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Weltspiele – Sport und Kolonialismus (2)
Algerien und der Fußball

Frankreich hatte es als ehemals zweitgrößte Kolonialmacht der Welt vor allem auf den Norden Afrikas abgesehen. Nach dem Zweiten Weltkrieg begann die Dekolonisierung. Der Fußball wurde zu einem wichtigen Mittel der Unabhängigkeitsbewegungen, vor allem in Algerien.

Von Ronny Blaschke | 26.04.2020
Die algerische Mannschaft feiert ihren Sieg im Afrika-Cup
Die algerische Mannschaft feiert ihren Sieg im Afrika-Cup (AFP / Guiseppe Cacace)
Im frühen 20. Jahrhundert dürfen Algerier keine eigenen Vereine gründen, das ist den französischen Besatzern vorbehalten. Nach dem Zweiten Weltkrieg verpflichten französische Klubs mehr als 40 Spieler aus nordafrikanischen Kolonien für die heimische Liga. Darunter mehr als 20 Algerier, die französische Staatsbürger sind, aber weniger Lohn erhalten.
Anfang der Fünfzigerjahre wächst die Unzufriedenheit der Algerier. 1954 formiert sich die Nationale Befreiungsfront, die FLN. Und sie nutzt die Weltmeisterschaft im selben Jahr in der Schweiz, berichtet der Islamwissenschaftler Philip Malzahn: "Damals ist die FLN noch nicht die größte Gruppe im algerischen Widerstand, baut sich erst auf. Aber sie benutzt dieses Ereignis sehr geschickt, um zu sagen: Wir werden Frankreich früher oder später aus unserem Land vertreiben."
"Akribisch geplante Ohrfeige für Frankreich"
Im November 1954 beginnt die bewaffnete Offensive. Die FLN wirbt in der algerischen Fußballliga um Unterstützung. Kontaktleute reisen unter Geheimhaltung durch Frankreich. Zwölf algerische Spieler setzen sich ab, kurz vor der WM 1958 in Schweden. In den folgenden vier Jahren bestreitet diese Auswahl rund 80 Spiele in Osteuropa, Asien und Afrika, erzählt Philip Malzahn.
"Und zwar besuchen sie Staaten, die im Falle eines unabhängigen Algeriens die sozialistischen Bruderstaaten des neuen Landes sein sollen. Man geht nach Vietnam, man geht nach China. Sozusagen eine riesige akribisch geplante Ohrfeige für Frankreich. Die FIFA übrigens reagiert unglaublich brutal. Die sperrt nicht nur diese Spieler, die defektieren, sondern auch jede Mannschaft, die gegen diese Équipe FLB antritt."
Der CAF-Aufnahmeantrag Algeriens wird abgelehnt
Ende der Fünfziger Jahre beginnt die entscheidende Phase der Dekolonisierung Afrikas. Davon zeugt die Gründung des Afrikanischen Fußballverbandes CAF 1957, der nur unabhängige Staaten aufnimmt. Für frühe CAF-Mitglieder wie Ägypten, Marokko oder Ghana sind die Nationalteams wichtige Identifikationssymbole. Der Aufnahmeantrag Algeriens wird 1958 abgelehnt, denn im Konflikt mit Frankreich ist kein Ende in Sicht.
"Es wird ja nicht nur in Algerien gekämpft. Sondern die FLN führt auch eine Art Guerillakrieg in Frankreich, mit Bomben und Attentaten. Die französische Regierung reagiert brutal und setzt 1961 im Herbst eine Ausgangssperre für französische Algerier durch. Darauf ruft die FLN zu riesigen Demonstrationen auf. Im Zuge der Verhaftungswelle wurden Leute in Stadien abtransportiert und dort auch gefangen gehalten."
Algerien erklärt 1962 die Unabhängigkeit, nach mehr als 130 Jahren Kolonialherrschaft. Die FLN etabliert einen Einparteienstaat. Ihr erster Präsident Ahmed Bella Bella hatte einst für Olympique Marseille Fußball gespielt. Fortan bemüht sich die Regierung um die Aufnahme in internationale Organisationen und um Großveranstaltungen, vor allem im Sport.
Meilenstein Mittelmeerspiele
Als Meilenstein gelten die Mittelmeerspiele 1975 in der Hauptstadt Algier. Im Fußballfinale trifft Algerien vor 70.000 Zuschauern auf Frankreich, erinnert der aus Algerien stammemde Sportwissenschaftler Mahfoud Amara von der Qatar University in Doha.
"Der damalige Staatspräsident Algeriens, Boumedienne, geht in die Kabine und macht den Spielern die Bedeutung klar. Auf dem Rasen geht die französische Mannschaft in Führung. Zehn Minuten vor dem Ende verlässt Boumedienne das Stadion, um der Blamage zu entgehen. Doch Algerien gleicht in letzter Minute aus und gewinnt das Spiel nach Verlängerung. Boumedienne kehrt zurück auf seinen Platz. Die Algerier feiern das als nationale Einheit."


