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"Wenn die den Daumen senken, sind Staaten am Ende"

Der ehemalige Arbeitsminister Norbert Blüm fordert angesichts der Eurokrise eine "Rückkehr zum Primat der Politik". Die Politik sei in Gefahr, "zur Filiale der Bankhäuser zu werden". Insbesondere die Ratingagenturen hätten "mehr Macht als alle Parlamente Europas zusammen".

Jürgen Liminski sprach mit Norbert Blüm | 18.07.2012
    Jürgen Liminski: Morgen entscheidet der Bundestag in einer Sondersitzung über die Bankenhilfe für Spanien. Kaum jemand zweifelt daran, dass die nötige Mehrheit zustande kommen wird, auch wenn es wohl nicht die Kanzlermehrheit sein wird. Beim Wort Banken taucht sofort – das haben wir mittlerweile internalisiert – das Wort von der Systemrelevanz auf und damit das Assoziationsfeld der Dominosteine. Da ist die Ahnung von einer Erpressung nicht fern. Ist die Regierung dagegen gefeit? – Die Bundeskanzlerin hat immerhin jeden Versuch von sich gewiesen. Vor knapp zwei Jahren sagte sie:

    O-Ton Angela Merkel: "Keine Bank darf so groß sein, dass sie wieder Staaten erpressen darf. Das ist für mich eigentlich der wichtigste Punkt. Die Staaten hüten die Ordnung und nicht die Wirtschaft gibt die Dinge vor."

    Liminski: Keine Erpressung also, und wer es nicht glaubt, dem wird das Bild vom untergehenden Europa suggeriert. Aber ist das alte Europa, das die Gründerväter im Sinn hatten, nicht schon längst untergegangen? Ist es nicht schon ein Bankeneuropa, ein Europa der permanenten Rechtsbrüche, der schwindenden Renten, der künftig steigenden Inflation, des wachsenden Ärgers mit Griechen, Spaniern, Italienern? War es das Europa, das Sie wollten? – Diese Frage geht an den früheren und langjährigen Arbeitsminister im Kabinett Kohl, Norbert Blüm. Guten Morgen, Herr Blüm.

    Norbert Blüm: Guten Morgen, Herr Liminski.

    Liminski: Herr Blüm, Sie stehen jetzt auf einer Wiese in einem finnischen Wald mit dem Handy in der Hand. Haben Sie sich dahin geflüchtet, weil es im Süden Europas zu heiß ist und im hohen Norden der Euro noch stabil?

    Blüm: Nein, das ist seit 31 Jahren das Tuskulum im Norden der Familie Blüm.

    Liminski: Ein Geburtsfehler des Euro war, dass man ihn auf verschiedene Wirtschafts- und Finanzsysteme aufpfropfen wollte. Es fehlte die politische Vertiefung und die Stabilitätskriterien wurden bald auch mit deutscher Beteiligung aufgeweicht. Stehen wir heute vor der Alternative, entweder wir schaffen die Einheitswährung wieder ab, oder wir schaffen den europäischen Bundesstaat mit Finanztransfers und Bankenunion, oder sehen Sie, Herr Blüm, rückblickend ein anderes Europa?

    Blüm: Nein, zurück zu dem Ursprung der Europa-Idee. Es war das Ergebnis aus schlimmen Erfahrungen, aus Kriegen, Grausamkeiten, Völkermord. Das war die Nachkriegserfahrung, und daraus lernend, weg von dem alten Nationalismus, ein Europa der Idee, der Freiheit, des Friedens. Und zu meinen elementaren Erlebnissen gehört: Der größte Fortschritt, den ich in meinem politischen Leben miterlebt habe, ist Grenzen fallen in Europa. Um die deutsch-französische Grenze haben wir in 70 Jahren dreimal Krieg geführt. Wir haben Krieg geführt, ob dieser Grenzstein rechts von Elsaß-Lothringen oder links von Elsaß-Lothringen eingegraben wird, mein Vater 1940 mit Sturmbooten über den Oberrhein. Das war das schlimmste Erlebnis seines Lebens, davon hat er bis zu seinem Tode erzählt. Seine Enkel, meine Kinder, die wissen gar nicht mehr, wo der Grenzstein war. Das ist das Europa des Friedens und wir dürfen es uns nicht verderben lassen, diese Idee, durch die Geldmacher. Denn das ist ja die neoliberale Versprechung gewesen, dass die Politik sich der Disziplin der Finanzwirtschaft unterziehen muss. Das ist in Davos verkündet worden 1998, die Politik sozusagen als Filiale des Geldsystems.

    Liminski: Hat sich denn die Politik treiben lassen vom Diktat der Finanzmärkte?

    Blüm: Und von den Verlockungen einer neuen Welt, die offenbar vom Geld geheilt wird. Nun hat das Geld sich aufgemotzt von einem Mittel zu einem Zweck, das ist die Arroganz des Geldes, und es gilt, in diesem Europa der Politik wieder die Ordnungsfunktion zuzuweisen. Denn man sieht ja: Die Politik ist ja ständig auf der Flucht vor Ängsten, die mit Drohungen der Geldwirtschaft geschürt werden. Die Politik ist ja in Gefahr, sozusagen zur Filiale der Bankhäuser zu werden.

    Liminski: Aber Geld ist nicht alles, das ist wohl richtig. Aber ohne Geld ist alles nichts, heißt es im Volksmund. Ist das nicht auch eine tiefe Wahrheit, Herr Blüm?

