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"Wenn man jetzt zurückzieht, dann ist nichts gewonnen"

Karin Fischer: Klaus-Dieter Lehmann, die chinesische Führung hat mit der Verhaftung von Ai Weiwei nicht nur Deutschland brüskiert, sondern auch eine vehemente kulturpolitische Debatte ausgelöst, über die Grenzen des kulturpolitischen Engagements im Umgang mit diktatorischen Regimen. Waren die drei Direktoren der größten und potentesten Museen Deutschlands, Michael Eissenhauer, Martin Roth und Klaus Schrenk zu blauäugig, als sie ihre Aufklärungsausstellung für China planten?

Klaus-Dieter Lehmann im Gespräch mit Karin Fischer | 17.04.2011
    Klaus-Dieter Lehmann: Ich glaube schon, dass sie den Eindruck vermitteln wollten, dass sie eine Kunstausstellung machen und es auch auf die Kunstausstellung beschränken wollten. Aber wer einen solch ambitionierten Begriff wie "Aufklärung" im Titel führt, muss eine Erwartungshaltung auch in China erwarten, die auch mit den Inhalten einhergeht. Das heißt, eine Botschaft ist durchaus mit dieser Ausstellung in der Erwartung verbunden gewesen und der hat man sich nicht gestellt. Ich habe ja selbst in dem ersten Forum erlebt, mit welchen verbindlichen Floskeln und Begriffen wie Freundschaft und Völkerverständigung gearbeitet wurde. Und da saßen junge Chinesen mit einer hohen Erwartung, die natürlich auch eine Botschaft haben wollten.

    Fischer: War es komplett naiv zu glauben, man könne mitten in Peking, auf dem Platz des himmlischen Friedens, der ja symbolträchtig ist auch in Hinsicht auf Gewalt, in einem Repräsentationsbau, der genau das auch sein soll und im Übrigen von deutschen Architekten gebaut wurde, nur Kunst ausstellen? Das klingt in meinen Ohren etwa so falsch, als ob man im Vorfeld behauptet hätte, tatsächlich etwas bewirken zu wollen, also eine Art Kulturdialog um Werte führen zu wollen.

    Lehmann: Also den Eindruck musste man gewinnen. Die Ausstellung selber ist ja keine schlechte Ausstellung. Sie ist gut kuratiert, aber sie hat natürlich eine Zusammenstellung, die auch den Kontext notwendig machte. Das heißt, die Bilder alleine, die Ikonografie alleine, teilt sich nicht mit. Es muss ein Kontext geschaffen werden, und deshalb war ja auch und ist nach wie vor die Veranstaltung, die Mercator macht über das gesamte Jahr in Foren und in entsprechenden Salons. Das ist ein integraler Bestandteil, und ohne diese Vermittlung und zwar in die Breite, ist diese Ausstellung für Chinesen eher ein Exotismus als wirklich ein thematisch bezogener Ausstellungssektor.

    Fischer: Wir hören auch, dass genau dieses theoretische Umfeld gelenkt erscheint. Dass auch dort keine kritischen Fragen gestellt wurden. Und wir haben erfahren, dass die Rahmenbedingungen schon bei der Pressekonferenz ja nicht anders als totalitär zu nennen sind. Die ARD-Korrespondentin in Peking ist im Vorfeld von der Sicherheitspolizei, der chinesischen, eingeschüchtert worden. Die aus Deutschland mitreisenden Journalisten, die auf Kosten von BMW angereist sind, haben nur ein Touristen-Visum bekommen. Das heißt, sie hätten nicht mit Mikrofon und Aufnahmegerät dort arbeiten können. Man muss sagen, das war etwas wie "embedded journalism". Kann man sich das leisten, als deutsches Auswärtiges Amt, das immerhin zehn Millionen beigeschossen hat?

