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Wenn die Rätsel Schlange stehen

Schweizer Mythen des 19. Jahrhunderts prägten Tim Krohns letzten Roman "Vrenelis Gärtli", geschrieben in einer Art Dialekt. Das Werk vertrieb 2007 in seinem Heimatland sogar Paulo Coelho vom Platz eins der Bestsellerliste. Jetzt treibt es den in Glarus aufgewachsenen Autor von den Alpen "ans Meer".

Von Anja Hirsch | 16.02.2010
    Das Meer war in der Literatur schon immer übercodiert; mindestens jedenfalls Sehnsuchtsort und Todesmetapher. Hier blüht und stirbt man. Oder versenkt Geheimnisse in dunklen Tiefen. Sie wieder an die Oberfläche zu spülen, verlangt allerdings Feinsinn. Vor allem dann, wenn die Rätsel Schlange stehen - wie in Tim Krohns Roman "Ans Meer".

    Dem Schweizer Autor muss Ian McEwans Roman "Abbitte" vorgeschwebt sein. Wie dort vergiften Missverständnisse über Jahrzehnte des Schweigens menschliche Beziehungen. Und wie dort überrollen sich nach einem kleinen Impuls die Ereignisse in einer Dichte, die kaum mit der Vergangenheit Schritt hält. Eine erzählerische Herausforderung: Es geschieht viel, aber gleichzeitig muss der Leser ständig nachinformiert werden. Das bremst. Wer dann auch noch - wie Tim Krohn - Schuld, Scham und Widersprüche im Romanfinale aufzulösen gedenkt, hat Gewaltiges zu stemmen.

    Trivial-Gefahr droht. Und wird nicht gerade vermindert, wenn ein zehnjähriger Junge den verbohrten Erwachsenen am Ende vergibt. Er heißt Jens. Noch ahnt er mehr, als er von der verworrenen Vorgeschichte weiß. Vaterlos aufgewachsen, lebt er mit seiner unsteten Mutter Joe in der Schweiz. Joe arbeitet in einer Autowerkstatt, und Jens ist weitgehend sich selbst überlassen. Immer geht alles schief. Selbst Ferienpläne enden nach Pannen in öden Hotelzimmern, wo man dann notgedrungen strandet.

    "Im Flur fiel ihm wieder ein, dass sie eigentlich ans Meer wollten, und als er ins Zimmer trat, drängelte er, sie solle den Kombi reparieren. "Es ist fast Nacht, Jens", erinnerte sie ihn, "wie soll ich das anstellen?" Gleich darauf ließ sie sich in den Sessel fallen, zog ihn auf ihren Schoß und hielt ihn fest. Mit ungewohnt weicher Stimme sagte sie: "Dafür erzähle ich dir von unserem Haus am Meer."

    Was Joe ihrem Sohn in dieser Nacht über die Vergangenheit preisgibt, ist dürftig: Als Kind verbrachte sie mit der gleichaltrigen Anna über viele Jahre wonnige Wochen an der Ostsee. Die Eltern waren befreundet, die Töchter einander wie Schwestern. Warum es sie heute nicht mehr ans Meer und zu Anna zieht, verschweigt die Mutter. Und auch die Leser rätseln. Anna haben wir zu diesem Zeitpunkt bereits erlebt: Die in Kiel lebende Psychologie-Dozentin war gerade wieder einmal mit ihrem Freund hoffnungsfroh beim Gynäkologen zum Schwangerschaftstest gewesen - leider ohne positives Ergebnis; denn Kalle ist unfruchtbar, wie sie kurz darauf von dessen Exfreundin erfährt.

    Ein bisschen wirft das die ansonsten vor Fröhlichkeit überschäumende Anna zwar aus der Bahn. Aber sie bündelt nach einer übereilten Flucht ins elterliche Haus und einem Blick in alte Tagebücher ihre Energie rasch neu: Warum nicht den Kontakt zu Joe wieder aufleben lassen nach all den Jahren des Schweigens?

    "Warum rufst du an?" Anna fühlte, wie ihr das Blut in den Kopf schoss. "Ich weiß, ich hätte dich damals nicht allein lassen dürfen", sagte sie eilig, "aber Joe, ich konnte mit all dem nicht umgehen. Es ging uns schlecht, du hättest Papa sehen soll... Ich war siebzehn, Joe", sagte sie scheu."

    Krohn hat ein Drama antiken Ausmaßes ins Rollen zu bringen. Und erliegt dabei offenbar der Verführung, wegen seines Wissensvorsprungs diese tragischen Figuren vorab mit Bedeutung aufzuladen - in einer Sprache, die zwar vor Adjektiven strotzt, aber klischeehaft bleibt. Anna etwa wirkt überzeichnet; ihre Mutter, eine Nebenfigur, dafür nur notdürftig skizziert. Auch einzelne Wortverbindungen und -Zuordnungen - etwa der Satz "Er schrieb eine stolze SMS" - sind unglücklich gewählt. So will man zwar wissen, was war - irrt aber oft in Rosamunde-Pilcher-Gefilden umher.

