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Wenn ein Minimum gekürzt wird
Karlsruhe verhandelt über Hartz-IV-Sanktionen

Hartz IV soll Arbeitslosen die Existenz sichern. Doch sogar das Geld für die Krankenversicherung darf der Staat den Beziehern der Sozialleistung im schlimmsten Fall kürzen. Das Bundesverfassungsgericht entscheidet jetzt darüber, ob der Staat vom Minimum noch etwas wegnehmen darf.

Von Anja Nehls | 12.01.2019
    Ein unbekannter Street-Art-Künstler hat auf einer Mauer an einem besetzten Haus in Berlin im Bezirk Mitte dieses Bild geschaffen, das seine Meinung zu den Hartz IV Gesetzen drastisch wiedergibt: Verzwifelte HÄnde greifen nach dem roten Schriftzug Hartz IV, im Hintergrund sind Grabkreuze zu sehen.
    Hartz IV wurde zum 1. Januar 2005 durch das "Vierte Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt" eingeführt (Wolfram Steinberg/ dpa )
    "Niemandem wird künftig gestattet sein, sich zu Lasten der Gemeinschaft zurückzulehnen. Wer zumutbare Arbeit ablehnt, und wir werden die Zumutbarkeitskriterien verändern, der, meine Damen und Herren, wird mit Sanktionen rechnen müssen."
    Der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder 2003, als es um die von ihm auf den Weg gebrachte Agenda 2010 ging. Das Sozialsystem wurde reformiert. Seit 2005 sind Arbeitslosen- und Sozialhilfe zusammengefasst und es werden Arbeitslose sanktioniert, die zumutbare Arbeit ablehnen, die Termine mit dem Jobcenter nicht einhalten oder Fortbildungsmaßnahmen abbrechen. Das heißt, je nach Verstoß werden ihnen 10, 30, 60 oder bei mehreren Verfehlungen auch bis zu 100 Prozent ihrer Hartz-IV-Bezüge für jeweils drei Monate gestrichen. Bei Arbeitslosen unter 25 Jahren werden Verfehlungen noch härter sanktioniert – aus erzieherischen Gründen. Der Hartz-IV-Satz jedoch gilt als das absolute Existenzminimum, das ein Mensch zum Leben braucht, sagt der Jurist Jens Petermann, Richter am Sozialgericht Gotha in Thüringen
    "Es ist ja so, dass seit dem 1.1.2005 in dieser Republik ein Phänomen besteht. Nämlich das Phänomen, dass Menschen, die keinerlei Straftaten begangen haben, tatsächlich aber aufgrund eines Verhaltens gegenüber der Sozialverwaltung, was möglicherweise von der Sozialverwaltung nicht für korrekt angesehen wird, in ihren Rechten erheblich beschnitten und eingeschränkt werden - soweit eingeschränkt werden, dass sich die Frage stellt, ob die Einschnitte so schwerwiegend sind, dass es auch Menschenrechtsverletzungen darstellen könnte."
    Schwierige Entscheidung, große Signalwirkung
    Ob die Hartz-IV-Sanktionen grundgesetzkonform sind, soll jetzt das Bundesverfassungsgericht entscheiden. Jens Petermann hat den Stein ins Rollen gebracht, nachdem er 2015 den Fall eines jungen Mannes auf den Tisch bekommen hatte. Dieser hatte ein Arbeitsangebot und eine Weiterbildung abgelehnt und sollte deshalb eine Kürzung seiner Bezüge um 60 Prozent akzeptieren:
    "Das hat der nicht gemacht, hat dagegen geklagt und hat dann aber auch ausgeführt, dass Sanktionen gar nicht grundrechtskonform seien und, dass das gar nicht erlaubt sei, weil die Verfassung eigentlich das Grundrecht aus Artikel 1 und Artikel 20 Grundgesetz so sehr verbriefe, dass man das auch nicht sanktionieren könne. Und das Gericht hat sich davon überzeugen lassen und letztlich auch entschieden, dass es selber die Verfassungswidrigkeit nicht feststellen kann, das darf es auch nicht."
    Artikel 1: Die Würde des Menschen ist unantastbar, und Artikel 20: Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat.
    Das Sozialgericht Gotha musste also dem Bundesverfassungsgericht das Problem zur Entscheidung vorlegen und kann danach erst weiterverhandeln.