    Lehmann: Das ist schon eine stolze Summe, und damit sollte auch schon etwas erreicht werden. Aber um was es mir geht: Die Einschüchterung wäre ja überhaupt nicht möglich gewesen, wenn einer dieser drei Museumsdirektoren, auf der Bühne sitzend, eine klare Position bezogen hätte. Niemand hätte dort das Mikrofon ausschalten können. Und ich hab ja auch die Erwartungshaltung gespürt. Ich saß also zwischen den jungen Chinesen, die auch sehr gut Bescheid wissen. Und insofern war auch eine Irritation zu spüren, als überhaupt keine inhaltliche Position bezogen worden ist, sondern tatsächlich nur freundschaftliche Parolen ausgetauscht wurden. Es stand in einer Zeitung, Lackner hat das glaube ich gesagt, das war eigentlich eher ein Funktionärsdeutsch als ein Deutsch der Museumsleute.

    Fischer: Wie stehen Sie zu der Forderung, die auch in dieser Woche wieder erhoben worden ist, man solle die Ausstellung zurückziehen?

    Lehmann: Dagegen bin ich, das muss ich ganz offen sagen. Ich bin ein großer Verfechter von Möglichkeiten, auch in schwierigen Ländern kulturell aufzutreten. Das betrifft Ausstellungen, das betrifft auch andere Veranstaltungen. Wenn man jetzt zurückzieht, dann ist nichts gewonnen. Ich denke, dass ein Jahr Laufzeit durchaus Chancen bietet. Man muss gut aufpassen, dass das, was jetzt alles passiert ist, berücksichtigt wird und dass die Veranstalter der entsprechenden Diskussionsforen so klug und so geistreich sind, dass sie den Diskussionsstoff auch wirklich in der Hand behalten. Wenn das nicht funktioniert, dann sollte man durchaus auch die Zensurmittel, die der Staat anwendet, offen legen. Denn nichts scheut ein solcher Staat mehr, als wenn man über die Praktiken in der Öffentlichkeit berichtet.

    Fischer: Jetzt sind wir bei dem Thema, das derzeit auch wieder in aller Munde ist, nämlich "Wandel durch Annäherung". Ein sehr, sehr alter Begriff. Dirk Sager vom deutschen P.E.N.-Zentrum sagt, wir haben auf der Welt zwei hoffnungslose Fälle: Der eine ist China, der andere ist Iran. Und man kann eigentlich nicht sagen, wir hätten es nicht gewusst. Es gab genau dieselbe Argumentation vor den Olympischen Spielen in Peking. Regimegegner wurden massenhaft verhaftet, danach änderte sich nichts. Man bekam das nächste hässliche Gesicht Chinas aus Anlass der Frankfurter Buchmesse gezeigt, wo sich die offizielle Delegation jede Einmischung und jede politische Anspielung verbeten hat. Dann kam der Friedensnobelpreis an den Schriftsteller Liu Xiabo, und spätestens dann hätte man vielleicht sogar eine Reißlinie ziehen sollen oder können.

    Lehmann: Der Begriff "Wandel durch Annäherung" gefällt mir nicht, denn die Kultur ist letztlich nicht das Instrument, in dem man Wandel durch Annäherung macht. Kultur ist etwas Eigenständiges und etwas Eigenwilliges. Deshalb ist Kulturdialog für mich auch immer, das eigene Profil zu zeigen, die eigene Position zu formulieren. Ich glaube nicht, dass wir einen multikulturellen Prozess in Gang bringen wollen damit. Es geht eher darum, dass man andere Sichtweisen kennenlernt und dass man die Fantasie anregt. Dass man über Dinge nachdenkt. Das ist eigentlich der Ansatz. Meine ganze Arbeit als Präsident des Goethe-Instituts würde konterkariert werden, wenn ich nicht Hoffnung hätte. Ich habe bei China Hoffnung und auch beim Iran. Nur machen wir andere Formate: Wir machen eben nicht die großen Prunkeinsätze, sondern kleinere Formen. Es sind die Mühen der Ebene, aber da haben wir durchaus Erfolge. Die Ausstellungen, die wir in China gemacht haben, ob das nun das Kulturquartier 798 waren oder andere, waren interessante, sehenswerte Dinge, wo wir Leute erreicht haben. Der ganze arabische Raum ist durch eine sehr, sehr intensive Arbeit auch genau in diesen Bereichen gekennzeichnet. Wir haben dort Kulturakteure ausgebildet. Da waren wir eher Ermöglicher, damit die Talente, die in diesen Ländern keine Chance hatten, sich zu zeigen, Instrumente und Fertigkeiten bekamen. Da sehe ich einen ganz großen, wichtigen Ansatz, dass man Kultur in Ländern verfestigt, Strukturen schafft, Dialogmöglichkeiten bringt. Das ist der Hauptpunkt und da sehe ich große Hoffnung.