    Blüm: Doch, Geld als Mittel, aber Geld nicht als Selbstzweck. Geld hat sich aufgemotzt und regiert die Welt. Auch das ist ein Schreckenssatz des Volkes. Ich höre immer, Geld arbeitet; ich habe noch nie Geld arbeiten sehen. Trotzdem: Man kann mit Geld mehr Geld verdienen als mit Arbeit. Das ist eine Perversion, es gibt große Unternehmen in Deutschland, die verdienen mehr Geld durch Finanzgeschäfte als durch Produktion. 99 Prozent der den Erdball umkreisenden Dollar-Billionen haben mit Arbeit, Wertschöpfung, Dienstleistung überhaupt nichts zu tun, sind reine heiße Luft, Spekulation. Und da muss man sich nicht um den Nobelpreis für Nationalökonomie bemühen, eine solche Hochstaplerwelt wird wie ein Kartenhaus zusammenbrechen. Es geht um eine Ordnung, in der in der Tat das Geld wieder seine dienende Funktion hat, der Kredit Investitionen ermöglicht und nicht der Kredit einen Reichtumsautomatismus herstellt.

    Liminski: Die Not habe die Politik gedrängt, auch zu den Rechtsbrüchen. Der Maastrichter Vertrag ist mittlerweile Dutzende Male gebrochen worden. Paul Kirchhof sieht das Fundament Europas, die Rechtsgemeinschaft in Gefahr. Die Rechtsbrüche seien schlimmer als die Finanzprobleme, sagt er oder schreibt er. Ist das ein Professorenwort, das mit der politischen Praxis nicht vereinbar ist?

    Blüm: Auch das gehört zur europäischen Erbschaft, dass Ordnung in der Welt auf Recht basiert, dass das Recht die Willkür bändigt. Insofern ist das Recht nicht eine Zugabe, auf die man verzichten kann, die man infrage stellen kann. Kein Staat kann ohne Recht funktionieren. Was ist ein Staat ohne Recht? Das ist eine Räuberbande!

    Liminski: Sie haben vorhin auch ein bisschen mehr Menschlichkeit angemahnt, wenn ich das einmal so interpretieren darf.

    Blüm: Ja.

    Liminski: Wo vermissen Sie das konkret heute in Deutschland?

    Blüm: Menschlichkeit ist kein Produkt des Staates. Menschlichkeit kann man auch nicht proklamieren, sondern sie ist das Ergebnis von Erfahrung. Und wo entsteht die Erfahrung von Menschlichkeit? – In der Familie! Wenn Kinder nicht Vertrauen erfahren haben, werden sie es als Erwachsene schwer haben, auch Vertrauen weiterzugeben. Insofern glaube ich, Menschlichkeit entscheidet sich in der Familie, die entscheidet sich in der Kindheit, und ich sehe eine Entwicklung, in der die Familie sich reduziert auf eine Produktionsgemeinschaft, auf eine Interessenunion, der man beitritt oder wieder austritt. Das Kind stört eigentlich in diesem Gefecht, deshalb sind ja auch alle bemüht, dass das Kind möglichst früh dem Staat übergeben wird, das gehört ja alles dazu. Das alles unterminiert das, worauf eine Gesellschaft aufbaut, nämlich auf Vertrauen. Sie ist die Quelle von Menschlichkeit, dass man sich aufeinander verlassen kann. Das kann der Staat nicht schaffen.

    Liminski: Kann Europa mehr Menschlichkeit bringen, etwa in Form von Solidarität und deutschen Steuergroschen für die Griechen, für die Spanier, für die Portugiesen, demnächst auch die Italiener?

    Blüm: Ich glaube, dass es ein Europa der Solidarität nur gibt, wenn es auch gemeinsame Verantwortung gibt. Man kann nicht sozusagen die Rosinentheorie, Rettung und Solidarität verlangen, aber sich der gemeinsamen Ordnung entziehen. Insofern brauchen wir eine europäische Finanz- und Wirtschaftsordnung. Um es am Beispiel Zypern deutlich zu machen, das ist ja das Land, das jetzt die europäische Präsidentschaft hat: Das hat einen Körperschaftssteuersatz von zehn Prozent. Das ist viel weniger als wir verlangen, nämlich 25 Prozent. Aber diese verlangen nun Hilfe von Europa, also auch von den Staaten, die ihren Unternehmen viel höhere Steuersätze abverlangen. Richtig ist, Europa braucht, wenn die Solidarität wachsen soll, nicht nur Haftung, sondern auch Kontrolle, gemeinsame. Ich wundere mich immer, wenn die europäischen Regierungschefs von ihren Sitzungen in Brüssel zurückkehren: Was ist das Wichtigste? – Sie verfolgen die Nachrichten, ob die Märkte ihre Beschlüsse annehmen. Die Märkte, das scheint ein besonderes Wesen zu sein, das muss bei Laune gehalten werden, muss gepflegt werden. Ich höre, Märkte sind nervös, Märkte müssen beruhigt werden. Die drei Ratingagenturen, die haben mehr Macht als alle Parlamente Europas zusammen. Wenn die den Daumen senken, sind Staaten am Ende. Wer kontrolliert eigentlich, wer legitimiert eigentlich die Ratingagenturen? Durch Leistungen können sie nicht legitimiert werden, denn ihre Urteile waren mehrfach Fehlurteile. Die Koryphäen der Finanzwirtschaft haben sich nie mehr blamiert als in den letzten drei Jahren. Keine von denen hat auch nur eine Entwicklung richtig vorausgesehen. Insofern gibt es jeden Grund, zurückzukehren zum Primat der Politik.

    Liminski: Sich nicht dem Diktat der Finanzmärkte beugen, das rät hier im Deutschlandfunk der frühere Arbeitsminister und CDU-Politiker Norbert Blüm, und für die mäßige Leitungsqualität in die finnischen Wälder bitten wir um Nachsicht.

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