Mittwoch, 24. April 2024

Archiv


Wem gehört Kafka?

Israels Nationalbibliothek möchte sie haben, die Marburger Nationalbibliothek ebenfalls: Die Autografen Franz Kafkas lagern in einem Züricher Safe und beschäftigen nun die Gerichte. Kafka-Experte Hans-Gerd Koch analysiert die verzwickte Rechts- und Gemütslage.

Hans-Gerd Koch im Gespräch mit Rainer B. Schossig | 04.07.2010
    Rainer B. Schossig: Bekanntlich verweigerte sich Max Brod der Bitte Franz Kafkas, alle seine Handschriften zu vernichten. Leider aber sind inzwischen die Autografen Kafkas zu Streitobjekten zwischen deutschen und israelischen Archivwünschen geworden. Ein Teil des Max-Brod-Nachlasses gelangte 1945 in die Schweiz, wo er seit 54 Jahren in einem Banksafe in Zürich liegt. Wertvolle Manuskripte, darunter auch wohl von Franz Kafka. Deren Besitzerinnen, die Geschwister Eva und Ruth Hoffe, wollten nun Teile der Kafka-Autografen ans Deutsche Literaturarchiv in Marbach verkaufen, doch Israels Nationalbibliothek erhebt Einspruch. Das oberste Gericht in Israel hatte schon im vergangenen Jahr den Schwestern Hoffe den Zugang zu ihrem Erbe verweigert und nun hat es angeordnet, den Tresor in Zürich zu öffnen. Frage an Professor Dr. Hans-Gerd Koch, langjähriger Leiter der Kafka-Forschungsstelle der Universität Wuppertal und Herausgeber der kritischen Ausgabe der Kafka-Briefe: Herr Koch, geht man in Israel jetzt nach dem Motto vor, das Unmögliche fordern, um möglichst viel zu bekommen?

    Hans-Gerd Koch: Ich glaube, die Geschichte ist etwas schwierig und für mich eigentlich auch undurchschaubar. Wir erfahren viele Dinge aus den Medien, aus der israelischen Presse, aber was dort verlautbart wird von verschiedenen Seiten, ist nicht unbedingt das, was auch das Gericht vertritt. Also da denke ich muss man einen Unterschied machen. Für mich ist aus den Unterlagen, die ich kenne, eigentlich die Sache sehr klar: Es gibt diese Kafka-Manuskripte, die Kafka seinem Freund Max Brod geschenkt hat, die Brod zu seinen Lebzeiten seiner Sekretärin und Vertrauten Ester Hoffe geschenkt hat und die diese wiederum zu Lebzeiten ihren Töchtern geschenkt hat. Und es waren alle Kafka-Handschriften, die Max Brod besessen hat, ohne Ausnahme. Es gibt jetzt immer wieder in der Presse das Gerücht, es gäbe noch unbekannte Kafka-Handschriften, die von Max Brod und später von Frau Hoffe zurückgehalten worden seien, was aber eigentlich völlig unsinnig ist für jeden, der sich mit der Geschichte beschäftigt hat und Max Brod kennt, der seinen Freund immer gedrängt hat, alles zu publizieren, und ihm quasi angedroht hat, wenn du es nicht tust, werde ich es publizieren. Der sollte etwas zurückgehalten haben? Das ist für mich wenig plausibel.

    Schossig: Herr Koch, Sie haben in den 90-er-Jahren Kontakt zu Ester Hoffe, der Mutter von Eva und Ruth Hoffe aufgenommen, und die hat Ihnen damals gesagt, dass sie wünsche, das Max-Brod-Archiv möge seinen endgültigen Platz in Marbach finden. Allerdings sei sie zu alt, das selbst durchzuführen, und sie könne das nur an ihre Töchter so weitergeben. Aber das hat sie anscheinend nicht mehr ausdrücklich getan, oder?

    Koch: Sie hat es ausdrücklich getan. Als ich mit ihr in Verbindung stand bis zu ihrem Tod praktisch, hat sie mehrfach auch im Beisein ihrer Töchter gesagt, dass sie wünscht, dass der ganze Max-Brod-Nachlass nach Marbach käme. Und sie hat auch angedeutet, dass das eine Vorstellung von Max Brod gewesen ist, mit dem sie 1965 Marbach besucht hat, das Literaturarchiv.

    Schossig: Was ist aber nun mit dem berühmten Paragrafen aus dem Testament von Max Brod? Dort heißt es ja, dass alle Teile seines Nachlasses an Hoffe übergehen sollten, dass aber die im ersten Absatz – welcher auch das immer ist – angeführten Manuskripte und so weiter an die Universität Jerusalem beziehungsweise an die Staatliche Bibliothek in Tel Aviv oder eben auch an ein öffentliches Archiv im In- und Ausland gehen sollten. Was heißt das für die Situation heute?

    Koch: Dieser Paragraf ist, glaube, ich Hauptstreitpunkt jetzt der beiden Parteien, aber er ist sehr frei und sehr offen. Er hat in seinem Testament, aber auch in einem späteren Teil, als dem jetzt von Ihnen zitierten, gesagt, dass Ester Hoffe in der Verfügung über das Archiv völlig freie Hand hat. Und ihre erste Wahl war Marbach.

    Schossig: Dieser Wettlauf um Kafkas Handschriften, seine persönlichen Notizen, Zeichnungen und so weiter, die sich ja laut der Inventarliste in dem Safe in Zürich befinden, ist jetzt vordergründig ja zu einer Art bilateralen juristischen Auseinandersetzung geworden. Ist das eigentlich der Bedeutung der Autografe angemessen?

    Koch: Das ist aus meiner Sicht eigentlich ein unsinniger Streit. Es geht aus dem, was ich weiß, eigentlich nur um die Entscheidung, ob die Töchter Hoffe Erbinnen sind, so wie ihre Mutter es testamentarisch verfügt hat, ob die Schenkungen gültig sind, die alle urkundlich dokumentiert sind, und darum geht es. Und wenn, wie ich meine aus dem, was ich kenne, die Töchter das Erbe antreten, dann sind sie frei in ihrer Entscheidung, wohin sie es geben. Und für mich als Wissenschaftler ist eigentlich dabei unerheblich, ob es in Jerusalem in der Nationalbibliothek am Ende aufbewahrt wird oder im Deutschen Literaturarchiv Marbach. Das sind beides anerkannte Institutionen. Nur denke ich, man sollte den Wunsch der Besitzer berücksichtigen.

    Schossig: Soweit also der Wuppertaler Literaturwissenschaftler Hans-Gerd Koch zum Schicksal der Schweizer Kafka-Manuskripte.

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