    Fischer: Also ich bin jetzt auch nicht davon ausgegangen, dass Sie ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die in solchen schwierigen Ländern arbeiten, sagen: Wir heißen Goethe, wir sind die Guten. Aber vielleicht können Sie es noch mal konkret an ein paar Beispielen erläutern, was man bei Goethe so vor sich hat, also bei den Instituten. Mit welchen Schwierigkeiten gekämpft werden muss, welche Sprachregelungen eventuell zu beachten sind, was dann am Ende doch geht oder eben vielleicht auch nicht.

    Lehmann: Also zunächst würde ich als Grundhaltung bei Goethe sagen, wir gehen nicht bei jedem ersten Affront gleich raus und schließen. Das wäre falsch. Ich gebe ein paar Beispiele. Wir gehen in Filmen oft an die Grenzen dessen, was Zensur ermöglicht. Zum Beispiel "Das Leben der Anderen" enthält eine ganze Reihe von Anspielungen, die in vielen Ländern nicht akzeptiert werden. Dann bauen wir entweder das Ganze in ein Filmfestival ein, sodass es neutralisiert und von der Zensur gar nicht so erkannt wird. Oder wir tun uns mit einem Land zusammen, das ein Verbündeter des kritischen Landes ist, um damit zu entschärfen und in diesem Land arbeiten zu können. Noch ein Beispiel: Korruption ist in vielen Ländern ein Unwort, es darf überhaupt nicht thematisiert werden. Wir haben eine Reihe gemacht, die über Korruption ging, sie hieß aber anders, sie hieß wachstumshemmende Faktoren in aufstrebenden Volkswirtschaften. Ist wunderbar gelaufen, wir hatten ein volles Haus.

    Fischer: Wo war das?

    Lehmann: Das war im arabischen Raum. Ich möchte jetzt das Land nicht nennen, weil das noch in einer Situation ist, wo wir unsere eigenen Leute gefährden würden, wenn ich das nennen würde. Aber es zeigt ganz deutlich, dass man Sprachregelungen sehr kreativ handhaben kann, um solche Möglichkeiten zu haben. Der zweite Punkt ist, wir wollen bewusst den Künstlern und auch den Kulturleuten Chancen geben, ihre eigenen Möglichkeiten auch wirklich in die Öffentlichkeit zu bringen. Wir haben beispielsweise in Kairo in den letzten drei Jahren Kurzfilmer und Dokumentarfilmer ausgebildet. Viele Filme, die sie gesehen haben im Internet, sind aus dieser Schule des Goethe-Instituts gekommen, und wir werden im Mai in Berlin ein Filmfestival machen mit den Filmen, die Geschichte gemacht haben. Das heißt, wir haben keine Inhalte vorgegeben. Aber wir haben ermöglicht, dass es Menschen gibt, die mit den neuen Instrumenten als Videojournalisten umgehen, oder als Theaterleute, als Verleger, und damit haben wir plötzlich in der Zivilgesellschaft eine Struktur, mit der wir arbeiten können.

