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Weltreligion ohne Aufklärung

Eine Religion der Gewalt und der Unberechenbarkeit. Eine Religion der Terroristen, der Unvernunft, der Irrationalität - das ist das oft von westlichen Medien gezeichnete Bild vom Islam. Zu Unrecht?

Von Reinhard Baumgarten | 18.08.2007
    "Es ist die absolute Katastrophe. Die schlimmsten Vorhersagen scheinen übertroffen zu werden."

    "Guten Abend, meine Damen und Herren! Die USA sind von einer beispiellosen Terrorwelle heute heimgesucht worden."

    "Today we've had a national tragedy. Two airplanes have crashed into the World Trade Centre in an apparent terrorist attack on our country."

    "Man mag nicht über die Zahl der Opfer nachdenken. Es können Tausende, Zigtausende sein."

    "And if you go over you can see that people jumping out of the window right now. O my God!"

    "Er sagt, ich zitiere: Zeig mir doch, was Mohammed Neues gebracht hat, und da wirst du, so sagt er, nur Schlechtes und Inhumanes finden."

    "Es hat gegeben, es gibt im Islam jede Menge Aufklärer, aber keine Aufklärung."

    "Das ist das Gefühl einer moralischen Überlegenheit und vor allem das Gefühl einer Auserwähltheit."

    Eine Religion der Gewalt und der Unberechenbarkeit. Eine Religion der Terroristen, der Unvernunft, der Irrationalität - das ist das oft von westlichen Medien gezeichnete Bild vom
    Islam. Zu Unrecht? Im Prinzip schon, meint der Tübinger Islamwissenschaftler Lutz Richter-Bernburg:

    "Es gibt ja im Arabischen seit mehr als 1000 Jahren in der philosophischen und theologischen Terminologie einen Begriff, der dem deutschen Wort Vernunft entspricht. Dieser Begriff erscheint im Koran noch nicht. Wohl aber erscheint im Koran durch den ganzen Text immer wieder der Appell: "Wollt ihr denn nicht Einsicht haben?" Oder auch: "So habt doch endlich Einsicht, so seid doch endlich einsichtig!". Dieser Appell an die Einsichtsfähigkeit des Menschen schließt nicht aus, dass in der Mehrheitstheologie immer wieder betont wurde, dass Gott unerforschlich ist und dass er weit über die Fassungsfähigkeit der menschlichen Vernunft hinausgeht."
    Rund 1,3 Milliarden Menschen weltweit bekennen sich zur jüngsten der drei monotheistischen Weltreligionen. Islam bedeutet wörtlich: Hingabe an Gott, in Frieden leben.
    Doch es herrscht vielerorts Krieg innerhalb und außerhalb der islamischen Gemeinschaft. Mag es sich bei diesem martialischen Auftritt noch um die Übung einer Antiterroreinheit in Saudi Arabien handeln.
    So handelt es sich hierbei um die von saudischen Terroristen ins Internet gestellte kaltblütige Ermordung einer amerikanischen Geisel.

    Tausende von Menschen sind in diesem noch jungen Jahrhundert bereits durch Terroristen umgekommen, die ihre Bluttaten mit dem Islam rechtfertigen.
    Osama bin Laden, Chefterrorist und Kopf des Terrornetzes El Kaida. Jeder Amerikaner sei ein legitimes Ziel, ob als Soldat oder als Steuerzahler, doziert bin Laden. Er beruft sich auf den Koran, das heilige Buch der Muslime, sowie auf die Sunna - das sind die Aussprüche und Handlungsweisen des Propheten.

    Nichts erscheint so sinnlos, wie die Bombe im Linienbus in Tel Aviv, in der Londoner U-Bahn, in Pendlerzügen in Madrid, in Hotels in Scharm el-Scheich, auf Bali oder in Casablanca. Es sind die menschenverachtenden Auswüchse einer kaltblütigen Un-Vernunft. Muslimische Politiker und geistige Würdenträger betonen immer wieder, diese Un-Vernunft sei mit dem Islam nicht vereinbar. Sie haben Recht, und sie haben Unrecht. Das Verständnis von Vernunft und die Anwendung der Vernunft gerade in Glaubensfragen, weiche im Morgen- und Abendland an entscheidenden Punkten voneinander ab, meint Mohammed Kalisch, Professor für islamische Theologie in Münster:

    "Das ist das Verständnis von Vernunft, wie es viele Muslime heutzutage haben: Es gibt feststehende Wahrheiten. Man weiß, dass diese Wahrheiten wahr sind, und Vernunft kann nur die Funktion haben zu bestätigen, was man ohnehin schon weiß. Das ist überhaupt das ganze Ärgernis muslimischer Theologie - nicht nur muslimischer Theologie. Man muss fairerweise sagen, es gibt auch eine ganze Reihe christlicher Theologen, die so arbeiten."

