Donnerstag, 18. April 2024

Archiv


Welttag der Behinderten:

Bettina Theben: Es gibt in Berlin eine Ausstellung über die Regierungsbauvorhaben. Diese Ausstellung ist nur mit einem Treppenlift, der für Elektrorollstuhlfahrer nicht nutzbar ist, zugänglich. Das kann man natürlich machen. Es ist auch ein schönes Gebäude. Die Frage ist, wie wirkt das nach außen und will man's wirklich, oder will man nicht mal auch andere Zeichen setzen?

Keyvan Dahesch | 02.12.2000
    ... fragt die Rollstuhlfahrerin Bettina Theben. Die promovierte Juristin ist Dozentin an der Humboldt-Universität in Berlin. Ihr Anliegen: Die Bundesregierung soll bei ihrem Handeln stärker die Belange von Menschen mit Behinderungen berücksichtigen. Eigentlich eine Selbstverständlichkeit, denn dazu verpflichtet die Verfassung die Parlamente, Bundes- und Landesregierungen, Kommunen und Gerichte.

    Seit 1994 heißt es nämlich in Artikel 3 des Grundgesetzes: "Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden." Doch Papier ist geduldig. Dieses Grundpostulat wird bislang kaum von den Regierungen, wenig von den Gerichten beachtet - und von privaten Institutionen ganz zu schweigen. Deshalb verlangen die Selbsthilfeorganisationen, die die rund zehn Millionen in Deutschland lebenden Menschen mit unterschiedlichen Behinderungen vertreten, Antidiskriminierungs- und Gleichstellungsgesetze auf Bundes- und Länderebene. Sie sollen die Verfassungsnorm in die Tat umsetzen, lautet denn auch eine der Forderungen, für die die Betroffenen am morgigen Welttag der Behinderten verstärkt werben wollen.

    Als Vorbild für ein Antidiskriminierungs- und Gleichstellungsgesetz in der Bundesrepublik gilt vielen das seit zehn Jahren in den USA erfolg-weich praktizierte Behindertengesetz "The Americans with Disability-Act", abgekürzt ADA. Auf dieser Grundlage hat hierzulande das "Forum behinderter Juristinnen und Juristen" einen Gesetzentwurf erarbeitet, der breite Zustimmung bei Vertretern aus Wirtschaft, Wissenschaft, Politik und Behindertenverbänden gefunden hat. Zu diesem Gesetzentwurf sagt Forumsmitglied Bettina Theben:

    Bettina Theben: Wichtig finde ich, dass wir klare Regelungen hier vorgelegt haben, präzise Regelungen mit präzisen Tatbeständen, dass wirklich klar ist, wenn a, dann auch b, dass es einklagbare Rechte für Betroffene sind.

    In fünf Artikeln mit 45 Paragraphen sollen nach dem vorliegenden Entwurf neue Rechte für behinderte Menschen geschaffen und eine Reihe bereits bestehender Gesetze geändert werden. Mitstreiter für ein Gleichstellungs-Gesetz ist der Beauftragte der Bundesregierung für die Belange der Behinderten, der SPD-Bundestagsabgeordnete Karl-Hermann Haack. Er möchte, dass möglichst alle von einem Antidiskriminierungsgesetz Betroffenen in den Gesetzgebungsprozess mit eingebunden werden - nicht nur die Behinderten-Organisationen, sondern auch Repräsentanten aus Wissenschaft und Wirtschaft, von Verkehrsunternehmen und von den Kommunalen Verbänden.

    Karl-Hermann Haack: Was ich eins nicht möchte, dass wir hier ein Gleichstellungsgesetz machen und plötzlich der Bundeskanzler Gerhard Schröder der oberste Behinderten-beauftragte der Republik ist und das Gesetz kassiert und sagt, arbeitet es noch mal vernünftig nach. Dafür wollen wir nicht vier Jahre arbeiten.