    Fischer: Bei der Pressekonferenz zur Aufklärungsausstellung in Peking wurden kritische Fragen ausgebuht, aber nicht von chinesischen Parteigenossen, sondern von Menschen aus der deutschen Wirtschaftsdelegation. Wie wichtig sind für Ihre Arbeit Wirtschaftsbeziehungen, die die Bundesregierung ja in anderen Ländern knüpft? Wie viel Rücksicht müssen Sie nehmen, wenn es um die Formulierung unangenehmer Wahrheiten geht, und wie ungut ist das Gefühl, das man als Kulturmann dabei hat?

    Lehmann: Also über diese Entwicklung bin ich persönlich sehr unglücklich, weil das Goethe-Institut in einer ganzen Reihe von Ländern mit der Wirtschaft zusammenarbeitet, aber mit ganz anderen Vorzeichen. Wir haben als Goethe-Institut darauf geachtet, dass wir unsere Qualitäten, nämlich die interkulturelle Kompetenz, als große Stärke einbringen und die Wirtschaft ihre Qualitäten. Das heißt, wir lassen uns nicht instrumentalisieren, aber wir nutzen durchaus ein Deutschlandbild in seiner Gesamtheit. Wir haben drei Jahre in China ein Deutschlandjahr gemacht, wo wir durch die großen Megastädte der Provinz gereist sind, und wir hatten ein Millionenpublikum. Und dort haben wir durchaus auch von der Zensur Chinas entsprechende Erwartungen formuliert bekommen, die wir aber dann aushandeln konnten, dass sie so nicht eingetreten sind. Da hat die Wirtschaft immer an unserer Seite gestanden. Das war genau diese Möglichkeit, dass das Selbstbewusstsein der Wirtschaft und das Selbstbewusstsein der Kultur hier für sich genommen eine große Stärke war. Deshalb bin ich jetzt über diese unglücklichen Sätze, die auch Martin Roth gesagt hat, über die Abhängigkeit der Kultur von der Wirtschaft so entsetzt, weil das das Schlimmste wäre, was uns passieren kann. Die Kultur ist derzeit noch ein unabhängiger Raum, und diesen unabhängigen Raum muss man mit allen Mitteln verteidigen. Sonst kann man Kultur nicht einsetzen, um Dialoge in schwierigen Ländern überhaupt anzustoßen.

    Fischer: Die Kultur ist ein unabhängiger Raum. Viele Kommentatoren haben ja darauf verwiesen, dass der Künstler Ai Weiwei genau diese Werte verkörpert, die der Westen mit seiner Aufklärungsschau nach China, wenn auch indirekt, exportiert hat, nämlich den Ausgang aus der selbst verschuldeten Unmündigkeit. Er gilt als eine Art Joseph Beuys unserer Tage. Er ist sehr politisch. Er hat recherchiert, warum bei einem Erdbeben so viele Kinder sterben mussten: weil wegen Korruption die Schulbauten schlecht waren und über ihnen zusammengebrochen sind. Dafür ist er brutal zusammengeschlagen worden. Ich muss Sie noch mal fragen, Klaus-Dieter Lehmann, welche Rolle soll die Kultur spielen? Hat sie nicht die Aufgabe in jedem Fall auch widerständig zu sein und in keinem Fall affirmativ? Auch wenn das Wort widerständig zumindest in unserer Gesellschaft ein bisschen aus der Mode gekommen ist?