    Richter-Bernburg: "Die Anwendung koranischer Maximen auf das gesellschaftliche, familiäre und politische Leben geschieht dann nach Maßgabe menschlicher Vernunft. Die Vernunft ist da durchaus nachgeordnet. Ein springender Punkt ist, dass die koranische Verkündigung nicht als im Widerspruch zur menschlichen Vernunft stehend geglaubt wird, sondern dass sie der menschlichen Vernunft entspricht nach dem Glauben der
    Muslime."

    Tagesschau 5.9.2006: "Guten Abend, meine Damen und Herren. Papst Benedikt XVI. hat mit einem Zitat zum Thema Islam Kritik bei Muslimen in aller Welt ausgelöst. In einer theologischen Vorlesung an der Universität Regensburg hatte das katholische Kirchenoberhaupt über das Verhältnis von Vernunft und Religion gesprochen. Der Papst zitierte dabei eine scharfe Islamkritik eines byzantinischen Kaisers aus dem 14. Jahrhundert. "

    Papst Benedikt XVI: "Er sagt, ich zitiere: Zeig mir doch, was Mohammed Neues gebracht hat, und da wirst du, so sagt er, nur Schlechtes und Inhumanes finden - wie dies, dass er vorgeschrieben hat, den Glauben, den er predigte, durch das Schwert zu verbreiten. "

    Ströme von Blut fließen bei der katholischen Reconquista, der Rückeroberung des maurisch-muslimischen Andalusien; mit dem Ruf "Gott will es" metzeln christliche Kreuzfahrer im Heiligen Land Muslime nieder; mit dem Ruf Allahu Akbar morden muslimische Eroberer christliche Männer, Frauen und Kinder dahin. Unendlich viele Grausamkeiten haben Menschen im Laufe der Geschichte im Namen Gottes, im Namen ihrer jeweiligen
    Religion verübt. Es gibt nicht den geringsten Grund anzunehmen, dass der Islam in Sachen Fanatismus und
    Irrationalismus ein Monopol besitzt.

    "In der Welt des europäischen Mittelalters hat die Kirche einen derart antirationalistischen Kurs gefahren, der vor allen Dingen sich wendete gegen naturwissenschaftliche
    Erkenntnisse. Stichwort Galileo, Keppler oder Kopernikus - kopernikanische Wende im Weltbild usw."
    Die Leine, an der die unabhängige Vernunft im islamischen Mittelalter geführt wird, ist zwar etwas länger als im christlichen Europa. Doch der Geist darf und soll sich nur in dem von der Geistlichkeit abgesteckten Rahmen bewegen. Der Zweifel gilt nicht mehr als Schlüssel der Erkenntnis. Einige Jahrhunderte zuvor - in der Frühzeit des Islams - war das noch anders.

    Neugierde und Forscherdrang bereiten zwischen dem 8. und 11. Jahrhundert den Boden für eine beispiellose kulturelle Blüte im Islam. In den eroberten Gebieten schlummert Wissen, das die neuen Herren gern übernehmen und weiterentwickeln. Muslimische Gelehrte sind damals führend auf allen Gebieten der
    Wissenschaft. Sie scheuen nicht das Studium der griechischen Philosophen, der römischen Mathematiker, der persischen Grammatiker und der indischen Astrologen. Sie sind offen. Sie suchen, einem Ausspruch ihres Propheten Muhammad folgend, Wissen - und sei es in China. Für die damaligen Araber ist das das Ende der bekannten Welt. Dieses Wissen wenden sie erfolgreich an und geben es zum Teil an Europa weiter.
    Die Blütezeit endet nicht abrupt, eher schleichend und unmerklich. Und, so meint der islamische Theologe Mohammed Kalisch, der einsetzende kulturelle Abstieg stehe im Zusammenhang mit der Zähmung der Vernunft.