    Gerhard Schröder stellt die Agenda 2010 vor.
    Gerhard Schröder stellt die Agenda 2010 vor - das war 2003 (Bild: picture alliance / dpa) (picture alliance / dpa)
    Mehr als ein Dutzend Experten zum Thema wurden im Vorfeld bereits angehört. Die Meinungen gehen weit auseinander. Die Entscheidung wird schwierig und die Signalwirkung groß sein. Denn über eine Reform des Hartz-IV-Systems wird derzeit politisch sowieso heftig diskutiert. Die Abschaffung der Sanktionen ist dabei ebenfalls ein Punkt. Eine Million Mal wurden im vergangenen Jahr Menschen die Bezüge gekürzt, vielen Betroffenen mehrfach. Mehr als 30.000 bekamen über einen gewissen Zeitraum gar kein Geld. Insgesamt waren drei Prozent von über 5,8 Millionen Leistungsempfängern betroffen - aus den unterschiedlichsten Gründen.
    Einer der Betroffenen ist Michael Husemann, wie er hier genannt werden möchte. Für ein Gespräch hat er nicht viel Zeit, in einer halben Stunde beginnt sein Job auf einem Markt. Davon weiß das Jobcenter allerdings nichts. Einen festen Arbeitsplatz hat der Mittvierziger nicht. Seit fast zehn Jahren lebt er von Hartz-IV:
    "Seitdem bin ich halt arbeitslos, aber nicht wirklich arbeitssuchend. Ich stocke inoffiziell auf teilweise, und wenn das inoffiziell Aufgestockte halt abgeschmolzen ist, dann ergibt sich wieder etwas, also man hangelt sich halt durch. Ich sehe mich persönlich nicht als Parasit, ich sehe mich, in Anführungszeichen, als Widerständler, indem ich mich dem System entziehe."
    Bis 30 Prozent in drei Zehnerschritten
    Das heißt, er lebt weitgehend auf Kosten der Allgemeinheit, obwohl er das eigentlich nicht müsste. Zwölf Jahre lang hatte Michael Husemann eine gut bezahlte Anstellung bei der Rentenversicherung. Dann wurde seine Mutter schwer krank, er kündigte und pflegte sie rund um die Uhr bis zu ihrem Tod. Nachdem in dieser Zeit das Arbeitslosengeld I ausgelaufen war, fiel er in Hartz-IV. Und auch das wurde ihm ziemlich schnell gekürzt:
    "Das war vermutlich, weil ich Termine versäumt habe, weil ich aufgrund der Pflege so extrem eingebunden war und keinen Kopf für irgendetwas anderes hatte. Insgesamt ging das, glaube ich, bis 30 Prozent in drei Zehnerschritten, und ich hatte keine Kraft, mich diesbezüglich um irgendetwas zu kümmern. Ich konnte zum Glück bei meiner Mutter ein bisschen Lebensmittel bekommen, aber es gab Tage, da hatte ich nichts, da habe ich dann industrieraffinierten Zucker ein bisschen gegessen, damit ich ein paar Kalorien rein bekomme."
    Als die Mutter stirbt, kann und will er sein altes Leben nicht wieder aufnehmen. In seinen ehemaligen Job will er keinesfalls zurück. Eine von ihm erträumte und relativ teure Ausbildung zum Heilpraktiker will das Jobcenter nicht unterstützen. Eine Arbeit als Wachschützer wird ihm angeboten, aber die würde so wenig einbringen, dass er aufstocken müsste. Er lehnt ab. Die Fronten verhärten sich. Er meldet sich krank, wenn aus seiner Sicht unsinnige Maßnahmen wie Bewerbungstrainings verordnet werden. Er will die obligatorische Eingliederungsvereinbarung des Jobcenters nicht unterschreiben, das Jobcenter verhängt neue Sanktionen. Er wehrt sich, kann einen Formfehler nachweisen und bekommt das abgezogene Geld zurück. Fast 40 Prozent aller Klagen vor den Sozialgerichten gegen Hartz-IV-Sanktionen waren im vergangenen Jahr erfolgreich.