    Lehmann: Ja, das glaube ich ganz sicher. Ich glaube, dass die Kultur und insbesondere die Kunst die Aufgabe, das Mandat hat, zu einer Zeit Dinge zu benennen, wo sie in der Gesellschaft noch gar nicht in dieser Weise formuliert sind oder wo sie auch tabuisiert sind. Viele gesellschaftliche Entwicklungen, die wir in den letzten Jahrzehnten hatten, sind über die Kunst enttabuisiert worden. Das gilt für die Erinnerungskultur, wo wir in Deutschland ja nun wirklich viel Erfahrung haben und auch viel wieder gut zu machen hatten. Es gilt aber auch für Entwicklungen, wie sie Ai Weiwei wirklich in einer Weise bestreitet, die ich großartig finde. Etwa das Beispiel, das Sie genannt hatten mit den Erdbeben und den Kindern. Es war ja zwar die Zahl mit den Erdbebenopfern bekannt, aber was Ai Weiwei gegeben hat, war, die Namen dieser Kinder mit dieser Zahl zu verbinden. Das heißt, er hat den Kindern wieder ein Gesicht gegeben und nicht nur eine Katastrophenzahl. Das Menschliche, was die Kunst in dieser Weise verkörpert, das ist so ein entscheidender Punkt. Wenn Sie mal bedenken, die deutschen Künstler: Warum ist ein Neo Rauch oder ein Baselitz in der Welt so interessant geworden? Weil sie sich mit Regimen auseinandergesetzt haben. Baselitz und Rauch wären ohne die totalitären Regime in dieser Weise gar nicht künstlerisch in ihren Themen geprägt worden. Also insofern ist Kunst ein ganz entscheidender Bereich mit einer politischen Kraft. Nicht im Sinne von parteipolitisch, sondern wirklich aus einer individuellen Form, die genau das ausmacht, was Aufklärung auch ausmachen soll: Das Individuum in seiner Verantwortlichkeit - und der Künstler hat hier eine Verantwortung für die Gesellschaft und die gesellschaftliche Entwicklung.

    Fischer: Das ist ein sehr interessanter Gedanke, Herr Lehmann, dass das totalitäre Regime, sozusagen die widerständige Kunst erst ermöglicht. Ich habe dazu ein kleines Detail aus der vergangenen Woche: China hat die Vorwürfe und Mahnungen des Westens wegen dieser Menschenrechtsverletzungen nicht nur zurückgewiesen, sondern es hat den Spieß einfach umgedreht und sie zurückgegeben. Die US-Regierung, so hieß es am Wochenende, solle besser vor der eigenen Haustür kehren, die Gesellschaft der USA sei von Kriminalität, Armut, Rassismus und sexueller Diskriminierung gezeichnet, und man vergisst nicht, die Folterung von Staatsfeinden zu erwähnen. Aus chinesischer Sicht muss man sagen, ist das relativ plausibel. Sind wir da blind, oder reicht es sozusagen, die Guten zu sein, in dem man in einer Demokratie lebt?

    Lehmann: Wir sind nicht die Guten. Das heißt, wir haben in der Demokratie genauso unsere Verwerfungen, und schauen Sie sich unser Europa an. Ob das die Diskussionen um Berlusconi sind oder andere Dinge, die uns ins Haus stehen (Fischer: Der Nationalismus in Osteuropa), der Nationalismus in Osteuropa, die Auseinandersetzungen in Südosteuropa, und, und, und. Das heißt, die Guten und die Schlechten werden nicht dadurch unterschieden, indem sie in bestimmten Staatsformen leben, und wir wissen auch, wie die Waffenlieferungen in die afrikanischen Staaten kommen. All das sind Dinge, wo wir tatsächlich vor unserer eigenen Haustür kehren müssen. Nur: Menschenrechtskonventionen sind eben nicht verhandelbar, und man kann nicht Unrecht mit Unrecht quasi dann wieder aufheben oder kompensieren. Darum geht es, wenn Künstler in diesen entsprechenden Ländern mit unterschiedlichen Anforderungen und auch Drucksituationen dann fertig werden, dann muss das besonders hoch angerechnet werden.

    Fischer: Aber Boykott ist für sie und vielleicht ja auch, weil wir alle so global vernetzt sind, und grundsätzlich im 21. Jahrhundert keine Option mehr. Im 20. Jahrhundert gab es den ja mehrfach, zum Beispiel bei den Olympischen Spielen.