    Ein gebranntes Kind scheut das Feuer. In Hessen hatte sich der damalige Ministerpräsident Hans Eichel kurzerhand zum obersten Behindertenbeauftragten des Landes ernannt und den von der zuständigen Ministerin vorgelegten Entwurf für ein Landesgleichstellungsgesetz kassiert, weil man nur mit den betroffenen Organisationen, nicht aber mit den Wirtschafts- und Verkehrsverbänden gesprochen hatte.

    Die Sorge für das Gesetzgebungsverfahren in Berlin scheint unbegründet. Eine Intervention des Bundeskanzlers gegen das Gleichstellungsgesetz braucht Karl-Hermann Haack nicht zu befürchten - weil sich die Wirtschaft, Verkehrsunternehmen und kommunale Spitzenverbände zustimmend geäußert haben. Aber der Bundesbeauftragte für Behinderte, der diese Aufgabe ehrenamtlich wahrnimmt, hat weitere Sorgen. Er muss manche Widerstände aus den Ministerien überwinden und die Ministerialbürokratie immer wieder an die zwingende Verfassungsnorm erinnern.

    Jüngstes Beispiel: Trotz des Benachteiligungsverbots von Behinderten im Grundgesetz haben Beamte aus dem Bundesfinanzministerium vor einigen Monaten eine diametral entgegen stehende Vorschrift aus der NS-Zeit übernommen. Der durch einen Unfall seit dem 17. Lebensjahr querschnittgelähmte PDS-Bundestagsabgeordnete Ilja Seifert:

    Ilja Seifert: Ich erinnere daran, dass im Mai plötzlich ein Gesetz verabschiedet wurde das siebte Steuerberateränderungsgesetz, wo drin steht, dass jemand wegen körperlicher Gebrechen - das heißt, wenn der kleine Finger kaputt ist, ist das auch ein körperliches Gebrechen -, wegen Schwäche der geistigen Fähigkeiten oder wegen sonstiger Dinge nicht Steuerberater werden darf. Wohlgemerkt, nachdem sie alle Prüfungen bestanden haben. Eine Sauerei ersten Ranges.

    Bei einem Gleichstellungsgesetz müsste diese Bestimmung ersatzlos gestrichen werden. Denn mit einem Bundesgesetz soll das Benachteiligungs-Verbot behinderter Menschen im Grundgesetz ausgefüllt und ergänzt werden. Für Behinderte sollen Beteiligungsmöglichkeiten geschaffen werden, die für nichtbehinderte Menschen seit langem schon selbstverständlich sind.

    Um dies zu erreichen, hat das Forum der behinderten Juristen in seinem Gesetzentwurf einen ganzen Forderungskatalog aufgenommen: Für Rollstuhlfahrer beispielsweise soll das Gesetz eine Verpflichtung zum barriere-freien Bauen im Gaststätten- und Gewerberecht sowie im sozialen Wohnungsbau bringen. Im öffentlichen Personenverkehr sollen Fahrzeuge und Haltestellen für Bahnen und Busse behindertengerecht gestaltet werden.

    Blinde sollen die gleichen Zugangsmöglichkeiten zu Telediensten erhalten, insbesondere im Internet. Bücher müssen durch gesetzliche Verpflichtung ohne ein langwieriges Genehmigungsverfahren in Blindenschrift übertragen und als Hörkassetten besprochen werden dürfen.

    Als Sprache der Gehörlosen wird die Gebärdensprache ausdrücklich anerkannt. Die Verständigung in Gebärdensprache bei Behörden und vor Gericht muss ermöglicht werden.

    Menschen mit geistiger Behinderung dürfen ebenso wie andere Behinderte nicht mehr vom Abschluss eines Vertrages nur wegen ihrer Behinderung aus-geschlossen werden. Dies gilt insbesondere für Versicherungsverträge.

    Behinderte Frauen werden durch ein spezielles Diskriminierungsverbot und durch Verbesserungen im Sexualstrafrecht besonders geschützt.

    Vermieter müssen unter bestimmten Voraussetzungen einen behindertengerechten Umbau der Wohnung durch den Mieter dulden.