    Wartenummernautomat im Wartebereich des Arbeitsamtes Berlin-Kreuzberg/Friedrichshain am 03.01.2005
    Gegen Kürzungen können Hartz IV-Empfänger vorgehen (imago / Götz Schleser)
    Der Berliner Verein Sanktionsfrei e.V. unterstützt Hartz-IV-Empfänger dabei, gegen Kürzungen vorzugehen. Helena Steinhaus hat den Verein gegründet, auch sie selbst lebte als Kind eine Zeit lang von Hartz IV. Hier wird nicht gefragt, warum jemandem die Leistungen gekürzt wurden, ob ein Termin vergessen oder einfach verweigert wurde, sagt Helena Steinhaus:
    "Also es gibt tausend Gründe, einmal: Menschen arbeiten. Die Hälfte der Hartz-IV Beziehenden sind gar nicht arbeitslos, die sind entweder Aufstocker oder in der Ausbildung oder was auch immer, oder sie betreuen ein Kind, sie sind krank, es gibt Leute, die sind psychisch gar nicht mehr in der Verfassung, die Post aufzumachen. Das klingt jetzt erst mal banal, aber es ist wirklich wahr. Viele sind auch gerade sowieso in einer schwierigen Situation, man ist ja nicht aus Spaß in Hartz-IV.
    Der Verein hilft den Betroffenen, indem er der Sanktion zunächst online widerspricht. Dann schalten sich die vom Verein beauftragten Anwälte ein und begründen den Widerspruch. In 90 Prozent der Fälle haben sie Erfolg, etwa, weil das Jobcenter versäumt hatte, die Betroffenen vor der Kürzung der Bezüge anzuhören. Bis das Jobcenter die Kürzungen dann erstattet, hilft der Verein den Sanktionierten auch mit Geld, die Zeit zu überbrücken:
    "Auch wenn man denkt, es ist wenig Geld, was da weggenommen wird: Immer ist es eine existenzielle Not. Denn wenn man schon von dem Wenigsten lebt, von dem Minimum, dann ist alles, was davon noch weggenommen wird, einfach schlimm."
    Anspruch auf Sachleistungen
    Sanktionsfrei e.V. finanziert sich ausschließlich durch Spenden und private Unterstützer.
    "Wir haben das Prinzip, dass die Gelder, die wir auszahlen nach gewonnener Klage an uns zurückgezahlt werden sollen, damit wir den Solidartopf kontinuierlich füllen können und das funktioniert. Also die Leute geben uns das Geld zurück und so haben wir immer mehr Geld, um es den Leuten zur Verfügung zu stellen."
    Eigentlich haben Betroffene ab einem bestimmten Grad der Kürzungen Anspruch auf Sachleistungen. Sie bekommen vom Jobcenter Wertgutscheine, zum Beispiel für Lebensmittel oder Kleidung. Die würden allerdings von vielen nicht in Anspruch genommen, meint Helena Steinhaus. Und richtig kritisch werde es, wenn bei einer 100-Prozent-Sanktionierung nicht nur der Regelsatz von derzeit 424 Euro gestrichen wird:
    "Darüber hinaus können eben auch die Kosten der Unterkunft, also die Miete gestrichen werden und die Krankenversicherung, und das kann zu Obdachlosigkeit führen. Letztendlich ist es ein Ausdruck, wenn Du nicht machst, was ich möchte, ist es für mich auch ok, wenn du auf der Straße landest."
    Ob das verfassungsgerecht ist, darüber werden die Karlsruher Richter zu urteilen haben – und vielleicht der Politik die Entscheidung abnehmen, denn bereits im vergangenen Jahr wurde über eine Abschaffung der Sanktionen heftig gestritten.
    Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles gestikuliert vor einer roten Wand mit SPD-Logos.
    SPD-Chefin Andrea Nahles fordert "Bürgergeld" statt Hartz IV (dpa/Kay Nietfeld)
    Seit die Arbeitsmarktreform 2005 in Kraft trat, hat sich die Zahl der Arbeitslosen fast halbiert. Das liege ausschließlich an der guten konjunkturellen Entwicklung, sagen die einen. Das liege aber auch an der strikten Durchsetzung des Prinzips "Fördern und Fordern", sagt etwa Bundesarbeitsminister Hubertus Heil, SPD. Der kann sich zwar vorstellen, das System der Grundsicherung zu reformieren und die härteren Sanktionen für Arbeitslose unter 25 denen der Älteren anzugleichen, ganz abschaffen will er sie aber nicht. Bei seiner Parteikollegin Andrea Nahles klingt das anders. Sie fordert jetzt ein Bürgergeld, das nicht nur Verbesserungen bei den Zuverdienstmöglichkeiten für Hartz-IV-Empfänger, sondern auch ein Ende der Kürzungen vorsieht:
    "Das Bürgergeld, das wir wollen, soll zu keinem Zeitpunkt unter dem Existenzminimum liegen. Das hat etwas damit zu tun, dass wir festgestellt haben, im jetzigen Hartz-IV-Regime ist es so, dass wir durchaus durch Sanktionen tatsächlich Menschen unter das Existenzminimum drücken."