Doch Algerien kommt nicht zur Ruhe. Aufstände, hohe Arbeitslosigkeit, in den Neunzigerjahren ein Bürgerkrieg zwischen Militär und Islamisten. Da ist es ein Trost, dass Frankreich 1998 Weltmeister wird. Mit etlichen Spielern aus früheren Kolonien, angeführt von Zinédine Zidane, dem Sohn algerischer Einwanderer. In dieser Aufbruchsstimmung bestreiten Frankreich und Algerien 2001 ihr erstes Freundschaftsspiel, fast vierzig Jahre nach dem Krieg.
Früherer französischer Fußballspieler Zinedine Zidane präsentiert den offiziellen Ball zur UEFA Euro 2016
Der algerischstämmige Franzose Zinedine Zidane (dpa/picture alliance/Ian Langsdon)
"Fest der Verständigung" wird zum Reinfall
Im Stade de France von Paris soll ein "Fest der Verständigung" stattfinden, doch schon die Hymnen werden von Pfiffen übertönt. Dutzende Zuschauer stürmen den Rasen, darunter viele algerischstämmige Franzosen, in der 76. Minute wird das Spiel abgebrochen. Mahfoud Amara.
"Die Rechtsextremen in Frankreich nutzen solche Vorfälle, um pauschal die Loyalität der Einwanderer in Frage zu stellen. Auch Franzosen mit spanischen oder italienischen Wurzeln unterstützen nicht immer das französische Nationalteam. Aber auf Algerien wird anders geschaut. Wegen der Kolonialgeschichte gibt es immer noch Spannungen. 2019 gewann Algerien die Afrikameisterschaft. Darüber haben sich viele Franzosen mit algerischen Wurzeln gefreut. Viele Rechtsextremen sahen darin jedoch einen Beleg für gescheitere Integration."
Im Bildzentrum in der Nacht zwei muskulöse Fans mit nacktem Oberkörper auf einem Motorroller, daneben weitere feiernde Kraftradfahrer. Im Hintergrund der Triumphbogen. 
Nachdem Algerien 2019 das Endspiel des Afrika-Cups gewonnen hat, feiern die Fans in Paris (Rafael Yaghobzadeh/AP/dpa)
Eine treibende Kraft bei den Demonstrationen sind die Ultras der Fußballklubs
In Frankreich wird selten an den Fußball während der Kolonialzeit erinnert. In Algerien sind Romane, Briefmarken und Spielfilme erschienen. Die Mannschaft aus Guelma, im Nordosten Algeriens, spielt noch heute in schwarzen Trikots. Als Erinnerung an das Massaker von Sétif, wo französische Soldaten im Mai 1945 wohl mehr als 10.000 Algerier getötet haben.
Die Nationalhymne Algeriens heißt "Kassaman", "Wir geloben". Dieses Lied hatte die Fußballauswahl der FLN häufig gesungen, erzählt der algerische Journalist Tarrek Boussaha.
"Für uns ist das Ganze noch immer eine sehr sensible Angelegenheit. Meine beiden Großväter wurden im Unabhängigkeitskrieg getötet. In der Schule beschäftigen sich Kinder schon in der ersten Klasse mit der Revolution. Und im Fußball ist unser wichtigster Verein Mouloudia Club d'Alger, gegründet 1921. Mouloudia war der erste rein arabische Verein, weitgehend ohne französische Einmischung. Für uns ist das eine wichtige Symbolik."
In Algerien ist nach der Unabhängigkeit 1962 keine stabile Demokratie entstanden. Immer wieder suchen die autokratischen Präsidenten die Nähe zu prominenten Fußballern, vor allem Langzeitherrscher Abdelaziz Bouteflika.
Nach 20 Jahren im Amt tritt Bouteflika 2019 zurück. Eine treibende Kraft bei den Großdemonstrationen sind die Ultras der Fußballklubs. In ihren Liedern ziehen sie eine historische Linie. Von der Unabhängigkeit 1962 bis in die Gegenwart.