    Arbeitgeber dürfen behinderte Menschen bei der Einstellung und Beförderung nicht benachteiligen.

    Allgemeine Geschäftsbedingungen dürfen keine Klauseln enthalten, die Behinderte diskriminieren.

    Soweit die Forderungen des Forums Behinderter Juristen. Ihr Gesetzentwurf wurde von den Koalitionsfraktionen von SPD und Grünen zur Grundlage ihrer Beratungen für ein Bundesgleichstellungsgesetz gemacht. Bereits bei den Koalitionsverhandlungen im Herbst 1998 hatten SPD und Grüne neben anderen Schritten zur Lebenserleichterung für Behinderte auch ein Gleichstellungsgesetz vereinbart.

    Doch die Bundesregierung hat bislang noch keinen eigenen Vorschlag unterbreitet. Der Grund: Zuständigkeitsgerangel der Ministerien. Der SPD-bundestagsabgeordnete Karl-Hermann Haack kann dem sogar Positives abgewinnen. Auf den Entwurf des Forums aufbauen, habe den Vorteil, kompetente Betroffene zu beteiligen.

    Karl-Hermann Haack Wir sind ja bewusst als Politiker, die sich für das Thema Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen im Rechtlichen, im Sozialpolitischen interessieren und sich da engagieren, auf sie zugegangen als Organisation. Und ist es doch ein Novum, dass einer Regierung zu einer Diskussions-Grundlage ein Gesetzentwurf dient, den Betroffene selber erarbeitet haben.

    Der von behinderten Juristinnen und Juristen erarbeitete Gesetzentwurf hat bislang viel Lob gefunden. Aus sämtlichen Fraktionen des Bundestags war zu hören: "gut durchdacht" und "realisierbare Vorstellungen". So meint zum Beispiel die sozialpolitische Sprecherin der FDP-Bundestagsfraktion, Irmgard Schwaetzer:

    Irmgard Schwaetzer: Der Vorteil an diesem Gesetz aus unserer Sicht ist, dass er in einem Artikelgesetz bestehende Gesetze verändert und das Ziel, in dem wir uns mit Sicherheit hier überhaupt nicht unterscheiden, nämlich eine Bürgergesellschaft der Integration aufzubauen und dafür die Nachteile auszugleichen, die eben manche in diesem Leben haben und die sie daran hindern, an dem Leben teilzunehmen.

    Die ehemalige Staatsministerin hat aber auch einen Einwand: Sie warnt vor zu viel Detail-Regelungen:

    Irmgard Schwaetzer: Es gibt auch diejenigen, die davor warnen, dass zuviel Regelung das Gegenteil bewirken würde. Das ist richtig. Zu einer solchen Position bekenne ich mich. Das werden sie auch gar nicht anders erwarten. Das verhindert aber überhaupt nicht, dass wir es für notwendig erachten, ein solches Gleichstellungsgesetz zu beschließen, nicht nur auf den Weg zu bringen, sondern zu beschließen.

    Auch die frühere CDU-Bundesfamilienministerin Claudia Nolte, die heute in der Unionsfraktion für Behindertenpolitik verantwortlich ist, zeigt sich beeindruckt von dem Gesetzentwurf.

    Claudia Nolte: Ich persönlich möchte erreichen, dass meine Fraktion den Entwurf vom Forum der Juristinnen und Juristen diskutiert und unterstützt, vor allen Dingen wegen der Konsequenz, die darin steckt, was das Thema Barriere-Freiheit anbelangt, was das Thema Bürgerrechte anbelangt. Und ich hoffe, dass wir dann auch in unserer Fraktion soviel Bewegung bekommen, dass wir einen möglichen Gesetzentwurf, den die Bundesregierung oder Fraktion der Koalitionsregierung einbringt, mit konstruktiv begleiten und vielleicht sogar unterstützen.

