösen. Die Luft war klar, nur die Entfernung legte einen weichen, bläulichen Nebel auf die Stadt, aber wir konnten jede Farbe und jede Linie erkennen. Der Berg verströmte Wolken von Duft, und wir waren von göttlicher Ruhe, heiliger Stille umgeben. Wir sehen eine riesige Stadt, hören aber nicht den Schlag ihres Herzens und die Geräusche ihres Mundes, wir sehen das aufgewühlte Meer und auf ihm Hunderte von Schiffen, sein Wellenschlag und das Pfeifen der Schiffe aber dringen nicht zu uns. Wenn wir überhaupt etwas vernehmen, ist es das Raunen der Geschichte, sie weht uns an, wispert und rauscht dann wieder wie ein ferner Wasserfall, und neben höchstem Entzücken hat sich auch schon Schmerz in unser Herz geschlichen. Wir sehen ja Leben und Tod, eine Weltstadt und einen Weltenfriedhof zugleich. Wachsen diese Stambuler Zypressen doch hervor aus den verwesenden Überresten der hier begrabenen Völker, und dieses schöne Konstantinopel ist nur eine traurige Gruft der Geschichte!

    Wir blicken auf eine Stadt und nehmen einen Urwald wahr, stets sproßt hier eine Kultur aus der anderen, untergegangenen hervor; allen voran lächeln uns die verspielten Mythen prähistorischer Zeiten entgegen, dann tut sich das klare Weltbild der Hellenen auf, darauf folgen die byzantinischen Zeiten und nach ihnen die "Offenbarung" beziehungsweise der "Koran" - auch dieser bettet sich schon zu Grabe, und aus ihm hervor sprießt ein neuer Wald, moderne Welt und Weltanschauung genannt und weder einen Mythos noch eine Bibel, noch eine Prophezeiung besitzend...


    Seine sozialkritischen Beobachtungen sind, vor allem, was die orientalischen Städte angeht, manchmal von erstaunlicher Aktualität. Wo immer es ihm notwendig erscheint, deckt er Missstände auf und lenkt das Augenmerk auf soziale Ungerechtigkeiten. Er hat ein großes Gespür für die Diskrepanz zwischen Armen und Reichen, wenn er beispielsweise der lebendigen Beschreibung der pompösen Gartenanlagen im Kairoer Villenviertel mit seinen "goldenen Equipagen, sündhaft teuren Pferden und getäfelten Sänften" die Armut des ländlichen Lebens der Bauern gegenüberstellt, die von den Einflüssen aus dem fortschrittlichen Europa ebenso wenig profitieren wie sie Jahrhunderte zuvor vom Einzug der mohammedanischen Kultur profitierten.

    Die mohammedanische Kultur hielt Einzug, Kalifen und stolze Mamelukensultane herrschten - und das Volk war schikaniert und unglücklich. Mit aller Kraft dringt die Kultur des fortschrittlichen Europas ins Land - und das Volk stöhnt und weint.

    Wehe dem armen Bauern, der sich zu dieser Zeit hierher wagte, augenblicklich hauen Säbel auf seinen Rücken, der Gehetzte flieht weinend - er würde die Europäer, die von seinen Schwielen reich wurden, mit seinen schmutzigen Lumpen und seiner Nacktheit beleidigen! Man braucht das nur einmal im Leben zu sehen und hat sein leben lang genug! Was ist jegliche Armut in Europa gegenüber dem Elend hier!


    Nicht nur in den Städten des Orients, den Neruda zwischen 1870 und 72 bereiste, erweist er sich als aufmerksamer Betrachter und kritischer Berichterstatter. Und er scheut sich nicht, seine subjektive Meinung dezidiert zum Ausdruck zu bringen.

    Mehrmals reiste er auch auf der Achse Wien-Berlin-Budapest, und er besuchte Paris, die Traumstadt der seit dem 19. Jahrhundert äußerst frankophilen Tschechen. In Paris stößt er sich an der Unbeständigkeit und Nonchalence der Franzosen, ihrem Hang zu Modernität und Exzentrizität, die er dafür verantwortlich macht, dass ganze Stadtteile abgerissen werden und das historische Paris mehr und mehr verschwindet. In München moniert er die ambitionierte Gemachtheit, die allem anhafte. Die Bayern charakterisiert er als gutherzig, redlich, vertrauensselig, aber auch "konservativ, geradezu erschreckend konservativ" und grobschlächtig,, "schreckliche Grobiane".

    Berlin lässt ihn kalt; es erscheint ihm wie eine "auf Kommando errichtete Stadt". Beim Anblick seiner in Reih und Glied angeordneten klassizistischen Bauwerke drängt sich ihm der Vergleich mit einer exerzierenden Truppe auf.

    Berlin rührt an keiner Stelle ans Herz, und der Besucher bleibt nüchtern gestimmt. Hier spricht einen nirgendwo die Vergangenheit an, sogar das älteste ist verhältnismäßig neu, vor keinem der altersgrauen Werke des Mittelalters lebt man sich in die Gedanken und Gefühle längst vergangener Generationen hinein, Berlin wuchs nicht, Berlin wurde gemacht, seine Gemachtheit ist unangenehm.