    Die Grünen wollen mit ihrer Idee einer neuen sogenannten "Garantiesicherung" für die Leistungsempfänger jede Verpflichtung abschaffen, sich eine Arbeit zu suchen, um den Leistungsbezug zu beenden. Der Grünen-Vorsitzende Robert Habeck will dagegen lieber Anreize schaffen:
    "Man kriegt seinen Hartz-IV-Bezug und dann gibt es darüber hinaus Leistungsprämien, entweder sachlicher Art oder auch finanzieller Art, wenn man sich fortbildet. Und das ist das attraktivere System, dass Menschen in Arbeit gehen. Menschen wollen tätig sein, und dieses Wollen der Tätigkeit, das soll unterstützt werden. Insofern sind alle Überlegungen davon geleitet, kein Druck, kein Zwang, keine Bestrafung, keine Würdelosigkeit zu produzieren, sondern Anreize zu schaffen, um so dem Menschen Mut zu geben, und alles weitere ergibt sich dann daraus."
    "Grundrechte muss man sich nicht verdienen"
    Bereits im Juni vergangenen Jahres hatte die Linke im Bundestag einen Antrag auf Sanktionsfreiheit eingebracht. Die Parteivorsitzende Katja Kipping: "Es handelt sich bei der Sozialleistung, nicht um eine Mildtätigkeit. Es geht hier um ein Grundrecht. Und Grundrechte, die muss man sich nicht verdienen. Deswegen sagen wir ganz klar, Grundrechte kürzt man nicht."
    Der Antrag wurde abgelehnt, mit den Stimmen der Regierungsfraktion, der FDP und der AFD. Matthias Zimmer von der CDU:
    "Warum sollte ein Familienvater, der mit seiner Arbeit sich und seine Familie ernährt mit seinen Steuerzahlungen, einen anderen arbeitsfähigen, aber arbeitslosen Familienvater unterstützen, wenn dieser nichts dazu tut, um seine Lage zu ändern? Nein, dies führt zu einer gesellschaftlichen Delegitimierung von Solidarität, und das wollen wir nicht."
    Leider liegt für dieses Bild keine Bildbeschreibung vor
    Ein Befürworter der Sanktionen: CDU-Bundestagsabgeordneter Matthias Zimmer (imago / Michael Schick)
    Rückenwind bekommen die Befürworter von Sanktionen unter anderem von den Arbeitgeberverbänden, etwa von der Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft. Deren Geschäftsführer Ivor Parvanov verteidigt die Kürzungen des Jobcenters anlässlich einer Anhörung im Bundestags-Ausschuss für Arbeit und Soziales.
    "Wir sind aber durchaus der Meinung, dass der Sanktionsmechanismus durchaus einen förderlichen Effekt hat. Wir sehen darin auch eine durchaus gewünschte pädagogische Wirkung, was das Verhalten der Betroffenen angeht. Denn, insofern will ich auch noch eingehen auf den Bereich materielle Auswirkungen der Sanktionen, denn natürlich haben die Auswirkungen, genau das soll auch so sein. Denn natürlich liegt es im Wesentlichen in der Hand der Betreffenden selber, ob sie durch Pflichtverletzung die Sanktion herbeiführen oder nicht. Und deshalb halten wir das System des Sanktionsmechanismus im Prinzip für völlig richtig und genau dem Prinzip Fördern und Fordern angemessen."
    Auch, dass die unter 25-jährigen Arbeitslosen härter und schneller sanktioniert werden, sei richtig, weil man sie noch am ehesten beeinflussen könne, so Parvanov.
