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Wenig Strahlung – wenig Risiko?

Kernenergie. - Vor fast genau 25 Jahren regneten über Europa radioaktive Partikel aus dem explodierten Meiler in Tschernobyl. Jod-131, Cäsium-137 und Strontium-90 sanken auf die Böden in Europa nieder. Seitdem streiten sich die Experten, welche Folgen diese Mengen auf die Gesundheit der Menschen haben werden.

Von Sönke Gäthke | 28.04.2011
    900.000 Tote könnten bis heute auf das Konto des Reaktorunfalls in Tschernobyl gegangen sein, oder 90.000, oder 9000. Die Spanne ist groß, die Verwirrung auch. Und das ist kein Wunder, denn, so Mycle Schneider, Kernenergieexperte aus Paris.

    "Es handelt sich immer um Modellrechnungen, es gibt keine Statistiken, wo sich irgendwie eindeutig zuordnen läßt, der und der Krebsfall ist über die und die Ursache entstanden, es gibt ein paar Ausnahmen bei ganz spezifischen Krebsarten, zum Beispiel Leukämie und Schilddrüsenkrebs, wo es sich relativ einfach und direkt zuordnen läßt, aber es ist ganz klar, dass viele Krebsfälle entstanden sind, entstehen werden, die wird man nie dem Unfall zuordnen, direkt zuordnen können."

    Grund für diese Unsicherheit ist das Unwissen der Forschung über die Folgen einer kleinen Strahlendosis, wie sie etwa die Europäer 1986 getroffen hat. Peter Jacob vom Institut für Strahlenschutz ISS am Helmholtz-Zentrum München.

    "Die Bevölkerung in Europa hat durch Tschernobyl eine sehr niedrige Dosis abbekommen. Auch wenn das die meisten Leute nicht glauben. In Deutschland war die mittlere Dosis in der Größenordnung von einem Millisievert. Sie war sogar noch geringer."
    Für den Direktor des ISS ist das eine sehr kleine Dosis – sie liegt weit unterhalb der Grenze, ab der Forscher von einer kleinen sprechen: zehn Millisievert. Und das ist das Problem:

    "Für solche geringen Dosen wissen wir überhaupt nicht, ob ein Risiko existiert, und wie hoch es ist."

    Einigermaßen gesichert sind nur die Folgen einer Strahlendosis von 100 Millisievert, dank großer, epidemiologischer Studien, bei denen viele Menschen über einen langen Zeitraum hinweg beobachtet wurden. In Großbritannien zum Beispiel werden seit 1975 177.000 Menschen in einem Strahlenschutzregister erfasst. Kombiniert mit weiteren Ergebnissen aus den USA, Russland und Japan konnten Wissenschaftler nachweisen, dass 100 Millisievert das Krebsrisiko um einen Prozentpunkt erhöht. Jacob:

    "Wenn 100 Leute eine Strahlendosis von 100 Millisievert abbekommen, dann wird unter diesen 100 Leuten im Laufe ihres Lebens im Mittel ein zusätzlicher Krebsfall auftreten."

    Steigt die Belastung weiter an, steigen auch die Krebsfälle. Und zwar ziemlich linear, also bei 200 Millisievert zwei Todesfälle mehr und so weiter. Einige Experten vermuten daher, dass diese Kurve auch unterhalb der 100 Millisievert Grenze linear bleibt, also linear sinkt. Und auf dieser Grundlage berechnen sie dann die möglichen Krankheits- und Todesfälle bezogen auf die Bevölkerung von Europa. Jacob:

    "Das ist das, was von vielen Leuten gemacht wird, was aber wissenschaftlich nicht haltbar ist, weil wir heute von vielen strahlenbiologischen Experimenten wissen, dass die biologische Antwort auf niedrige Strahlendosis anders ist als auf hohe Strahlendosen."
    So können zum Beispiel bei niedriger Strahlendosis andere Gene aktiv werden als bei einer hohen. Wissenschaftlich sind diese Zahlen daher nicht belastbar – auch wenn sie im Strahlenschutz verwendet werden, um ein ungefähres Gefahrenpotential abzuschätzen. Der Leiter des Strahlenschutzinstituts hat daher Anfang April mit einer Untersuchung begonnen, von der er sich mehr Klarheit erhofft. Dabei sollen die Daten aus Großbritannien – und aus anderen Ländern – verglichen werden mit Strahlenbiologischen Untersuchungen und Modellen.

    "Also, wir haben einige Erkenntnisse darüber, wie der Krebsentstehungsprozess ist, und wie die Strahlung in den Krebsentstehungsprozess eingreift, und wir werden diese epidemiologischen Daten dann mit diesen Modellen analysieren, und hoffen, dadurch dass wir das Verständnis über den Krebsentstehungsprozess und die Strahlenwirkungen hineinstecken in die Auswertung dieser Daten, auch besser zu niedrigen Strahlendosen Aussagen machen zu können."

    Vier Jahre wollen die beteiligten Wissenschaftler diese Daten und Modelle auswerten, dann soll ein Ergebnis feststehen – mit dem dann die Folgen von Tschernobyl und auch Fukushima besser abschätzbar wären.

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