    Auch dem sprichwörtlichen Berliner Humor kann er nichts abgewinnen. Er empfindet ihn als beißenden, gekünstelten Witz, der immer dann entstehe, wenn es keinen herzhaften, warmen Humor gebe.

    Allein schon die Mundart der Berliner ist absolut eintönig, unangenehm, hart, es rasselt und krächzt einem nur so um die Ohren, knarrt und knirscht.

    Jan Nerudas Reisefeuilletons sind nicht nur inhaltlich interessant und lehrreich und somit Ausdruck des hohen Bildungsstandes ihres Verfassers. Stilistische Bravour und ein ausgepägtes Gespür für sprachliche Pointen zeugen auch vom Sprachgefühl und von der Stilsicherheit des Autors, der als Wegebereiter der modernen tschechischen Nationalliteratur gilt, die sich in der zweiten Hälfte des 19. Jh. entwickelte. Neruda plädierte sowohl für eine kosmopolitische Orientierung des Schriftstellers als auch für eine individuelle Kraft und die Freiheit des künstlerischen Wortes. Der Feuilletonist müsse "Dichter, Philosoph, Gelehrter, Humorist, Kritiker, ein Mann voller Gefühl, dann wieder ein Mann mit steinernem Herzen sein" , hat er einmal gesagt und hinzugefügt:

    Ins Fach des Feuilletonisten gehört die ganze Welt.

    Hans Dieter Zimmermann blickt mit Zufriedenheit zurück auf die Entwicklung der Tschechischen Bibliothek zurück.

    " Wir haben sehr gute Besprechungen gehabt, ..... und wir haben auch einige "Bestseller", wie wir immer sagen, also gerade der Hasek, der Hrabal. Auch dieser Band mit Briefen der drei großen Komponisten, Smetana, Dvorak und Janaczek, sind in die zweite Auflage gegangen, also insofern gibt es schon ganz gute Erfolge, und die Boschstiftung hat auch mit verschiedenen Veranstaltungen auf die Bibliothek aufmerksam gemacht … und sie hat die Bibliothek auch an öffentliche Stadtbibliotheken oder Universitätsbibliotheken verschenkt, so dass sie dort vor Lager gehalten werden. Das ganze wird vielleicht auch längerfristig wirken. Wir haben das gemerkt bei den Auflagen. Die ersten zehn Bände haben bessere Auflagen als die letzten zehn Bände. Also es braucht einige Zeit, bis sich das durchsetzt."

    Für die tschechische Literatur gilt wie für viele Literaturen kleinerer Nationen: Sie haben es nicht leicht, auf sich aufmerksam zu machen und sich auf dem Literaturmarkt zu behaupten, der immer stärker von kommerziellen Gesichtspunkten und der Suche nach dem Event dominiert wird - eine Entwicklung, die in ihrer Einseitigkeit der Literatur insgesamt nicht gerecht wird. Immer wieder sei ihm aufgefallen,

    "....dass diese Autoren von sogenannten kleinen Literaturen.... viel weniger provinziell sind als wir, die kennen die Weltliteratur, also man kann sich ohne weiteres mit einem tschechischen oder ungarischen Schriftsteller über die deutsche Klassik unterhalten, wenn ich über die ungarische Romantik sprechen soll, verstumme ich sehr bald. Also der Blick geht immer von den Großen zu den noch Größeren,...... und wir müssen auch sehen, ... dass durch die Mauer und die Ost-West-Teilung der alte Wechselverkehr unterbrochen wurde, denn vor 1933 war Berlin so etwas wie eine Drehscheibe für die Literatur, Ibsen, Strindberg, die Skandinavier sind über Berlin in die Welt gegangen. .... Also die alte Öffnung Berlins, nicht nur nach Westen, sondern auch nach Osten müssen wir wieder finden, und dann wird auch das Interesse wieder größer werden für die ungarische und die tschechische Literatur. "

    Neben dieser Hoffnung auf Berlin als Drehscheibe zwischen Ost und West wäre auch ein Buchmessenschwerpunkt geeignet, das Interesse an der tschechischen Literatur bei einem größeren Publikum zu wecken,

    " Wir bitten seit langem, dass das geschehen soll, aber im Prager Kulturministerium sitzt jemand, der eine Rechnung aufmacht, es kostet viel Geld und ob sich das wirklich lohnt, weiß man nicht. Also, es ist leider noch nicht geschehen. "

    Jan Neruda, der "nahezu erste Europäer in Böhmen", wie Carel Capek ihn einmal nannte, und Wegbereiter der tschechischen Moderne, würde das sicher begrüßen.

    Jan Neruda: Die Hunde von Konstantinopel. Reisebilder
    Ausgewählt, übersetzt und mit einem Nachwort von Christa Rothmeier.
    Deutsche Verlagsanstalt München (tschechische Bibliothek) 2007
    370 Seiten