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Wenn in China ein Sack Reis umfällt

Eins ist klar: Es passiert nichts mehr auf der Welt, das uns nichts angeht. Das Atomunglück in Japan zeigt auf dramatische Weise die globale Tragweite lokaler Ereignisse. Publizist Burkhard Spinnen fragt nach den Auswirkungen globaler Vernetzung auf unser Bewusstsein.

Burkhard Spinnen im Gespräch mit Karin Fischer | 30.03.2011
    Karin Fischer: "Was geht es uns an, wenn in China ein Sack Reis umfällt?", lautete ein Sprichwort, das in den letzten Jahren definitiv aus der Mode gekommen ist, denn erst fielen in den USA ein paar Wertpapiere, was den größten Banken-Crash der jüngeren Geschichte auslöste, und jetzt fielen in Japan mehrere Reaktorblöcke aus, und das hat ein politisches Erdbeben in Baden-Württemberg ausgelöst, wie es so deutlich nicht erwartet wurde. Nicht nur alte Meiler, auch das Neubauprojekt Stuttgart 21 werden vorerst gestoppt. Was ist da passiert? Die Frage nach dieser neuen globalen Denke und ihren Ursachen ging vor der Sendung an den Schriftsteller und Publizisten Burkhard Spinnen.

    Burkhard Spinnen: Ja, was ist da passiert? Vielleicht sind wir in Deutschland momentan wieder mal Vorreiter. Es gibt ja dieses berühmte, mittlerweile berüchtigte Wort von der "German Angst", mit der wir anderswo auf dem Planeten ein bisschen belächelt werden, aber ich glaube, dass ist ein Anzeichen dafür, dass wir das, was Globalisierung tatsächlich einmal bedeuten wird, hier offenbar sehr früh spüren und sehr früh realisieren. Ich glaube, Deutschland ist momentan eines der Länder, die am sensibelsten auf globale Themen reagieren. Und es ist ja eine ungeheuere Sache, dass eine Landtagswahl entschieden wird durch ein Ereignis, das sich nun definitiv am anderen Ende der Welt abgespielt hat.

    Fischer: Aber wenn Sie von "German Angst" sprechen, dann bedeutet das ja auch auf der anderen Seite so eine kleine Hysterisierung dieser Gesellschaft. Wir erinnern uns, dass in Deutschland mehr Jodtabletten verkauft wurden als in Japan in den letzten Wochen. Wie wird das sozusagen in vernünftige Politik umgesetzt, wie es ja jetzt in Baden-Württemberg geschehen soll?

    Spinnen: Das ist die Frage, ob das überhaupt in das umgesetzt werden wird, was wir natürlich jetzt aus dem Rückblick auf die letzten 50, 60 Jahre Politik und Geschichte "vernünftig" nennen. Durchaus möglich ist, dass das, was in den nächsten Jahrzehnten sich abspielen wird, nach Maßgabe der jetzigen Definitionen unvernünftig sein wird, zum Beispiel die gewaltigen Wählerwanderungen, das Zusammenbrechen der Volksparteien, das Zusammenbrechen von Ideologien, die einen Menschen seit seiner Geburt, seit seiner Sozialisation bis an sein Lebensende tragen können. Das kann durchaus abgelöst werden durch andere, wesentlich kurzfristigere Entscheidungswege, durch wesentlich schwächere innere Denkgebäude, die den Menschen ansonsten stützen können.

    Fischer: Lassen Sie uns noch mal auf die Globalisierung zu sprechen kommen. Die Generation unserer Mütter kannte nach eigenem Bekunden nach dem Krieg Frankreich und dann kam irgendwann Italien dazu, weil man dahin ab dem 60er-Jahren vielleicht mal in den Urlaub fuhr. Den Unterschied dazu macht natürlich auch unsere heutige globale mediale Vernetztheit. Heute wissen schon Schulkinder mehr über Afghanistan und Ägypten als wir vor 30 Jahren. Was sind Ihrer Ansicht nach die Ursachen für diese neue Art der globalen Denke?

    Spinnen: Ja, die Frage ist, ob sie etwas über Afghanistan wissen. Die Frage ist natürlich auch, ob die Touristen des Wirtschaftswunders etwas über Italien gewusst haben. Ich glaube, man weiß immer das, was man als inneres Gedankengebäude sich zurecht schraubt. Das spielt sich aber im Kopf mehr ab wie ein großes globales Videospiel und ist völlig losgelöst mittlerweile, oder sagen wir sehr, sehr weitgehend losgelöst von analogen Erfahrungen. Man hört immer wieder - ich habe selber die Erfahrung vor einigen Monaten gemacht - wenn Leute aus bestimmten Ländern zurückkommen, über die viel geredet wird, dass sie sagen, nun ja, so genau weiß ich es nicht, ich habe ja dies und das gesehen, das andere habe ich vielleicht nicht gesehen und so weiter.

    Es ist ein globales Sprechen, es ist ein globaler Diskurs entbrannt, in dem das, was irgendwo passiert, Teil einer Gesamtvorstellung von dem Leben auf diesem Planeten wird. Das hat mit diesen altmodischen Expeditionen des 19. Jahrhunderts und auch noch mit dem Abenteuer- oder Erlebnis- oder Bildungstourismus der 60er-, 70er-Jahre nichts mehr zu tun.

    Fischer: Aber wie wird sich das weiter entwickeln? Werden wir alle zu globalen Weltbürgern werden, die immer im Kopf die Verantwortung sozusagen für die entferntesten Dinge mitübernehmen, oder müssen wir – und das ist ja auch eine Konsequenz aus dieser Katastrophe, die wir gerade erleben, die jetzt immer betont wird -, müssen wir lokal vor Ort alles anders machen und zum Beispiel endlich das Auto und die Flugreisen abschaffen?

    Spinnen: Jetzt sprechen Sie die ganz große Aufgabe dieses Jahrhunderts an. Einerseits ist klar: Es passiert nichts mehr auf der Welt, das uns nichts angeht. Und dennoch – Sie sagen das völlig richtig – ist alles, was man ändern kann, das, was vor der eigenen Haustür ist. Man könnte zum Beispiel, um ganz konkret zu werden, mit Fug und Recht sagen, die deutschen Atomkraftwerke sind doch bestimmt immer noch besser als der Durchschnitt der Atomkraftwerke, die auf der Welt rumstehen. Sollen wir erst mal die ganz Alten und die ganz schlecht Gewarteten und so weiter abstellen. Nein! Es muss ein Land mit eigentlich einer Hightech-Mentalität vorangehen, wir hier, um solche Zeichen, globale Zeichen zu setzen, damit auch anderswo das entsprechende Bewusstsein entsteht und die in der Tat ja wahrscheinlich noch viel schlechteren Meiler abgeschaltet werden.

    Fischer: Burkhard Spinnen war das über den mentalitätsgeschichtlichen Wandel, den die Menschheit gerade aktuell zum Thema Globalisierung durchläuft.