Donnerstag, 18. April 2024

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Wenn es regnet, dann regnet es immer gleich auf den Kopf

"Und sie geigen Schostakowitsch" heißt die erste der zehn Erzählungen, die die gerade dreißigjährige Autorin aus Berlin in ihrer kleinen Sammlung vorlegt. Die Geschichte spielt in Moskau. Eine Frau besucht ein Konzert. Ihr Begleiter hat sie unterwegs im Stich gelassen. Auf der Treppe zum Konzertsaal fällt ihr ein Stück zusammengefaltetes Toilettenpapier auf, das einer Frau aus dem Strumpfhalter gerutscht ist und nun von zahlreichen Füßen hin und hergeschoben und malträtiert wird. Am Ende, beim Rausgehen, will sie auf das Stück Papier achten. Dazwischen das Konzert. Bilder und Erinnerungen an winzige Begebenheiten entstehen in ihrem Kopf. Ein Junge musiziert an einem Metroausgang – und jeder Rubel wird ihm sofort von einer Art Zuhälter weggenommen. Ein Park, in dem die Erzählerin pinkeln musste, weil es in dieser Stadt keine andere Gelegenheit gibt. Ein Mann, dem anscheinend im Krieg das Kinn weggeschossen wurde. Bilder von Verlorenheit, von Einsamkeit, von Demütigungen, Bilder, die ihre Ausgangspunkte stets an kleinen, konkreten Beobachtungen finden und dann im inneren Kosmos mit mächtigen Bedeutungen aufgeladen werden. Diese Eigenheit des Erzählens erinnert daran, dass Christina Griebel bislang vor allem gemalt hat, wirft die Frage auf, wie sie von der Malerei zum Schreiben gekommen ist.

Detlef Grumbach | 14.07.2003
    Ganz einfach, weil es für mich eigentlich das gleiche ist. Ich gehe einfach davon aus, das künstlerisches Verhalten darin besteht, dass man einen bezug zur Welt herstellt und den in irgendeiner Weise sprachlich oder visuell in eine Form bringt. Und deshalb ist das Formproblem die große Herausforderung und da fängt eben sowohl das Malen und als auch Schreiben erst an, man bringt Dinge aus der Welt in einen neuen Zusammenhang miteinander.

    Es ist typisch für die meisten dieser vielschichtigen und irritierenden Texte, dass sie einen kurzen, klar umrissenen Zeitraum erfassen und dass eigentlich nichts passiert. Aber die Gedanken der Erzählerin kreisen, beinahe autistisch schirmt sich ein bedrängtes Ich ab und sucht irgendwo Halt. Und die Musiker geigen Schostakowitsch. Wie zur Vergewisserung, dass sie sich noch immer im Saal befindet, wie das Motiv eines Stückes, wiederholt die Erzählerin diesen Satz, doch stets mit anderen Zusätzen versehen: "so schnell sie können", "hart und schnell", "bis zum Ende".

    Die ist so einsam wie man nur sein kann. Und ich glaube, so einsam kann man nur zu zweit sein in dem Moment, kurz bevor sowieso alles zu spät ist. Davon handelt diese Geschichte ja. Dieser Partner geht ja offensichtlich auf dem Weg in den Konzertsaal verloren. Und es der Versuch, na ja, so ein eigenes Weltrettungsmodell für diese Person zu entwickeln, das darin besteht, dass sie sich auf diese Kleinigkeiten fixiert. Und dieses WC-Papier steht ja nicht nur für einen scharfen Blick, sondern für den Blick einer Person, die es bereits am eigenen Leib erlitten hat, dass es notwenig ist, dass man Klopapier im Strumpfhalter mit sich herumtragen muss, damit man in dieser Stadt irgendwie zurecht kommt. Also diese Scharfsicht entsteht eigentlich aus einem unheimlich alt gewordenen, wenn auch vielleicht an Jahren jungem Ich. Es sind Icherzählerinnen, die es zulassen, dass ihnen furchtbar viel passiert.

    Die Erzählerin eines anderen Textes wartet auf eine Fähre, um von einer Insel zum Festland zu gelangen. 20 Minuten Wartezeit. Ein Mann setzt sich neben sie, spricht sie an, bedrängt sie sogar ein wenig, obwohl die Situation harmlos bleibt. Es passiert nichts, aber im Kopf der Protagonistin wächst das Szenario einer bedrohlichen Situation. Nur am Ende entsteht ein irritierende Moment großer Nähe und Vertrautheit zwischen den beiden. "Harte Sache" heißt ein weiterer Text, in dem der Meister in einer Käsefabrik allmorgendlich die Arbeitseinteilung vornimmt. Die Erzählerin weiß genau, was sie will. Der Keller, was immer dort geschieht, gilt als Hölle, dorthin, so hofft sie inständig, wird sie nie geschickt. Dagegen träumt sie davon, zusammen mit einem jungen Mann an die Käsestanzmaschine zu gelangen. Schließlich erfüllt sich ihr Traum, doch es stellt sich heraus, dass gerade der Keller ein abseitiger Rückzugsort für Freigeister ist, während die Käsestanzmaschine die reine Qual bedeutet.

    Diese Texte funktionieren ja irgendwie dadurch, dass sich in diesen Texten, die man aber auch nicht über einen Kamm scheren kann, die Dinge umdrehen. Und das liegt daran, dass ich davon überzeugt bin, dass jede Art von Hoffart Fehl am Platze ist. Und es sind viele Ichs, und was ihnen wahrscheinlich gemeinsam ist, ist ein sehr visueller Zugang zu ihrer Umwelt und dass aus diesen Eindrücken ein vorläufiges, ein immer nur vorläufiges Weltverständnis entwickelt wird, dass sich seiner Brüchigkeit bewusst bleibt. Ich glaube schon, dass es sehr verletzliche Ichs sind oder in ihrer Vergangenheit verletzte Ichs, die Strategien entwickelt haben, irgendwie zurecht zu kommen, wie diese Heimbewohnerin, die dann eben sagt, sie sagen mir, dass ich krank bin, aber ich funktioniere ganz gut. Also man hat sich etwas zurecht gelegt, wie man eben doch weiter agieren kann.

    Schon der Titel dieses Buchs irritiert. Er klingt umständlich und beinahe etwas larmoyant. "Wenn es regnet, dann regnet es immer gleich auf den Kopf." Oder schwingt hier auch Trotz mit in dieser Beschwerde über die Welt, wie sie den Erzählerinnen unnachgiebig zu Leibe rückt? Wirklichkeit, Erinnerungen, Ängste und Träume fließen ineinander, einer eindeutige Verortung entziehen sich diese bedrängten Figuren. Die angesprochene Heimbewohnerin, die Protagonistin der Titelgeschichte, lebt in der Psychiatrie, weil sie von frühster Kindheit an nicht Selbstbewusstsein hat, eigenständig etwas zu tun, auf andere zuzugehen. In Gedanken geht sie noch immer ihrem Sandkastenfreund nach, der ganz anders als sie war, frech und offensiv, und den sie deshalb verloren hat. Sie hat sich eingerichtet in diesem Leben, hat sich ihr Bild von sich und der Welt gemacht und es bleibt auf verstörende Weise in der Schwebe, ob man es ihr als Schwäche oder Stärke auslegen soll.