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Wenn Fachkräfte auswandern

Jährlich wandern mehr türkischstämmige Menschen aus Deutschland aus als ein, darunter viele Hochqualifizierte. Sie zieht es auch nach Istanbul, wo sie im Rahmen eines deutsch-türkischen Stammtisches ihre deutschen Kontakte und die Sprache pflegen.

Von Luise Sammann | 22.10.2010
    "Ja, wieso kommen wir zu diesem Stammtisch. Ja, hier sprechen wir hauptsächlich Deutsch und die meisten sind auch aus Deutschland und ja, da fühlt man sich halt auch so'n bisschen wie in Deutschland."

    Der 29-jährige Bülent - Goldkettchen, durchtrainierter Oberkörper, knappes Shirt - sitzt im Café Teras, irgendwo in Istanbuls Partyviertel Beyoglu. Der Bosporus ist so nah, dass man ihn riechen kann. Bülent ist zum Rückkehrer-Stammtisch gekommen, wie jeden Monat. Obwohl - das stellt er gleich zu Anfang klar - der Name eigentlich nicht ganz stimmt. Denn viele der deutsch-türkischen Stammtisch-Besucher sind längst in Deutschland geboren und aufgewachsen. Nach Istanbul sind sie also weniger zurückgekehrt, als vielmehr ausgewandert.

    "Das ist gar nicht Nachhausegehen, das ist also ... Ob's jetzt für mich Türkei ist oder ob's jetzt Kamerun oder Afrika ist, das spielt keine Rolle. Das ist für mich nichts anderes gewesen. Dass meine Eltern aus der Türkei kommen, heißt noch lange nicht, dass das meine Heimat ist, hier. Ich bin hier hergekommen, also aus geschäftlichen Gründen und wegen Job."

    Bülent ist ein Beispiel unter Vielen. 40.000 Menschen haben Deutschland im letzten Jahr in Richtung Türkei verlassen - nur 30.000 sind von dort eingewandert. Für die einen ist die Türkei, wie für Bülent, nur ein Land wie jedes andere. Für die anderen ist es ein lang gehegter Traum. So auch für den 40-jährigen Arda Sürel, der sich vom Nebentisch herüberbeugt.

    "Bei mir war's Zurückkommen. Ganz klar, es war ein Kindheitswunsch, den ich immer schon hatte. Ich war zwei, als wir nach Deutschland gezogen sind und seitdem ich mich erinnern kann, wollte ich zurück in die Türkei. Ich wollte nach Istanbul nicht in die Türkei, sondern nach Istanbul, meine Familie ist hier."

    Vor sechs Jahren packte Sürel in Deutschland seine Koffer und kam an den Bosporus. Sein Geld verdient er nun damit, dass er Deutschtürke ist: Sürel berät deutsche Firmen in der Türkei, erstellt für sie Marktanalysen, entwickelt Strategien für den türkischen Markt. Ein typisches Beispiel, meint Cigdem Akkaya, die den Stammtisch vor vier Jahren ins Leben gerufen hat.

    "Ich denke, dass qualifizierte Menschen aus Deutschland, die haben in der Türkei bessere Chancen als in Deutschland mit einem türkischen Namen. Das ist der Grund. Weil, wenn sie allein jetzt Berlin sich anschauen: Nirgendwo auf der Welt gibt's wahrscheinlich so viele Taxifahrer mit Universitätsdiplom, die türkischer Herkunft sind."

    Und so sind 90 Prozent der Deutschtürken, die sich einmal im Monat beim Istanbuler Rückkehrer-Stammtisch treffen, Akademiker, erzählt Akkaya. Beim ersten Treffen vor vier Jahren waren sie zwölf, beim Zweiten 15 - inzwischen sind etwa 750 Rückkehrer auf einer Onlineplattform vernetzt.
    "Also Netzwerke braucht man beim Zugang zum Arbeitsmarkt genauso wie in Deutschland auch in der Türkei. Aber diejenigen, die in Deutschland sind, die können auf Netzwerke in höher gestellten Bereichen nicht zurückgreifen, weil ihre Eltern Arbeitsmigranten sind, Gastarbeiter. Verglichen mit einem Arztkind zum Beispiel. Der kann viel schneller einen Praktikumsplatz finden oder auch dementsprechend seine berufliche Karriere vorbereiten, wenn die Eltern oder das Elternhaus das anbietet. Viele Migrantenkinder in Deutschland haben diese Möglichkeiten nicht."

    Was sich beim Rückkehrer-Stammtisch in Istanbul im Kleinen beobachten lässt, belegt eine Studie des Dortmunder Futureorg-Instituts: Demzufolge plant an deutschen Unis jeder dritte Studierende mit türkischen Wurzeln seine Karriere in der Türkei - nicht etwa in Deutschland. Vor allem die jungen, gut ausgebildeten Deutschtürken, die mindestens zwei Sprachen sprechen und in zwei Kulturen zuhause sind, kehren Deutschland den Rücken. Was ihnen in Deutschland zum Nachteil wird, ist in der Türkei ihr Kapital!