    Lehmann: Also ein kultureller Boykott, den würde ich in keinem Fall akzeptieren, weil ich tatsächlich der Kultur einiges zutraue. Was der Politik mit ihrem formalisierten Instrumentarium oder auch der Wirtschaft mit ihrem deutlichen Eigeninteresse nicht zugetraut werden kann, da hat die Kunst tatsächlich eine Möglichkeit, Prozesse zu initiieren, die anders in der Weise gar nicht möglich wären, und die Kunst hat immer auch die Chance, Alternativen aufzuzeigen. Mir ist klar, der Kulturdialog ist kein Allheilmittel, aber der Kulturdialog kann durchaus helfen, wenn er ernsthaft und fair und offen geführt wird. Auch mit der eigenen Profilierung, dass dann solche Dinge wirklich hilfreich sein können, und darauf kommt es mir an, und deshalb würde ich einen kulturellen Boykott immer als eine ganz schwierige Sache ansehen.

    Fischer: Aber müssen Sie nicht auch manchmal Grenzen setzen? Gibt es diese Situationen, wo ihre Mitarbeiter sagen müssen zu einem Vertreter der Regierung: "Bis hier hin und nicht weiter oder wir machen dieses und jenes Projekt nicht, wir können das dann nicht umsetzen". Oder ist ihre Arbeit geprägt hauptsächlich von Kompromissen?

    Lehmann: Nein, überhaupt nicht von Kompromissen. Das würde ich also ganz deutlich zurückweisen. Das sind einfach Lesarten, die wir innerhalb unserer eigenen Spielräume uns gesetzt haben. Wir haben beispielsweise, das wissen Sie auch, in Nordkorea den Lesesaal geschlossen. Warum? Wir hatten einen über mehrere Jahre laufenden Vertrag, in dem eindeutig drin stand "Keine Medienauswahl durch Nordkorea, sondern unsere eigene" und: "Freier Zutritt der Nordkoreaner". Beides wurde nicht eingehalten, die Konsequenz war Schließung in Nordkorea. Das Zweite: Wir haben etwa in China mit dem "Kunstquartier 798" eine Ausstellung gemacht. Da sollten zwei Werke von Lewandowsky rausgenommen werden. Es wäre eine amputierte Ausstellung gewesen, wir haben lange verhandelt und haben uns dann entschlossen, diese Ausstellung nicht zu machen. Das heißt also immer dann, wenn wir in unserer eigenen freien Gestaltung und Medienauswahl eingeschränkt werden, bei dem, was wir in unseren eigenen Räumlichkeiten zeigen, oder wenn Besucher selektiert werden nach Regimefreundlichen und Regimefeindlichen, dann ist für uns eine Grenze des Tragbaren erreicht.

    Fischer: Sie haben von der interkulturellen Kompetenz vorher gesprochen und das betrifft ja nun auch beide Seiten. Ich möchte den Fokus noch mal etwas weiten und Sie fragen: Stellen Sie manchmal fest, dass wir im Westen zu hochnäsig sind, zum Beispiel den Werten der anderen gegenüber? Also was für eine Rolle spielt sozusagen der Neokolonialismus in unseren Köpfen und die Tatsache, dass wir wissen, dass wir die beste Verfassung aller Zeiten haben und diese auch gerne exportieren und die Werte der Aufklärung, Meinungsfreiheit, Menschenrechte usw. doch eigentlich der ganzen Welt gehören sollten.