    "Sie brauchte das Meer nicht zu sehen, der Geruch genügte ihr. Mit geschlossenen Augen saß sie lange Zeit da und fühlte weiche, salzige Luft auf der Haut, die sich mit einigen schwer erklärbaren Tränen mischte, schließlich schlief sie ein."

    Unbeirrbar von abgenutztem Bildinventar, bricht vorhersehbar Vergangenheit ans Licht, zeitgleich begleitet von neuem Schmerz, als müssten spätere Generationen für die Verfehlungen der Eltern und das eigene Verdrängen bestraft werden. Joe fährt spontan ohne Jens zum verrottenden Haus ihrer Kindheit ans Meer. Hier ertrank vor Jahren ihre Mutter, eigentlich eine gute Schwimmerin, nach einem heftigen Streit mit Joes Vater, der gerade beim Fremdgehen ertappt worden war. Den Tod der Mutter interpretierte Joe als direkte Folge dieses fatalen Streits. Sie verzieh dem Vater nie und begann stattdessen mit 17 ein neues Leben, bald schon schwanger mit Jens, während der Vater sich zu Tode soff. Niemand klärte sie auf, dass die Mutter an einem geplatzten Hirnaneurysma starb - verhängnisvoll, denn Joe hat die Anlage geerbt und stirbt. Freilich hatte sie sich zuvor noch mit dem Meer und der Vergangenheit versöhnt. Ihr Anspruch aufs Haus war allerdings verjährt. Und so muss Krohn noch kräftig kitten, um Jens, der begeistert segelt, doch noch ans Meer zu holen - nicht nur zur Beerdigung seiner Mutter.

    "Es war sehr still im Raum. Etwas Staub tanzte im Sonnenlicht, er stand auf, um mit der Hand hindurchzufahren und ihn durcheinanderzuwirbeln, dann trat er zur Bahre. Joe sah tatsächlich zufrieden aus, wie Anna gesagt hatte. Jens betrachtete sie eine Weile, so wie er manchmal an den Wochenenden an ihrem Bett gesessen und darauf gewartet hatte, dass sie aufwachte."

    Die Ereignisse überstürzen sich, und Anna, mit der Joes Vater übrigens damals "so was wie Sex" hatte, was Joe gleichfalls nicht wusste, kompensiert jetzt ihren Babywunsch: Jens wird ihr persönliches Rettungsprojekt. Sie kauft ihm dafür sogar das Haus am Meer. Spätestens hier wirkt das Romanprojekt überambitioniert. Tim Krohn will eben nicht nur Geheimnisse aufdecken, sondern Vergangenheit abschließen und Zukunft gestalten - komme, was da wolle, und sei es die väterliche, italienische und sehr temperamentvolle Familie von Jens, die aus dem Nichts aufpoppt.

    Zwar wechseln die erzählerischen Perspektiven von Anna über Joe und Jens bis hin zu Rüdiger, ihrem Vater, der auch nicht ganz unbeteiligt war an besagten Familiengeheimnissen. Die emotionalen Nachbeben solcher Tabus bleiben aber während der Lektüre wegen überbordender Verstrickungen und raffender Rückblenden gering. Zu prall erzählt sich hier Schicksal; sprachlich fast geheimnislos, was angesichts des Kernthemas besonders merkwürdig ist. Krohn befüllt seine stark typisierten Figuren mit mächtigen Sehnsüchten und baut nebenbei Jens, der noch am authentischsten von allen gerät, zur Erlöserfigur auf: Er vergibt Anna. So bleiben am Ende statt Widerstände und Komplexität nur noch blendende Glücksschimmer. Das große Thema, das schuldlos-schuldig-Werden der um Verzeihung ringenden Figuren, verflüchtigt sich in Worthülsen einer Schöner-Wohnen-Welt, die viel Tragik behauptet, aber nicht transportiert.

    "Und mit einem Mal war alle Wut, alle Verzweiflung der letzten zwölf Jahre einfach fort. Sie fühlte eine wunderbare Gleichgültigkeit dem Leben gegenüber, die nichts Verbittertes hatte - angesichts des Meeres, das so berückend weit und leer vor ihr lag, eingebettet in die diesige, von der Nachmittagssonne golden überschienene Frühsommerluft, das warme, duftende Holz im Rücken, schien ihr das Schicksal eines einzelnen Menschen nur bedeutungslos. Wie auch immer es verlief, es war aufs Schönste eingebettet in einen Lauf, der um so vieles weiter gespannt war, als es ein Mensch erfassen konnte."

    Tim Krohn: "Ans Meer". Roman. Verlag Galiani, Berlin 2009. 304 Seiten, 19,95 Euro