    Die Jugendarbeitslosenquote in Deutschland hat sich seit 2005 mehr als halbiert. Die Zahl der Langzeitarbeitslosen in Deutschland ist in den vergangenen sechs Jahren um ein Fünftel zurückgegangen, die Quote der Menschen, die sanktioniert wurden, sank im gleichen Zeitraum von 3,4 auf jetzt 3,1 Prozent. Für Markus Mempe vom Deutschen Landkreistag sind diese Zahlen ein Hinweis darauf, dass bereits die Androhung von Kürzungen auf die Betroffenen einen Einfluss habe. Die Landkreise betreiben die Jobcenter gemeinsam mit der Bundesagentur für Arbeit oder in kommunaler Eigenregie. Um Sanktionen komme man dort auch in Zukunft nicht herum:
    "Andererseits bekommen wir von den Jobcentern auch zurückgemeldet, dass bei manchen die Abschreckungswirkung nicht fruchtet und es nicht zu verbesserter Mitwirkung führt. Insofern ist auch die Durchführung von Sanktionen durch die Jobcenter als wichtiges Instrumentarium unentbehrlich. Ohne Sanktionen könnten viele Leistungsberechtigte schlichtweg nicht erreicht werden."
    Abmeldung vom Jobcenter
    Studien vom Institut für Arbeitsmarkt und Berufsforschung IAB zeigen, dass die Beschäftigungschancen eines Teils der Menschen, die sanktioniert wurden, zumindest kurzfristig steigen, weil sie sich mehr darum bemühen. Es gebe aber auch Untersuchungen, die belegen, dass manche sich in der Folge eher ganz vom Arbeitsmarkt zurückziehen, erklärt Joachim Wolff vom IAB:
    "Im Einklang mit dem, was Studien gefunden haben zum Rückzug vom Arbeitsmarkt, findet man auch in der Befragung, dass Sanktionen auch dazu führen können, dass Personen sich von den Jobcentern ganz abmelden infolge einer Sanktionierung, das vor allem bei den unter 25-Jährigen."
    Der Eingang von einem Jobcenter in Berlin.
    Infolge von Sanktionierungen melden sich viele Betroffene vom Jobcenter ab (imago | Emmanuele Contini)
    Das kann Mara Meier, wie sie hier genannt wird, nur bestätigen. Sie ist Arbeitsvermittlerin in einem Berliner Jobcenter und betreut vor allem Langzeitarbeitslose und Menschen mit sogenannten Vermittlungshemmnissen wie psychischen oder Alkoholproblemen. Aus Sorge um ihren Arbeitsplatz will sie anonym bleiben. Die Stimme wurde deshalb nachgesprochen.
    "Ich sanktioniere nicht. Ich mache es nicht. Ich finde solche repressiven Mittel einfach nicht tragfähig für die Zusammenarbeit. Ich habe die Erfahrung gemacht, sobald das im Raum steht, geht eine Tür zu. Und ich habe überhaupt keine Möglichkeit, Beziehungsarbeit zu leisten, wenn ich sofort mit Sanktionen drohe, und das sage ich in den Gesprächen auch. Und ich habe, toi, toi, toi, bisher das Glück gehabt, dass meine Klienten mit mir gerne zusammenarbeiten und dass es gar nicht erst soweit kommen muss."
    Um zum Beispiel rechtzeitig einen Termin absagen zu können, haben sämtliche Klienten ihre Telefonnummer. Das ist längst nicht bei allen Arbeitsvermittlern üblich. Manche sind nicht einmal per Mail, sondern nur per Brief zu erreichen. Mara Meier möchte, dass die Menschen, die sie betreut, mit ihr reden:
    "Ich sehe keine Mutwilligkeit darin, wenn Menschen die Termine nicht wahrnehmen können oder, wenn sie aufgrund familiärer Situation dann doch nicht bei einer Maßnahme bis zum Schluss teilnehmen können. Oder, wenn sie sich jetzt, obwohl man vereinbart hat, einvernehmlich, dass man zehn Bewerbungen im Monat schreibt, wenn sie jetzt doch nur acht nachweisen können."
