Freitag, 19. April 2024

Archiv


Wenn das Kind stirbt

Der Tod des zehnjährigen Sebastian auf der Nordseeinsel Amrum hat diese Woche Deutschland bewegt. Bis zu 18.000 Kinder werden hierzulande jährlich vorzeitig aus dem Leben gerissen. Für die Angehörigen bedeutet Weiterleben oft eine Qual.

Von Astrid Prange | 06.07.2012
    "Du bist ein Schatten am Tage, und in der Nacht ein Licht, Du lebst in meiner Klage und stirbst im Herzen nicht. Wo ich mein Zelt aufschlage, da wohnst Du, bei mir dicht. Du bist mein Schatten am Tage und in der Nacht mein Licht."

    schreibt der Dichter Friedrich Rückert im Jahr 1834. Rückert verarbeitet in seinen "Kindertotenliedern" die wohl schmerzhafteste Erfahrung seines Lebens. Er musste seine eigenen Kinder zu Grabe tragen.

    Noch heute trösten Rückerts Verse trauernde Eltern. 16.000 bis 18.000 Kinder werden in Deutschland jedes Jahr vorzeitig aus dem Leben gerissen – durch Unfälle, Krankheiten oder Suizid. Zurück bleiben Eltern, Geschwister, Verwandte.

    Bärbel Friederich vom Verein der Verwaisten Eltern aus Hamburg kämpft dagegen an, dass Angehörige in ihrer Trauer verzweifeln. Sie will Eltern dabei unterstützen, weiterzuleben, trotz unfassbarer Schmerzen:

    "Und was passiert dann, wenn das Kind gestorben ist? Das Leben ist für die Eltern dann nicht zu Ende mit dem Tod des Kindes, sondern es beginnt jetzt ein verändertes Leben. Und zwar ein total verändertes Leben, ohne dieses Kind und dennoch mit diesem Schmerz des Todes zu leben. Und das gilt für die Geschwisterkinder genauso."

    Bärbel Friedrich hat diesen Schmerz am eigenen Leib erfahren. Ihre Tochter Wiebke starb 1993 mit 16 Jahren an einer Meningokokken-Infektion. Als der Schock nach Monaten schrittweise wich, wollte sie reden. Doch schon bald wollten Freunde und Kollegen nichts mehr von Bärbel Friedrichs Trauer hören:

    "Ich war Lehrerin und da war einfach die Erwartungshaltung, dass ich natürlich meinen Beruf professionell weiter betreiben kann, dass ich weiter arbeiten kann. Und ein Schüler einer 10. Klasse hat mir damals mal so entgegengeschleudert: Wissen Sie was? Der Tod ihrer Tochter ist mir scheißegal! Das hat mich damals unglaublich verletzt. Ja, es ist natürlich nicht sein Thema, aber es sind seine Ängste, die da mit hochkommen."

    Möglichst schnell zurück in den Alltag, möglichst schnell wieder funktionieren – unter diesem Druck stehen viele verwaiste Eltern. Sie stecken in einem Dilemma: Einerseits können sie heute mehr psychologische Hilfe und Angebote in Anspruch als vor 20 Jahren. Andererseits trägt die professionelle Betreuung dazu bei, die seelische Not der Trauernden aus dem öffentlichen Leben zu verdrängen.

    Für den Theologen und Trauerbegleiter Georg Schwikart gleicht der gesellschaftliche Umgang mit Tod und Trauer einer Pendelbewegung:

    "Früher wurde die Trauer zelebriert und es gab strenge Vorschriften. Die Witwen mussten sich schwarz anziehen ein Jahr lang und durften nicht tanzen gehen oder auf irgendwelche Feste. Das ist dann in den 70er-, 80er-, 90er-Jahren umgeschwungen, das Pendel in die andere Richtung, Du darfst gar nicht trauern, Du musst ganz schnell wieder funktionieren und nach einem Monat wieder so tun, als wenn nichts wäre. Da zeigt die Erfahrung, das funktioniert nicht: Die Trauer holt Dich ein."

    Für Georg Schwikart ist Trauer ein fester Bestandteil seines Lebens. Schwikarts Vater starb, als er gerade zwei Jahre alt war. Jede Woche ging er mit seiner Mutter ans Grab, um mit dem Vater zu sprechen. Seit seiner Ausbildung zum Trauerbegleiter hat der katholische Theologe mehrere verstorbene Kinder zu Grabe getragen, auch aus dem eigenen Familienkreis. Seinen Glauben hat er dabei nicht verloren – im Gegensatz zu vielen Eltern. Für sie stirbt mit ihrem Kind auch die Beziehung zu Gott. Georg Schwikart:

    "Ich habe beide Reaktionen beobachtet. Zum einen, dass Menschen wirklich umso gläubiger werden. Dass sie wirklich in dem Glauben, in dem Vertrauen auf Gott einen starken Halt finden. In der Tat noch mehr Menschen sind so enttäuscht, sind einer Täuschung erlegen, dass quasi Glaube eine Versicherung ist gegen alle Gefährlichkeiten des Lebens, dass sie sagen, ich kann nicht mehr an Gott glauben. Wenn der doch zugelassen hat, dass mein Kind stirbt, dann will ich von dem nichts mehr wissen."

    Mit Gott hadern, nicht mehr so weiter glauben wie bisher, das taten auch Anne und Nikolaus Schneider. Ihre Tochter Meike starb im Alter von 22 Jahren an Leukämie. Der heutige Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland und seine Frau fassten ihre Gefühle in Worte. In dem Buch mit dem Titel "Wenn das Leid, das wir tragen, den Weg uns weist" scheuen sie sich nicht, die Grenzen ihres Gottvertrauens aufzuzeigen.

    Nikolaus Schneider versucht, das Leid als persönliche Wegweisung anzunehmen:

    "Die Zeit heilt schon die Wunden, weil wir lernen, mit Verlusten zu leben. Aber die Wunden bleiben und sie tun weh. Wir lernen mit ihnen zu leben, heißt aber auch: Wir lernen, das Leid zu integrieren in das weitere Leben, sodass es nicht das Leben hemmt und blockiert und alles weitere auf Stillstand und null bringt, sondern dass es auch das weitere Leben ermöglicht und stärkt."

    Das weitere Leben ermöglichen – das versucht auch der Verein der Verwaisten Eltern. 1990 wurde er in der Evangelischen Akademie in Hamburg gegründet. Mittlerweile gibt es über 300 Selbsthilfegruppen betroffener Mütter und Väter, die sich im Bundesverband der Verwaisten Eltern in Deutschland zusammengeschlossen haben.

    Seit dem Jahr 2001 kommen Betroffene einmal im Jahr im Hamburger Michel zu einem Weltgedenkgottesdienst zusammen. Die gemeinsame Trauer verbindet die betroffenen Familien. Denn Eltern, deren Kind gestorben ist, bleiben Eltern. Wie alle Eltern hatten auch sie den Wunsch, dass ihr Kind sie überlebt.

    EKD-Ratsvorsitzender Nikolaus Schneider weiß: Aus dieser menschlichen Katastrophe gibt es keinen Ausweg.

    "Also der Umgang damit ist ja auch schwer. Weil es so voller massiver Widersprüche ist. Das junge Leben setzt auf mehr Leben. Das alte bereitet sich aufs Sterben vor, nicht das junge. Und das ist so ein horrender Widerspruch, der ist kaum zu vermitteln und kaum auszuhalten, das ist so."