    Lehmann: Also ich glaube schon, dass in Europa, auch in Deutschland, noch immer ein deutliches eurozentrisches Denken vorhanden ist. Das kann man nicht bestreiten. Ich würde für das Goethe-Institut, obwohl ich jetzt nicht von den Guten reden will, vielleicht doch eines sagen, was für uns tatsächlich wegweisend war. Da gibt es einen Satz, der ist 1970 glaube ich von Ralf Dahrendorf formuliert worden, der hieß: "Was wir geben, ist nur soviel wert, wie unsere Bereitschaft zu nehmen. Offenheit für andere ist daher ein Prinzip unserer auswärtigen Kulturpolitik." Also da ist genau das angelegt, was wir sein wollen, nämlich eine Lerngemeinschaft. Und diese Gleichwertigkeit und diese Dialoge werden bei den Goethe-Instituten tatsächlich praktiziert. Ich möchte mir auch wünschen, dass vieles von der Arbeit, die draußen gemacht wird, auch mit diesen Nuancen, die wir in unserem Interview besprochen haben, noch stärker in Deutschland bekannt wird, damit ein Teil dieser Arroganz oder Ignoranz gemindert wird.

    Fischer: Noch mal ganz kurz zur allgemeinen Weltlage: Sie betreiben ja ein Netz von Goethe-Instituten und sind damit auch in jenen Ländern vor Ort, in denen jetzt gerade das Machtgefüge bröckelt. Und es liegt ja auch ein gewisser Schmerz darin, auch für uns Intellektuelle, dass niemand diese Entwicklungen in Nordafrika so vorhersehen konnte. Sind wir zu saturiert und auch zu sehr mit unseren eigenen Problemen beschäftigt, jetzt mal abgesehen von der Katastrophe in Japan, um uns noch mit dem Schicksal der Menschen in anderen Teilen der Welt solidarisch zu erklären?

    Lehmann: Wir sind schon sehr auf uns bezogen und ich glaube, es verwirrt uns auch, dass wir jeden Tag neue Schreckensmeldungen aus der Welt hören. Das führt dazu, dass man sich zurückzieht. Aber es ist schon erstaunlich, dass die Intellektuellen Deutschlands nicht sehr viel eindeutiger Positionen beziehen, denn gerade, was sie zu Maghreb und dem Nahen Osten sagen ... Das ist ja gerade eine Entwicklung, die für uns derart neu und überraschend gut ist! Dass hier keine Ideologien auftauchen, dass hier kein Islamismus auftaucht, sondern junge, kulturelle Intellektuelle... das ist eine wunderbare Möglichkeit, wirklich gemeinsam eine Chance zu suchen. Denn es ist klar: Sie wollen sich nicht als verlorene Generation begreifen und wollen die Chancen suchen. Das bedeutet also, dass wir hier erst mal eine Individualisierung sehen, die durchaus auch unserem Denken entspricht. Wir haben als Goethe-Institut in letzter Zeit viele Briefe aus dem Raum bekommen - wenn man die Briefe sieht, und sieht, wie stark die Kultur von diesen Menschen als ein Faktor empfunden wird, der diese Entwicklung überhaupt erst so möglich gemacht hat, dann denkt man: Mein Gott, warum sind die Kulturleute nicht offensiver in diesem Bereich? Es hilft diesen Menschen ungemein, und ich glaube, dass auch in solchen harten Zeiten über Theater, über Film, über all diese wunderbaren Dinge nachgedacht werden kann, weil Kultur auch eine Waffe sein kann.

    Fischer: Das heißt aber, Klaus-Dieter Lehmann, sie haben schon das Gefühl, dass sie als Goethe-Institut diesen Prozess mit befördert haben?

    Lehmann: Ja, das nehmen wir für uns in Anspruch. Auch wenn wir nur eine flankierende Möglichkeit hatten. Aber wir hatten wirklich diese Community um unsere Institute. Das Institut in Kairo ist auch nur fünfzig Meter vom Tahrir-Platz entfernt. Ja, wir haben das durchaus in der Weise gefördert, weil wir zivilgesellschaftliche Strukturen fördern. Das Goethe-Institut ist politischer geworden und ich glaube zu Recht.