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"Wenn hier mit Gewalt gebaut wird, gibt es ein zweites Nordirland"

Heute auf den Tag genau ist es 35 Jahre her, dass sich der Widerstand gegen die Atomkraft formierte. In der badischen Gemeinde Wyhl sollte ein Atomkraftwerk entstehen. Seitdem ist aus den damals eher überschaubaren Protesten eine soziale Bewegung geworden.

Von Martin Kissel | 18.02.2010
    Am 17. Februar 1975 rücken die Baumaschinen an, nehmen der Natur zwei Hektar Wald und der Bevölkerung endgültig das Vertrauen in die Politik. Einen Tag später klettern die Menschen auf die Planierraupen, besetzen den Bauplatz. Tags darauf macht der damalige Ministerpräsident Hans Filbinger die Drahtzieher aus.

    "An diesen Aktionen hat sich eine beträchtliche Gruppe von Linksextremisten und Kommunisten aus allen Teilen des Bundesgebietes beteiligt."

    Filbinger hätte es besser wissen müssen, die Platzbesetzer sind überwiegend Einheimische. Konservative Winzer und Bauern – und zu allem bereit.

    "Wenn hier mit Gewalt gebaut wird, gibt es ein zweites Nordirland am Kaiserstuhl."

    Zu diesem Zeitpunkt hat die Bevölkerung der Politik schon längst das Vertrauen entzogen. Dieser Staat sei nicht mehr ihr Staat. Die Menschen in der Rheinaue holen sich "ihr Land" - wie sie es formulieren - zurück. Gewaltlos. Zwei Tage nach der Besetzung – am 20. Februar 1975 - räumt die Polizei unter massiver Gewaltanwendung den Platz. Die Besetzer sind außer sich vor Zorn.

    "Für uns paar Leutle. Des isch jo e Schande.
    Ja, unn was isch des, isch des keine Bevölkerung hier? Sind das nur...
    Sind das Radikale?
    Ja, Drahtzieher?
    Das sind doch keine Radikale!
    Das sind Bürger, die hier wohne müsse."

    Und auch die kirchlichen Vertreter auf dem Platz beziehen in bisher nicht bekannter Deutlichkeit Position.

    "Ich meine, die Distanz zwischen Regierung und Bevölkerung ist heute genauso groß wie im Dritten Reich. Wir haben hier keine Demokratie, sondern eine Demokratur. Und heute am 20.2. ist hier die Demokratur gestorben, jetzt haben wir eine Diktatur, bloß ganz rechts. Das sage ich als evangelischer Pfarrer."

    Sein Amtskollege Günter Richter war damals Pfarrer im benachbarten Weisweil, und auch er sah es als seine Pflicht an, den Menschen auf dem Platz beizustehen.

    "Ich bin der Meinung, dass ich auf der richtigen Seite stand, Christen müssen Stimme derer sein, die keine Stimme haben - ein Wort von Martin Luther King – und ich habe seinerzeit gemeint, als Hirte der Gemeinde nicht außerhalb, sondern mit der Gemeinde die Ängste zu tragen."

    Der Rückhalt durch die Kirchen und die Solidarität quer durch alle Bevölkerungsschichten schweißt die Menschen weiter zusammen. Bereits einen Tag nach der Räumung stehen rund 30.000 Demonstranten am Baugelände, das inzwischen mit Panzerdraht eingezäunt ist. Sie überwinden die Barrikade und errichten – jetzt von der Polizei unbehelligt - ein hölzernes Freundschaftshaus, gründen die "Volkshochschule Wyhler Wald". Das Haus wird kultureller Mittelpunkt der gesamten Region.

    " Jetzt kämpfen wir für uns selber in Wyhl und Marckolsheim, wir halten hier gemeinsam eine andere Wacht am Rhein."

    Bildungsabende finden statt zu Themen wie Umwelt- und Naturschutz, Kultur und Landwirtschaft. Die Menschen am Kaiserstuhl beginnen, das Verhältnis Mensch und Technik neu zu überdenken. In Stuttgart dagegen sieht Ministerpräsident Filbinger eine dunkle Zukunft heraufziehen.

    "Ich sage es in aller Offenheit, meine Damen und Herren, ohne das Kernkraftwerk Wyhl werden zum Ende des Jahrzehnts in Baden-Württemberg die ersten Lichter ausgehen."

    Es sind solche Polemiken, die die Situation immer wieder anheizen. Auch die Atomkraftgegner machen davon reichlich Gebrauch. Durch die Gemeinden am Kaiserstuhl geht ein tiefer Riss, dessen Folgen noch heute spürbar sind, findet der Gemeindeangestellte und Atomkraftgegner Meinrad Schwörer.

    "Ja, also man kommt wieder gut miteinander zurande. Ich muss allerdings sagen, die Spaltung ist im Untergrund noch vorhanden. Man bemüht sich, gut miteinander auszukommen."

    Die Zeit heilt alle Wunden, heißt es. Deshalb seien auch keine geblieben, sagt Meinrad Schwörer.

    "Wunden nicht, aber sicherlich verheilte Narben, ja."

    Das Ende der Geschichte ist bekannt. Weder gingen die Lichter aus, noch wurde das Land unregierbar, wie Ministerpräsident Filbinger damals prophezeit. 20 Jahre nach der Platzbesetzung erklärt die "Kernkraft Süd GmbH" ihren Verzicht auf den Standort Wyhl. Bis dahin gibt sie sich aber immer mal wieder gönnerhaft und lässt die Bevölkerung den vermeintlichen Wohlstand spüren, der gleichsam mit der Atomkraft im Wyhler Wald Einzug halten könnte. So ist etwa in der "Badischen Zeitung" vom 29. April 1986 zu lesen, dass die "Kernkraft Süd GmbH" der Gemeinde Wyhl einen Zuschuss von 600.000 Mark für den Bau einer Sporthalle gewähre. Direkt daneben, in einer Spalte, eine nur kurze Notiz: Die amtliche sowjetische Nachrichtenagentur TASS berichtet, dass sich nördlich von Kiew, in einem Atomkraftwerk der ukrainischen Stadt Tschernobyl, ein Unfall ereignet habe.