Donnerstag, 18. April 2024

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Weltspiele – Sport und Kolonialismus (3)
Colo Colo: Symbol aus der Vergangenheit

Laut den Vereinten Nationen leben mehr als 800 indigene Gruppen in Lateinamerika, wie die Mapuche in Chile. 1925 benennt eine Gruppe Einwanderer ihren Fußballverein nach Colo Colo, einem Anführer der Mapuche. Heute ist Colo Colo ein Symbol des Protests gegen staatliche Willkür.

Von Ronny Blaschke | 17.05.2020
Santiago de Chile im Oktober 2019.
Die Fahnen von Colo Colo wurden in Chile zu einem Symbol des Protests. (imago images)
Im frühen 20. Jahrhundert blicken die Eliten Chiles mit Bewunderung auf Europa. Im chilenischen Sport steht der Stil der britischen Gentlemen hoch im Kurs. Diese Eliten interessieren sich aber auch für das indigene Erbe: In der Hauptstadt Santiago benennt 1925 eine Gruppe ihren Fußballklub nach Colo Colo, einem Anführer der Mapuche aus dem 16. Jahrhundert. Mehr als 300 Jahre hatten sich die indigenen Mapuche der spanischen Kolonisation widersetzt.
Die US-amerikanische Historikerin Brenda Elsey hat in Chile gelebt und über die dortige Fußballgeschichte ein Buch geschrieben. "Die Leute, die damals im Fußball das Sagen haben, glauben an die ,weiße Dominanz‘. Der Vereinsname Colo Colo verdeutlicht die Romantisierung der indigenen Kultur. Zu einer Zeit, in der der chilenische Staat seine Macht längst gesichert hat. Doch für aktuelle Probleme der Mapuche interessieren sich die Funktionäre nicht wirklich. Sie nutzen die Heldenfigur Colo Colo aus der Vergangenheit. Ein Symbol, von dem keine Gefahr ausgeht."
Fußball begleitet Aufstieg der Einwanderer
Seit mehr als 2.000 Jahren siedeln Mapuche in der Anden-Region. Ab dem 19. Jahrhundert werden sie in Chile von europäischen Einwanderern zunehmend in kleine Reservate verdrängt. Dort ist für lange Zeit auch der Verein Colo Colo regelmäßig zu Gast, doch beteiligen können sich die Mapuche im Fußball kaum.
Wie in anderen lateinamerikanischen Staaten begleitet Fußball in Chile den sozialen Aufstieg vieler Einwanderer aus ehemaligen Kolonialstaaten. Spanier und Italiener gründen eigene Vereine. Für viele ihrer Mitglieder ist Christoph Kolumbus der Entdecker Amerikas, nicht der Eroberer. Der Berliner Historiker Julian Rieck hat in Chile geforscht. "Da sieht man eben, wie diese postkolonialen Gesellschaften in Lateinamerika funktionieren. Die Leute bleiben im Prinzip lange unter sich, gründen ihre eigenen Vereine, und damit bleiben natürlich auch diese Machtnetzwerke unangetastet."
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Rassismus gegen schwarze Spieler
Der Fußball ist in den Augen der Vereinsgründer von der Taktiklehre Spaniens und Italiens abhängig. Fußballer ohne europäische Wurzeln haben es in Chile schwer. In den Fünfziger und Sechziger Jahren bezeichnen Sportjournalisten Vereine arabischer Einwanderer als "Parasiten". Schwarze Spieler aus Brasilien werden in Karikaturen mit übergroßen Lippen dargestellt, berichtet die Forscherin Brenda Elsey, und erinnert an die WM 1962 in Chile. "Die Organisatoren beschreiben Chile in einer Broschüre als die ,weißeste Nation‘ in ganz Amerika. Sie betonen Homogenität und Stabilität. So wollen sie Touristen und Einwanderer aus Europa anlocken."
Diese Haltung fördert die Ausgrenzung der Mapuche. So wachsen innerhalb der größten indigenen Gruppe Chiles auch nach der Weltmeisterschaft: Arbeitslosigkeit, Armut, Alkoholabhängigkeit. Viele von ihnen ziehen in die Städte. Und nach dem Militärputsch 1973 beschneidet Diktator Augusto Pinochet die Rechte der Minderheiten weiter, erinnert Alvaro Campos, Anhänger des Vereins Colo Colo und Autor von zwei Büchern über den chilenischen Fußball:
"In den ersten Tagen nach dem Putsch wurde das Nationalstadion als Internierungslager genutzt. Dort wurden Menschen gefoltert und ermordet. Das hat viele Menschen traumatisiert. In den Achtziger Jahren dann war Alfonso Neculñir für Colo Colo aktiv – er gilt im Verein als erster Spieler mit Mapuche-Wurzeln. Aber sicher können wir uns da nicht sein. Viele Mapuche haben ihre Nachnamen geändert, aus Angst vor Diskriminierung."
Alte Symbole für aktuelle Probleme
Das Ringen zwischen Sozialisten, Nationalisten und Rechtsextremen führt auch in anderen lateinamerikanischen Staaten zu etlichen Regierungswechseln. Die Fluktuation der Fußballfunktionäre ist hoch. Viele von ihnen überdecken aktuelle Probleme mit alten Symbolen. Zum Beispiel aus dem lange zurückliegenden Unabhängigkeitskampf gegen Spanien. Sie feiern Klubs wie "Nacional" in Montevideo oder "Independiente" in Buenos Aires. Indigene Gruppen verschaffen sich dann erst im neuen Jahrtausend Aufmerksamkeit im Sport, erzählt der Forscher Julian Rieck:
"Durch diese neuen linken Regierungen, die in Lateinamerika überall entstanden sind. Und dann vor allen Dingen in Bolivien unter Evo Morales. Durch diesen neuen Präsidenten sind auch Indigene in die Situation gekommen, dass sie Ministerin werden konnten. Das gleiche hat sich seitdem bei einigen Fußballvereinen entwickelt, die sich gegründet haben. Genau mit dieser Idee, auch über den Fußball ihre vorgeworfene Unterentwicklung abzustreifen."
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Turnier der "ursprünglichen Völker"
2003 geht in Ecuador der Verein Mushuc Runa an den Start. Ein Name aus der Sprachfamilie Quechua, er bedeutet: "Neuer Mann". 2012 dann in Chile die Premiere eines Turniers der "Pueblos Originarios", der "ursprünglichen Völker". Die sechs Teams stellen dabei auch ihre Traditionen vor.
2015 folgt in Chile die Kontinentalmeisterschaft Copa América, ein Spielort ist Temuco, die inoffizielle Hauptstadt der Mapuche. Dort protestieren Gruppen auch gegen die Ausgrenzung der Indigenen. Und sie werden unterstützt von Fans des Rekordmeisters Colo Colo, erzählt der chilenische Publizist Alvaro Campos. "Mapuche werden oft als faule Alkoholiker diffamiert. Colo Colo ermöglicht ihnen eine Form der Repräsentation. Fans zeigen vor einem Derby ein Banner, darauf steht: ,Verteidigt dieses Trikot so, wie die Mapuche ihr Land verteidigen.‘"
Fan von Polizeitransporter überfahren
2018 wird der junge Mapuche-Aktivist Camilo Catrillanca von einem Polizisten erschossen. Es folgen Proteste gegen staatliche Willkür. Aus Solidarität trägt der chilenische Nationalspieler Jean Beausejour im Stadion von Temuco ein Trikot mit dem Namen seiner Mutter, einer angesehenen Mapuche-Aktivistin. Und auch Fans und Funktionäre von Colo Colo äußern sich immer wieder zum Thema.
Im Oktober 2019 finden in Chile dann die größten Demonstrationen seit drei Jahrzehnten statt, gegen soziale Ungleichheit. Alvaro Campos: "Viele Menschen fühlen sich von Parteien und Kirchen nicht mehr repräsentiert, es gibt keine starken Gewerkschaften. Doch durch Colo Colo sind wir Teil einer Gemeinschaft. Dieses Gefühl prägte auch die Demonstrationen."
Rund dreißig Menschen kommen bei den Aufständen gegen den konservativen Staatspräsidenten Sebastián Piñera ums Leben. Darunter ein Fan von Colo Colo, überfahren von einem Polizeitransporter. Die Proteste könnten bald wieder aufflammen, wohl wieder mit dutzenden Fahnen von Colo Colo. Damit erinnern sie auch an einen Anführer der Mapuche, vermutlich gestorben im Jahr 1558.