    Mal ein Bewerbungstraining, mal eine Fortbildung
    Mara Meier will ihre Macht nicht missbrauchen - manchmal entscheide eben nur Glück darüber, wer vor und wer hinter dem Schreibtisch sitze. Dennoch sei der Druck, der auch auf ihr als Arbeitsvermittlerin liegt, groß: "Es müssen Maßnahmen vergeben werden, die Gelder müssen ausgegeben werden, und es ist erstaunlich, weil, je größer dieses Thema wird mit der Reformierung des Hartz-IV-Systems und der Sanktionen, desto größer wird auch der Druck, Geld auszugeben, Maßnahmen zu besetzen und die Zahlen auch irgendwie zu schönen."
    Mal ein Bewerbungstraining, mal eine Fortbildung über verschiedene Kassensysteme für Menschen, die nie im Leben Verkäufer werden wollen, ab und zu ein schlecht bezahlter und befristeter Job, der für die Betroffenen keine langfristige Lebensperspektive bietet. Dass Menschen wie Michael Husemann dann bald zu nichts mehr Lust haben, wundert Mara Meier nicht. Michael Husemann, der eigentlich arbeitsfähig ist, gesund, intelligent und organisiert. Die Angebote des Jobcenters hat er aber bisher abgelehnt:
    "Es war halt immer über Zeitarbeit und befristet und wieder mein alter Bereich Sozialversicherung halt. Und das ist gar nicht mehr mein Ding, da hat sich alles in mir gesträubt. Es muss halt was sein, was ich wirklich will und nicht, wo gerade mal ein Rädchen im Getriebe gebraucht wird."
    Die Richter des Bundesverfassungsgerichts.
    Das Bundesverfassungsgericht verhandelt am 15. Januar darüber, ob Kürzungen des Hartz-IV-Satzes bald der Vergangenheit angehören (dpa / Uli Deck)
    Michael Husemann, ein notorischer Arbeitsverweigerer? Für Rainer Wieland vom Wuppertaler Institut für Unternehmensforschung und Organisationspsychologie ist sein Verhalten keine Überraschung. Wieland hat psychologisch wirksame Arbeitsbedingungen in Unternehmen untersucht und möchte diese Ergebnisse jetzt auf das Sozialsystem übertragen. Ökonomisch erfolgreicher würden Unternehmen nämlich nicht, indem sie ihren Mitarbeitern mehr Druck machten:
    "Es ändert sich nur dann etwas, wenn auch die Arbeitsverhältnisse sich ändern, dass wenn die Leute so etwas wie Gestaltungsspielräume haben, selbst entscheiden - was tue ich, wie tue ich es -, dass sie so etwas haben wie vollständige Aufgaben, sie dürfen selbst planen, sie dürfen selbst ausführen, selbst kontrollieren. Und wir können mit ganz großer Sicherheit zeigen, dass diese Verhältnisse letztendlich das Befinden ganz stark beeinflussen zum einen, aber zum anderen auch das, was hinten raus kommt." Und heraus käme ohne Druck durch Sanktionen mehr als mit Druck, so der Wissenschaftler.
    Am 15. Januar wird in Karlsruhe darüber verhandelt werden, ob Kürzungen des Hartz-IV-Satzes bald generell der Vergangenheit angehören. 2010 hatte das Bundesverfassungsgericht schon einmal in einem anderen Zusammenhang deutlich gemacht, was das Hartz-IV Gesetz leisten muss:
    "Es verpflichtet den Staat, einem Hilfebedürftigen diejenigen materiellen Mittel zur Verfügung zu stellen, die zur Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums unbedingt erforderlich sind. Dieser verfassungsrechtliche Leistungsanspruch gewährleistet sowohl die physische Existenz des Menschen als auch ein Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben."
    Für den Sozialrichter Jens Petermann ist die Sache vor allem juristisch interessant. Der Fall des jungen Mannes, der vor seinem Sozialgericht Gotha geklagt hatte, liegt auf Eis. Sollte er Recht bekommen, wird ihm das abgezogene Geld erstattet. Für Petermann ist die Wahrscheinlichkeit dafür recht groß:
    "Ich bin der Meinung, dass man ein Grundrecht, wenn es denn wirklich ein Grundrecht ist, nicht kürzen kann. Denn ein gekürztes oder ein kastriertes oder wie auch immer geartetes Grundrecht, das gibt es nicht. Das sieht das Grundgesetz definitiv nicht vor."
    In einigen Wochen wird dann das Bundesverfassungsgericht sein Urteil verkünden.