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Weltliteratur und Weltpolitik

" Lesen ist für mich etwas Wesentliches, ich lese wie ich atme. Jeder Mensch ist irgendwie ein Lesender (...) das vorliegende Tagebuch ist das Resultat dieses Leser Seins. Meines Erachtens kehrt man nach einer bestimmten Zeit - für mich waren es die ersten fünfzig Jahre - wieder zu den Büchern zurück, die man schon gelesen hat, statt nach neuen Büchern zu suchen. Ich glaube, man verliert eine bestimmte Energie in dem Maß, wie man älter wird und ist nicht mehr so erpicht auf das Unbekannte. "

Von Margrit Klingler-Clavijo | 19.12.2005
    So erklärt Alberto Manguel die Entstehung seines neuen Werks Tagebuch eines Lesers. Genau ein Jahr - von Juni 2002 bis Mai 2003 - hat er Tagebuch geführt und sich dabei jeden Monat noch einmal eins seiner Lieblingsbücher vorgenommen, quer durch die Weltliteratur: Adolfo Bioy Casares, Miguel de Cervantes, Adalberto von Chamisso, Margaret Atwood, H.G. Wells ,etc. Von diesen Leseerfahrungen ausgehend, beschreibt Alberto Manguel seinen Alltag in einem kleinen französischen Dorf in der Nähe von Poitiers. Er analysiert und konterkariert aber auch die großen weltpolitischen Ereignisse wie die Wirtschaftkrise in Argentinien im Jahr 2001, die Folgen des 11. September oder den Ausbruch des Irakkrieges. Spätestens seit seiner Geschichte des Lesens weiß man, dass Alberto Manguel wie kaum ein anderer zeitgenössischer Schriftsteller mit Begeisterung und Sachkenntnis über die Welt der Bücher und Bibliotheken zu schreiben vermag. Doch fast schon an ein Wunder grenzt die kongeniale Auswahl des jeweiligen Lieblingsbuches. Da ist man verblüfft über die Resonanz und Korrespondenz zwischen Buch und Geschehen und hat manchmal den Eindruck, das Buch sei eigens dafür geschrieben und nicht, wie Alberto Manguel versichert, rein zufällig ausgewählt worden.

    " Beim Lesen weiß man ja noch nicht, was geschehen wird, aber das Buch weiß das schon. Wenn wir uns tatsächlich auf das konzentrieren, was wir leben, werden wir sehen, dass uns das Buch bis zu einem außergewöhnlichen Punkt erlaubt zu verstehen, was mit uns los ist und was in der Welt geschieht. Ich könnte jetzt ein Beispiel herausgreifen; ich habe das tatsächlich gemacht. Transfuge, eine französische Literaturzeitschrift hatte mich von diesem Buch ausgehend gebeten, jeden Monat einen Roman auszuwählen und den ersten Abschnitt des jeweiligen Romans zu vergleichen mit dem, was heute geschieht, etwa Pedro Páramo, ein Roman von Jules Verne. Verblüfft ist man schon, wenn man sieht, wie die Dinge dann übereinstimmen. Daraus schließe ich: Es stimmt einfach, dass jeder Roman, der für uns wichtig ist und uns berührt, uns erlaubt, etwas, was gerade geschieht und was wir nicht vorhersehen konnten, zu verstehen. "

    Wie das im Einzelnen funktioniert, sei hier am Beispiel des September 2002 und Chateaubriands breit angelegten Memoiren Erinnerungen von jenseits des Grabes exemplifiziert. Alberto Manguel erinnert sich an den 11. September 2001 und findet kurz darauf im Werk des französischen Schriftstellers das folgende Zitat:

    " Mord wird in meinen Augen nie ein Gegenstand der Bewunderung und ein Argument der Freiheit sein; ich kenne kein Wesen, das knechtischer, verächtlicher, niederträchtiger, beschränkter wäre als ein Terrorist. "

    Was das Tagebuch so lesenswert macht, sind Manguels Reflektionen über die Art und die Wirkung des Lesens, selbstverständlich aus der Perspektive des leidenschaftlichen, polyglotten Lesers, der er nun mal ist. Nach Jahrzehnten des Nomadentums - Argentinien, Israel, Spanien, Tahiti, Kanada - hat er sich nun definitiv in Frankreich niedergelassen, samt seiner umfangreichen Bibliothek.

    " Zuhause bin ich da, wo meine Bücher sind. Und nun habe ich zum ersten Mal all meine Bücher beieinander. Ich werde jetzt wohl nicht mehr umziehen. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, noch einmal dreißigtausend Bücher einzupacken. Der Ort, an dem sie jetzt bei mir zuhause in Frankreich stehen, ist der Ort, an dem ich zu sterben gedenke. Ich habe mich dort endgültig niedergelassen. Da ich dort all meine Bücher habe, ist dort auch meine vergangene und meine künftige Autobiographie. "

    Wer nun aber annimmt, Alberto Manguel habe sich in seinem Heim und seiner Bibliothek verschanzt und sich von der Welt abgeschottet, irrt. Diese Idylle können sich moderne Schriftsteller, die auf Lese- und Vortragsreisen gehen müssen, um wie Alberto Manguel im Vorwort schreibt, "die Vorzüge ihrer eigenen Bücher anzupreisen, als handelte es sich um Toilettenbürsten oder Lexika" gar nicht leisten. Daher wurde das Tagebuch häufig auf Reisen und in verschiedenen Hotelzimmern geführt, mal witzig, mal melancholisch und generell im Bewusstsein der eigenen Sterblichkeit und Vergänglichkeit.

    Gelegentlich wirken die Tagebucheintragungen wie ein schlichtes Memento Mori, etwa in den Überlegungen über den verborgenen Tod in den Industriegesellschaften, die er - wen wundert das schon - im Februar 2003, kurz vor dem Ausbruch des Irakkrieges anstellt. Beeindruckt zeigt er sich von der Haltung des Protagonisten im Angesicht des Todes in Dini Buzzatis Roman Die Tatarenwüste. Da heißt es "Geh mit sicherem Schritt und kerzengerade wie bei einer Parade über die Schattengrenze und lächle dabei, wenn du kannst. Schließlich hast du dir nichts wirklich Schlimmes vorzuwerfen, und Gott wird barmherzig sein."

    Und noch etwas fällt auf: Gleich zwei seiner zwölf Lieblingsbücher sind posthume Rückblicke auf das Leben. Chateaubriands bereits erwähnte "Erinnerungen von jenseits des Grabes" sowie die Nachträglichen Memoiren von Brás Cubas von Machado de Assis im Schlusskapitel seines Tagebuches. Dass dieser geniale Schriftsteller und Begründer der brasilianischen Literaturakademie in Europa immer noch viel zu wenig bekannt ist, erzürnt Alberto Manguel. Dagegen könnte er dessen innere Einstellung zum Leben und zur Literatur glattweg übernehmen: "Ich werde sterben, wie ich gelebt habe, mit einem Buch in der Hand."