    "In dem Moment, wo man die Vernunft zurückgedrängt hat, hat die Vernunft auch keine eigenständigen Fragen mehr stellen können. Die Vernunft wurde in eine dienende, erklärende Rolle und für bereits feststehende Wahrheiten akzeptiert. Und indem man keine neuen Fragen mehr stellen konnte, konnte man auch auf keine neuen Probleme mehr eingehen."
    Die Mu'ataziliten, die islamischen Rationalisten des 8./9. Jahrhunderts christlicher Zeitrechung, scheitern. Wenige Jahrhunderte später entwickelt der Philosoph Ibn Rushd die Überlegungen der Mu'ataziliten, gestützt auf Aristoteles, weiter. Ibn Rushd bleibt in der islamischen Welt ohne jede Wirkung, in Europa hingegen wird er als Averoes bekannt. Eine wichtige Rolle beim Scheitern der Mu'atazila spielt, dass sie für einen schwerwiegenden Sündenfall verantwortlich sind: Sie setzen die erste Form von Inquisition im Islam ins Werk. Nachdem die Kraft vernünftiger Argumente nicht ausreicht, versuchen es die Rationalisten mit Gewalt, um widerspenstige Gelehrte und das Volk zur reinen Vernunft in Glaubensfragen zu zwingen.

    "Zeigt mir doch, was Mohammed Neues gebracht hat."

    " They're jumping out of the window right now, o my God! "

    " Please, please, no, no, no (Schüsse). "

    Richter-Bernburg: "Man kann mit der sogenannten Sunna einerseits die Ethik der Bergpredigt begründen und andererseits heutigen blindwütigen Jihadismus. Es kommt immer darauf an, wie man da ran geht."
    Viele Muslime wähnen sich in unseren Tagen in der Defensive. Sie haben das Gefühl, ihre Religion und ihre tradierten Werte seien in Gefahr. Sie haben das Gefühl, sie müssten sich gegen die westliche Bedrohung ihrer Kultur zur Wehr setzen. Dieses Gefühl hat mit den Terroranschlägen der vergangenen Jahre und der damit einhergehenden Debatte über die vermeintliche Rückständigkeit des Islams dramatisch zugenommen. Eine Folge daraus ist eine teils unverhohlene und teils verdeckte Sympathie mit jenen religiös verbrämten Terroristen, die den vermeintlich überlegenen Westen in beispielloser Weise
    herausfordern. Gleichzeitig ziehen sich viele Muslime auf eine eigene vermeintliche Überlegenheit zurück, die sie vor allen anderen Gemeinschaften Gott gegenüber auszeichne.

    Kalisch: "Das ist das Gefühl einer moralischen Überlegenheit, und vor allem das Gefühl einer Auserwähltheit. 'Ihr seid die beste Gemeinschaft, die für die Menschheit hervorgebracht worden ist'. Das Gefühl einer wirklich auserwählten Gemeinschaft. So wie sich Israel herausgehoben gefühlt hat und so wie sich das Christentum als das Neue Israel als herausgehoben gefühlt hat, so fühlt sich der Islam. Da wird zwar nicht diese Israel-Metaphorik verwendet. Aber so fühlt sich der Islam als die letzte endgültige "Umma" - Gemeinde - hervorgehoben und verbindet das eben mit dem Status einer auserwählten Gemeinde und einer moralischen Überlegenheit gegenüber anderen. "

    Richter-Bernburg: "Da die Schöpferkraft Gottes nach koranischer Aussage an das Wort gebunden ist, muss also Gott schon vor Ewigkeit gesprochen haben. Wo hat Gott am vollkommensten gesprochen, nicht von der göttlichen Perspektive, sondern von der
    menschlichen Perspektive her? Im Koran! Also hat man daraus das Dogma von der Unerschaffenheit des Korans abgeleitet."

    Kalisch: "Dahinter steckt ein ganz bestimmter theologischer Ansatz. Der theologische Ansatz, dass der Islam als die letzte geoffenbarte Religion auch die ganz klar überlegene Religion ist."
    Eine historisch-kritische Betrachtung des Korans findet noch immer kaum statt. An den Kernaussagen der islamischen Offenbarung würde sie im Prinzip nichts ändern. Aber sie könnte den Überlegenheitsanspruch zu Fall bringen. Der Islam könnte zu einem religionshistorisches Phänomen werden wie andere Glaubensrichtungen auch. Damit kann und will man nicht leben.

    Jahrhundertelang schlummern die muslimischen Völker in einem Zauberberg. Überzeugt davon, dass sie allein schon durch die Gnade ihrer muslimischen Geburt am Ende der Zeit von Gott bevorzugt werden. Kritik, Zweifel, Infragestellen - das alles findet im wesentlichen in den von der orthodoxen Geistlichkeit abgesteckten engen Grenzen statt. Gottes Ratschluss ist schließlich unergründlich. Den muslimischen Herrschern erleichtert es das Regieren. Sie lieben und befördern mittels ihrer Theologen den Glauben an die Vorherbestimmung auch in konkreten weltlichen Belangen. Die frühen Rationalisten
    kämpfen noch dagegen an.