    Claudia Nolte weist aber auch auf mögliche Differenzen hin:

    Claudia Nolte: Ich sage Stichwort Verbandsklagerecht. Da wird unsere Fraktion keine Bewegung vollziehen, aus verschiedenen Gründen, die ich in Teilen auch sehr gut verstehe. Aber: ich gebe mein Bestes, um das umsetzen zu können, was in diesem Gesetzentwurf enthalten ist.

    Im Gegensatz zur Unionsfraktion hat der Deutsche Industrie- und Handels-Tag mit dem Verbandsklagerecht keine Probleme. Dies sei mittlerweile üblich, etwa im Umweltbereich oder im Wettbewerbsrecht, meint Jürgen Möllering vom DIHT. Die Behinderten und ihre Selbsthilfeorganisation, die das Instrument der Verbandsklage bereits seit langem fordern, haben es nun auch in ihren Gesetzesentwurf aufgenommen. Die Berliner Juristin Bettina Theben begründet, warum:

    Bettina Theben. Deswegen auch ein Verbandsklagerecht, damit der Einzelne auch unterstützt wird. Oder in den Bereichen, in denen der Einzelne nicht klagen kann, die Gesetze auch eingehalten werden.

    Wo immer einzelne Menschen zu schwach seien, um ihre Ansprüche selbst durchzusetzen, sollten dies die Verbände tun. Diese Position vertritt auch die schleswig-holsteinische Justizministerin, Anne Lütkes vom Bündnis 90/Die Grünen. Mit der Verbandsklage werde nämlich sichergestellt,...

    Anne Lütkes: ... dass die formulierten Ansprüche und die formulierten Verpflichtungen auch durchsetzbar sind. Und deshalb ist das Instrument der Verbandsklage ein richtiges Instrument.

    Anne Lütkes schlägt allerdings vor, der Verbandsklage eine außergerichtliche Streitschlichtung vorzuschalten:

    Anne Lütkes: Wenn die klaren individuellen Rechte formuliert sind - auch Verbandsklage als Werkzeug, möchte ich sagen, formuliert ist -, dann müssen wir uns dennoch Gedanken machen, wie eine außergerichtliche Streitschlichtung hier gewährleistet ist. Denn die Streitkultur der Gesellschaft fordert direkte Auseinandersetzung außerhalb der Gerichte.

    Das Fehlen rechtlich verankerter Ansprüche für behinderte Menschen in Deutschland hat für sie die im Grundgesetz garantierte Gleichheit häufig nur zu einer Formalie werden lassen. Wenn zum Beispiel Rollstuhlfahrer nicht oder nur mit fremder Hilfe in Busse, Bahnen, Schiffe und Flugzeuge kommen, wenn sie Restaurants, Warenhäuser, Läden, Behörden, Arztpraxen, Kinos und Theater nicht erreichen können, weil es an Rampen, breiteren Türöffnungen und Behindertentoiletten mangelt, dann sind diese Menschen gesellschaftlich nicht gleich gestellt.

    Das gilt auch für blinde Menschen. Sie können Automaten, moderne Telefone und Haushaltsgeräte häufig wegen fehlender Sprach-Chips, die die Funktionen ansagen würden, nicht nutzen; genauso wenig wie grafisch gestaltete Internetseiten ohne Texterläuterung.

    Ein Verstoß gegen das Gleichheitsprinzip des Grundgesetzes ist auch die den Gehörlosen bislang verweigerte amtliche Anerkennung der Gebärdensprache als Kommunikationsmittel. Deswegen müssen Gehörlose - anders als in den USA - Gebärdensprachdolmetscher bei Arzt- und Behörden-Besuchen selber bezahlen. Ein weiterer Nachteil: In den USA werden gehörlose Menschen von Kindesbeinen an, neben der Lautsprache, die sie von den Lippen abzulesen lernen, auch in Gebärdensprache unterrichtet. Das hat zur Folge, dass das Bildungsniveau dieser Gehandicapten in den USA um ein vielfaches höher ist als in der Bundesrepublik.

