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Wenn der Ohrring krank macht

Gesundheit.- Staatliche Lebensmittel-Chemiker haben mehrere Jahre lang Modeschmuck für Kinder untersucht. Das Ergebnis: 30 Prozent der Anhänger enthielten Blei, einige bestanden fast vollständig aus dem stark giftigen Schwermetall. Dennoch gibt es bisher keine Grenzwerte für das Gift in Kinderschmuck.

Von Volker Mrasek | 11.11.2010
    Wie gefährlich billiger, bleihaltiger Schmuck für Kleinkinder sein kann, wissen Ärzte und Toxikologen seit dem bisher dramatischsten Vergiftungsfall im Februar 2006. Damals verschluckte ein Vierjähriger in den USA ein herzförmiges Medaillon. Wie sich später herausstellte, bestand es fast vollständig aus Blei. Der Junge starb wenige Tage später infolge schwerer Gehirnschäden.

    Mehr als hundert Millionen ähnlicher Artikel wurden daraufhin vom US-Markt genommen, die Behörden erließen einen Grenzwert für Blei in Kinderschmuck.

    In Europa aber, und auch in Deutschland, sind solche Problemartikel weiterhin erhältlich. Das zeigen die Untersuchungen am staatlichen Institut für Bedarfsgegenstände in Lüneburg. Dort leitet Oliver Schmidt den Fachbereich für Schwermetall-Analytik:

    "Wir haben seit 2007 kontinuierlich Schmuck, Modeschmuck für Kinder, auf eine mögliche Abgabe von Blei untersucht. Das waren drei Jahre, ein Zeitraum von drei Jahren, da haben wir über 200 Proben untersucht. Und eine doch erhebliche Quote von problematischen Gegenständen gefunden."

    Weil in Europa gesetzliche Regelungen fehlen, orientierte sich der Lüneburger Lebensmittelchemiker an den gültigen Höchstwerten für Blei in den USA. Gemessen daran enthielten rund 30 Prozent der in Deutschland eingekauften Proben zu viel von dem Schwermetall. Nach US-Maßstäben wären sie nicht verkehrsfähig.

    Wie Oliver Schmidt sagt, geht es um Billigschmuck, der nur ein paar Euro kostet:

    "Figuren wie zum Beispiel der Frosch oder ein Schmuckanhänger in Herzchenform. Also alles, was an einer Kette so 'rumbaumelt. Gerade wenn ich wilde geometrische Formen habe, dann brauche ich ein Material, was möglichst weich ist. Das ist tatsächlich so, dass reines Blei sehr weich ist. Und was uns auch aufgefallen ist: Dass diese Anhänger aus Blei sich auch leicht von einer Kette oder von einem Armband abreißen lassen."

    Besonders beunruhigend an den Messergebnissen ist: Auch in Deutschland kommt gelegentlich Schmuck auf den Markt, der fast ganz aus Blei besteht. So wie der Anhänger, der zum Tod des vierjährigen Jungen in den USA führte. Zwei solche Medaillons beanstandeten die niedersächsischen Behörden wegen akuter Gesundheitsgefahr, darunter.

    "Ein Schmuckanhänger in Pilzform, der aus zwei Blei-Halbformen zusammengepresst war. Es war also quasi reines Blei. Dieses wurde hinterher verchromt, damit es eine schöne Farbe hat. Das war so ziemlich der Extremfall."

    Was, wenn ein Kind solch ein Medaillon versehentlich verschluckt?

    Magensäure ist so aggressiv, dass sie die Chromschicht zersetzt und der Bleikern des Schmuckstücks frei wird. In der Folge kann es zu einer akuten Vergiftung kommen:

    "In der Regel ist es so, dass die Personen, die eine akute Bleivergiftung erleiden, über Magenkrämpfe sich beschweren. Verdauungsbeschwerden haben. Man kann das leicht mit einem Magen-Darm-Infekt verwechseln."

    Deshalb kann sich Oliver Schmidt eine hohe Dunkelziffer von Blei-Vergiftungen vorstellen, ausgelöst durch verschluckten Billigschmuck. Ein großes Problem ist aber auch die chronische Giftigkeit des Schwermetalls. Einmal aufgenommen, wird es vor allem in den Knochen deponiert, bleibt dort praktisch ein Leben lang und kann bei Erkrankungen oder Stress jedes Mal wieder freigesetzt werden. Gerade für Kinder ist Blei gefährlich: Das Gift ruft neurologische Schäden hervor; ein Zusammenhang zwischen hohen Blei-Belastungen und einem verminderten Intelligenz-Quotienten gilt als belegt.

    Lebensmittelchemiker Schmidt rät deshalb zu großer Vorsicht im Umgang mit billigem Kinderschmuck:

    "Verbraucher sollten bei der Auswahl gerade jetzt zu Weihnachten vielleicht doppelt hinschauen. Also, wenn da irgendwas verdächtig vorkommt - es ist extrem billig, glänzt ganz extrem - dann sollte man vielleicht die Finger davonlassen."

    Brüssel hatte im vergangenen Jahr die Chance, das Problem zu entschärfen. Man hätte Kinderschmuck in der EU als Spielzeug deklarieren können, für das schon heute Blei-Höchstwerte existieren. So stand es sogar im Entwurf zur neuen europäischen Spielzeug-Richtlinie. Doch am Ende wurde der Kinderschmuck ausgeklammert. Und staatliche Stellen können weiterhin allenfalls Stücke mit extremen Bleigehalten aus dem Verkehr ziehen.