    Kalisch: "Die Rationalisten, die Mu'ataziliten, haben ihren Rationalismus immer auch mit einer gewissen politischen Anforderung verknüpft, nämlich mit der pol. Anforderung zu sagen, ein islamisches Gemeinwesen muss auch gerecht regiert werden."
    Die islamischen Extremisten von heute wollen die als ungerecht empfundenen Herrscher mit Waffengewalt absetzen. Mehr als 1200 Menschen kommen in den 90er Jahren in Ägypten bei blutigen Auseinandersetzungen zwischen religiös verbrämten Extremisten und dem Staat ums Leben. In Saudi Arabien, dem Herkunftsland bin Ladens, sind seit 2003 über 150 Menschen getötet worden. Die Extremisten orientieren sich jedoch nicht an den rationalistischen Mu'ataziliten, die sie als Häretiker verachten. Die Extremisten streben nach einem islamischen Utopia, das sie in der vom Propheten Mohammed gegründeten ersten muslimischen Gemeinde von Medina zu erkennen glauben. Das Idealbild ihrer Umma - der Gemeinschaft der Gläubigen - ist frei von griechischer Philosophie und Logik, frei von kritisch-historischer Betrachtung der heiligen Quellen und frei von jeglicher geistiger Beeinflussung aus dem Westen. Es ist eine Scheinwelt aus der Feder islamischer Verklärer, die einer wissenschaftlichen Betrachtung nicht standhält.
    Keine Religion, keine Weltanschauung, keine Ideologie und kein Glaubensbekenntnis mit universellem Geltungs- und Erlösungsanspruch ist vor Fanatismus gefeit, der in letzter Konsequenz in blutigen Totalitarismus mündet. Die europäische Aufklärung verschiebt die machtpolitischen Gewichte, sie drängt den Einfluss der Religion zurück und erzwingt eine
    Säkularisierung der Gesellschaften. Die schlimmsten und
    blutigsten Kapitel der Menschheitsgeschichte spielen sich jedoch nicht im unaufgeklärten islamischen Kulturraum ab, sondern im 20. Jahrhundert auf europäischem Boden. Dem
    totalitären Wahnsinn von Nationalsozialisten und Bolschewisten fallen zwischen den 20er und 50er Jahren mehr als 50 Millionen Menschen zum Opfer.
    Das Ausbleiben der Aufklärung im Islam hat indes zu einer gefährlichen Spirale der Rückständigkeit geführt. Die militante Unduldsamkeit islamischer Fundamentalisten ist eine Reaktion auf die ihrer Meinung nach allgegenwärtige Missachtung der von Gott vorgesehenen universalen Ordnung. Deshalb sprechen Terroristen vom Schlage bin Ladens auch immer von den Feinden des Islams.

    Die islamischen Völker sind heute - gemessen an Wirtschaftskraft, Technologie, Bildung, Forschung, Erfindung und Wissensschöpfung - gegenüber den Industriestaaten weit im Hintertreffen. Zwischen Orient und Okzident klafft zuungunsten des Morgenlandes eine gewaltige Wissenslücke.

    Bevölkerungsexplosion, Massenarmut, Ressourcenknappheit. Die Probleme vieler muslimischer Länder sind gewaltig. Der von ihnen ausgehende Druck auf Regierung und Bevölkerung ist immens. Nach Auffassung des muslimischen Theologen Muhammad Kalisch könnte die Abwärtsspirale verlangsamt und vielleicht sogar gestoppt werden.

    Kalisch: "Wir brauchen eine islamische Aufklärung. Aber diese Aufklärung kann sich ganz klar darauf berufen, dass der Keim für diese Aufklärung im Islam schon einmal da gewesen ist. Man kann an eine eigenständige Tradition anknüpfen. Aber es gilt für den Islam, was auch für das Christentum gilt: Die Aufklärung ist eine eigenständige geistige Leistung, die von Leuten gemacht worden ist, die wenig oder gar nicht religiös gewesen sind im Sinne traditioneller Religiosität. Man muss auch neue Wege gehen. Nur mit dem, was im 3.,4., 5. Jahrhundert islamischer Zeitrechnung gemacht worden ist, geht das nicht. Man muss an neuere Forschungsansätze und Weiterentwicklungen anknüpfen."