    Für den rechtspolitischen Sprecher der Grünen-Bundestagsfraktion Volker Beck würde ein Gesetz gegen Diskriminierung und zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen in Deutschland eine neue Phase in deren Leben einleiten:

    Volker Beck: Es geht bei dem Gleichstellungsgesetz um nicht weniger und nicht mehr als um einen Paradigmenwechsel in der Behindertenpolitik. Es geht darum, Behinderte nicht mehr zum Objekt von Hilfe zu machen, sondern von Subjekten, die Rechte wahrnehmen. Die Behinderten als Bürger anzusehen, die ein Recht haben auf Teilhabe in allen Bereichen der Gesellschaft.

    Das Regelwerk würde nicht ein "Zuviel an Schutz" reglementieren, sondern die tatsächliche Gleichstellung von Menschen mit und ohne Behinderungen erreichen. Dieses Vorhaben müsse ausgewogen formuliert werden, erläutert Beck weiter:

    Volker Beck: Das tut der Gesetzentwurf indem wir sagen, alle Gebäude, die nach dem Inkrafttreten des Gesetzes gebaut werden, alle Verkehrsträger, die danach zugelassen werden, müssen sofort für alle Behinderten barrierefrei, nutzbar und zugänglich sein. Das überfordert niemanden, außer dass wir alle zusammen mal nachdenken müssen, was das im Einzelnen heißt. Dann müssen wir uns darüber unterhalten, wie wir den Altgebäudebestand, den Altverkehrsbestand, die alten Bahnhöfe sukzessive auf dieses Niveau anheben. Aber das Entscheidende ist, dass nichts mehr Barriere beinhaltendes auf den Weg gebracht wird. Das ist ausgewogen, das kann die deutsche Wirtschaft mit machen.

    Es können für die Wirtschaft durchaus Nachteile entstehen, wenn ihre Produkte nicht auch für Menschen mit Behinderungen nutzbar sind. Volker Beck nennt ein Beispiel.

    Volker Beck: Es war in der Vergangenheit so, dass wir zum Beispiel den ICE nicht mehr exportieren konnten in die Vereinigten Staaten, weil er dort den Normen des amerikanischen Behindertengesetzes nicht gerecht würde als ein Nachteil für die Wirtschaft.

    Nachteil für die Wirtschaft, das muss nicht sein. Im Gegenteil, wie das in den USA seit 1990 konsequent angewendete Anti-Diskriminierungsgesetz gezeigt hat: 80 Prozent der nach dem US-Behindertengesetz beanstandeten Hindernisse konnten mit jeweils weniger als 500 Dollar beseitigt werden. Im Gegenzug brachte die Einbindung behinderter Menschen in alle Bereiche der Gesellschaft zusätzlich viele Milliarden Dollar in den Wirtschafts-Kreislauf.

    Um der deutschen Wirtschaft die Furcht vor den Auswirkungen eines Gleichstellungsgesetzes für Menschen mit Behinderungen zu nehmen, empfiehlt die SPD-Bundestagsabgeordnete Silvia Schmidt verstärkte Aufklärungs- und Öffentlichkeitsarbeit.

    Silvia Schmidt: Da gibt's Ängste. Da gibt's auch Ängste in der Wirtschaft. Das heißt, man muss den Leuten klar machen, was Barrierefreiheit oder barrierefrei eigentlich heißt. Barrierefrei muss sein für jeden einzelnen Menschen. Jeder einzelne Mensch muss es in jeder Situation genießen können. Wirtschaft muss ermuntert werden, durch Konzepte zu sagen - zeitnah -, wie sie die einzelnen Bereiche umsetzen möchten.

    Barrierefrei heißt, dass die Gebäude, Verkehrsmittel, Produkte und Dienste für Menschen mit und ohne Behinderungen gleichermaßen erkennbar, erreichbar und benutzbar sein müssen. Diese von der blinden Behinderten-beauftragten der Stadt Landshut, Gerda Gloske, gelieferte Definition sollte in Zukunft das Handeln der Produzenten und Dienstleistungsanbieter prägen. Je breiter dieses Prinzip verwirklicht werde, desto mehr Menschen könnten die Angebote nutzen und Geld in den Wirtschaftskreislauf bringen.

