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Wenn der Funke überspringt

Im Uralgebirge liegt die kerntechnische Anlage Majak. Nach einem verheerenden Atomunfall im Jahr 1957 sind dort weite Flächen des Landes radioaktiv verstrahlt. Nun wüten in der Nähe die Waldbrände.

Von Andrea Rehmsmeier | 11.08.2010
    "Schluss mit der Panikmache! Gestern haben sie das Feuer gelöscht. Auf dem Gelände der Atomanlage hat es nicht ein einziges Mal gebrannt!", hieß es gestern in einem Internet-Forum zu dem Feuer, das die Nuklearstadt Sneschinsk bedroht. Der Chatter erntet eine sarkastische Antwort aus dem Netz:

    "Verzeihung bitte, aber Sie besuchen das Gelände wohl stündlich! Oder Ihr Wohnzimmer ist direkt mit einem der amerikanischen Satelliten verbunden! Oder womöglich sind Sie der heimliche Pressesprecher der Anlage?"

    Die Verunsicherung unter der Bevölkerung am Ural ist groß, denn die Mitteilungen der russischen Behörden sind widersprüchlich. Die Brände nahe der Kernforschungsanlage in Sneschinsk seien unter Kontrolle, heißt es. Dennoch wurde der Notstand ausgerufen. Dennoch tagten die örtlichen Behörden in Dringlichkeitssitzungen. Akut bedroht, heißt es, sei vor allem die geschlossene Nuklearstadt Ozersk – und die ist gebaut rund um die berüchtigte Kernanlage Majak. Außer einer Wiederaufbereitungsanlage gibt es hier das möglicherweise größte Atommüll- und Spaltmaterial-Lager der Welt. Majak gilt als internationales Vorzeigeprojekt der Nuklearsicherheit: Die USA, aber auch Deutschland haben hier Sicherheitsanlagen finanziert. Aber etwas Genaues weiß eigentlich niemand, denn hier unterliegt alles dem Militärgeheimnis.

    Wer trotzdem mehr erfahren will, braucht einen Informanten wie German Lukaschin. Der ehemalige Strahlenschutzbeauftragte der Regierung kommt aus Sneschnisk, die für Fremde eine verbotene Stadt ist. Deshalb bittet Lukaschin darum, sich in einem Bistro an einer Landstraße zu treffen. Er war schon direkt nach dem Tschernobyl-GAU im Einsatz. Ende der 90er-Jahre, berichtet er, sei er Mitglied einer staatlichen Expertenkommission gewesen, die in Majak Zugang zu allen strahlenschutzrelevanten Dokumenten gehabt habe. Seit er in Rente ist, versucht er, die Öffentlichkeit vor den enormen Sicherheitsrisiken der Anlage zu warnen. Auf seinem Laptop zeigt er eine Luftaufnahme des Betriebsgeländes.

    "Das hier ist das Spaltmaterial-Lager. Es enthält 25 Tonnen Waffen-Plutonium, außerdem 255 Tonnen hoch angereichertes Uran, aber das ist weit weniger gefährlich. Das Lager wurde mit amerikanischem Geld finanziert, es ist geschützt durch eine sieben Meter dicke Betonwand – das ist tatsächlich ordentlich. Aber hier, in diesem Reaktorgebäude, lagern weitere 38 Tonnen Plutonium, das aus zivilem Atommüll abgetrennt wurde. Es wurde im Jahr 1948 gebaut – da kann keine Rede sein von irgendeinem Schutzmantel."

    Lukaschin scrollt das Computerbild der Karte weiter nach unten.

    "Weiter: Das ist der Komplex C: Hier lagert flüssiger, hoch radioaktiver Atommüll mit einer Strahlenkonzentration von 350 Megacurie, das ist das Siebenfache dessen, was während des Tschernobyl-GAUs frei wurde. Und das dort ist der See Karatschai, der gilt als der radioaktivste Ort der Erde. Dort wurde Strontium und Cäsium eingeleitet mit einer Konzentration von 120 Millionen Curie. Und all dieser Dreck befindet sich auf einem Gebiet von 30 Quadratkilometer Größen. So eine Konzentration ist einfach Wahnsinn!"

    Um die Waldbrände macht sich der Strahlenschutzexperte zwar keine Sorgen. So etwas sei in dieser Gegend nichts ungewöhnliches, und das Betriebsgelände so zu bewässern, dass die Flammen nicht überspringen könnten, sei technisch kein Problem. Dennoch hält er die pure Menge an hoch radioaktivem und toxischem Material für unverantwortlich – zumal der Großteil davon eben nicht in dem hochgelobten, von den USA finanzierten Spaltmateriallager liege, sondern in Gebäuden aus der Nachkriegszeit. Und das in unmittelbarer Nähe der Flughäfen von Jekaterinburg und Tscheljabinsk. Seit Jahren versucht Lukaschin, die russische Regierung und ihre internationalen Finanziers zu warnen, eine Passagier-Boeing könne in eines der beiden Plutoniumlager stürzen. Bislang vergeblich. Und so sieht er die Waldbrände als Glück im Unglück: Vielleicht, so hofft er, verschaffen sie seinen Warnungen endlich Gehör.