    Nach einer Untersuchung des Bundesgesundheitsministeriums von 1999 waren beispielsweise rund 40 Prozent der Gehandicapten in Deutschland in den vergangenen Jahren nicht verreist. Jene behinderten Menschen, die trotz vieler Erschwernisse Urlaubsreisen unternehmen, geben - so eine andere Studie - jährlich rund 6 Milliarden Mark dafür aus. Nicht einkalkuliert ist das wirtschaftliche Potential ihrer Angehörigen und Freunde.

    Selbst die Deutsche Bahn, die wegen mangelnder Barrierefreiheit seit langem schon kritisiert wird, scheint den Wirtschaftsfaktor "Behinderte" erkannt zu haben. Sie will künftig eine zentrale Forderung der Behindertenverbände erfüllen: Bei allen Neuanschaffungen werden fahrzeuggebundene Einstiegshilfen geplant, versicherte kürzlich der Leiter der Produktenwicklung bei der Bahn, Martin Brandensbusch. Mit den ersten so ausgestatteten Zügen könne im Jahr 2005 gerechnet werden.

    Und das könnte auch noch finanziell vom Staat gefördert werden. So jedenfalls sieht es der Entwurf des Forums behinderter Juristen vor, wie der Bremer Sozialrichter und Rollstuhlfahrer Horst Frehe erläutert:

    Horst Frehe: Im Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetz war der Vorschlag der behinderten Juristinnen und Juristen, dass eine Förderung von Verkehrsinfrastruktur wie auch von Verkehrsmitteln dann erfolgen solle, wenn Barrierefreiheit nachgewiesen sei. Diese Formulierung und diese Koppelung wurde von allen ausnahmslos und ohne irgend eine Einschränkung für richtig gehalten.

    Für die Wirtschaft betont BDA-Geschäftsführer Christoph Kannengießer, dass es für die Unternehmen lohnend sei, Barrierefreiheit auch als einen Wettbewerbsvorteil im Marktsegment der größer werdenden Gruppe älterer und behinderter Kunden zu sehen. Und Ulrich Gruber, ebenfalls von der Bundesvereinigung der Arbeitgeberverbände, signalisiert Zustimmung zu einem Anti-Diskriminierungsgesetz, wenn unter den Gesichtspunkten von Machbarkeit und Augenmaß vorgegangen werde. Gruber sagt weiter,...

    Ulrich Gruber ... dass hier aus meiner Erfahrung wichtig ist, dass neben der gesetzlichen Regelung auch die gesellschaftlichen Einsichten verändert werden. Und das hat hier direkte Auswirkungen auf die Unternehmen. Und ich sage hier auch ausdrücklich als Vertreter der Arbeitgeber und der Wirtschaft: Es wird Zeit, dass wir begreifen, dass unternehmen und wirtschaften mehr ist als eine betriebliche und betriebswirtschaftliche Veranstaltung.

    Ha-Jo Prassel ist Vertrauensmann für Schwerbehinderte beim Hessischen Rundfunk. Beim Umbau des Funkhauses in Frankfurt setzte er die barrierefreie Gestaltung der Gebäude durch. Jetzt freut er sich, dass nun auch ältere Menschen, die nicht gut auf den Beinen sind, und Mütter mit Kinderwagen problemlos durch die Räume gehen können.

    Ha-Jo Prassel: In dem Moment, wo wir aber barrierefrei bauen und denken, tun wir es für jeden und es gibt keinen Unterschied. Und unter diesem Aspekt gibt's auch keine Kostenfrage mehr, sondern es wird gebaut beziehungsweise geplant und gedacht für jeden und für alle Situationen. Und dann - denke ich - sind wir auf dem richtigen Weg und gehen nicht an irgend eine Gruppe. Ich bin selbst Rollstuhlfahrer. Wir profitieren davon, aber das kann nicht das Maß der Dinge sein, sondern wir brauchen es eigentlich für alle.