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Wenn Menschen eine Meute bilden

Der englische Schriftsteller Kevin Brooks blickt auf eine vielfältige Berufskarriere zurück. Er war Krematoriumsarbeiter, Punkmusiker, Sachbearbeiter in der Beschwerdestelle einer englischen Bahngesellschaft und vieles mehr, bevor er zum Liebling der Jugendbuch-Preisjuries in Europa und Amerika wurde. Sein zweiter Roman "Lucas" handelt vom Mob in einer abgelegenen englischen Gemeinde, der einen fremden Jungen zu Tode hetzt.

Von Brigitte Neumann | 17.09.2005
    Als die 15-jährige Caitlin ihn das erste Mal sah, durchfuhr sie ein gänzlich unbekanntes Gefühl, eine Art schmerzlich-süßer Erschütterung, die man wohl erste Liebe nennt.

    Was sie vom Auto ihres Vaters aus sah, war ...

    eine grün gekleidete Gestalt, die im flimmernden Dunst der Hitze den Damm entlang trottete; eine schmächtige, zerlumpte Person mit einem Wuschelkopf aus strohblondem Haar und einer Art zu gehen, als würde er der Luft Geheimnisse zuflüstern.

    Aber die meisten Leute aus dem Dorf sehen Lucas ganz anders. Für sie ist er ein Zigeuner, ein Herumtreiber. Besonders die Jugendlichen fühlen sich von seiner Anwesenheit provoziert. Bislang fanden sie Vergnügen daran, mit Vatis Auto über die Straßen der kleinen Insel vor der englischen Küste, Hale Island, zu rasen, sich ins Fast-Koma zu trinken und mit ihren Sexabenteuern aufzuschneiden. Seit der fremde Junge auf der Insel ist, haben sie einen neuen Spaß gefunden: Menschenjagd.

    "Das ist unsere Insel", sagt Jamie. "Unser Zuhause... man lässt doch keine Scheiße ins eigene Heim, oder? Die hält man sich doch schön vom Leib - oder?"

    Kevin Brooks, ein Mittvierziger, der in Großbritannien inzwischen zu den arrivierten Autoren für Jugendbücher zählt, wurde von Barry Cunningham entdeckt, dem Verleger, der auch als Erster Joanne K. Rowling unter Vertrag nahm. Brooks, der Ex-Punk mit dem kahlen Schädel, schreibt allerdings ganz andere Geschichten. Seine Storys, darauf legt er Wert, spielen in der Wirklichkeit. Und handeln von Dingen, die wirklich so geschehen könnten. In seinem neuen Roman "Lucas" schreibt er über den Abscheu der Mehrheit vor dem, der sich unterscheidet. Und über die tödliche Macht eines kollektiven Hassgefühls. Kevin Brooks:

    "Das ist ein tief verwurzelter menschlicher sowie animalischer Instinkt und gleichzeitig der Grund vieler gesellschaftlicher Probleme. Ich weiß wovon ich rede, denn ich habe so etwas am eigenen Leib erlebt. Ich komme aus Exeter, einem ländlichen Städtchen im Südwesten Englands. Es gibt eine Menge abgeschotteter Gemeinden dort. Und die Menschen dort sind misstrauisch gegenüber Fremden und Leuten, die irgendwie anders sind. Ich war ein Punk mit 16 und die Dorfjugend liebte es, mich zu jagen und zu verprügeln. Hass auf Andersartige ist ein vorsintflutlicher sozialer Instinkt, kein individuelles Gefühl. Deshalb tritt er auch nur dort auf, wo die soziale Kontrolle noch intakt ist."

    Kevin Brooks’ Roman Lucas erinnert an Musils "Zögling Törleß" und er liest sich - besonders wegen der fein ziselierten Beschreibungen menschlichen Rachewahns - wie eine erzählerische Illustration zu Canettis Analyse "Masse und Macht". Auf die Frage, ob er mit seiner Geschichte über die Hatz auf den sanften Außenseiter den Ausbruch einer kleinen faschistischen Raserei beschreiben wollte, sagt Kevin Brooks:

    " Als ich an "Lucas" schrieb, beschäftigten sich die Medien gerade ausgiebig mit einigen Fällen von Pädophilie. Konkret ging es darum, ob die Adressen entlassener Straftäter öffentlich gemacht werden sollten. Dieses Thema beschäftigte ganz England, aber besonders in ländlichen Gebieten kamen Gruppen - von zumeist Frauen übrigens - zusammen, die aufgeregt durch die Gegend liefen und jede Menge Kinderschänder enttarnten. Darunter war ein Mann, an dessen Tür stand als Berufsbezeichnung "Pediatrition", also Kinderarzt. Weil das Wort so ähnlich aussieht wie "pedophile" haben sie ihm die Fenster eingeworfen und die Türen beschmiert."
    "Diese Leute sind wahrscheinlich ganz normale Mütter und Hausfrauen. Sie kommen zusammen, ein Wort gibt das andere, die Gruppe wird größer, sie wird zum Mob und dann Gnade ihrem Opfer. Denn der Mob kennt keine Vernunft. Er hat keine Kontrolle über sich."

    "Und das ist genau das, was im Faschismus passiert. Faschismus gedeiht auf dieser Mob-Mentalität. Wenn einer die Menschen soweit kriegt, eine Meute zu bilden, kann er diese Macht benutzen, um sonst wohin zu kommen. Aber das war schon immer so und wird auch so bleiben."

    Und es ist nicht so, dass Kevin Brooks seinen Lesern solche Einsichten vorenthalten würde. Er liebt kleine philosophische Exkurse. Über die Liebe, das Verlassenwerden, den Tod, die Einsamkeit.

    "Philosophie ist das, worüber wir nachdenken, wenn wir Kinder sind. Und als Erwachsene hören wir auf damit, weil wir keine Antworten finden."

    Alles, was wirklich wichtig ist im Leben, kommt in seinen Romanen vor. Aber keine Klischees, keine Vorurteile: Rauchen und saufen, das machen die Rowdys, aber auch Lucas pafft und der Vater der Erzählerin sucht ebenfalls zu oft Trost in der Flasche. Alles an diesem Buch lädt den Leser ein, sich seine eigenen Gedanken zu machen. Und da wirkt es nur ein bisschen irritierend, dass Brooks seinem Helden Lucas Züge des großen verkannten Erlösers gegeben hat ...

    "Das war mir nicht bewusst, bis zu dem Moment, wo mich Leser darauf aufmerksam gemacht haben. Aber ich weiß, was sie meinen. Es war nicht beabsichtigt. Ich wollte meinem Helden zwar durchaus eine sagenhafte, halbgöttliche Kraft verleihen, das schon. Aber ich hatte überhaupt nicht geplant, einen Jesus-Typen aus ihm zu machen, denn für mich ist Religion eines der merkwürdigsten Dinge, die Menschen sich ausgedacht haben. Diesen Glauben an einen Gott, aus dem heraus man sich mal gut, mal schlecht benehmen darf. Persönlich hänge ich keiner Religion an, und ich kann auch nicht nachvollziehen, worauf der Glaube anderer Menschen basiert. Ich finde dieses ganze Gebiet extrem rätselhaft, aber auch interessant."

    Es gibt Jugendbücher, die sind wie Zuckerwatte. Sie verkleben die Gehirne ihrer Leser. Ihre Helden sind schön, edel und gut und auch das Böse ist fein säuberlich abgepackt. Wenn man mit solchen Romanen fertig ist, scheint einem das eigene Leben verhältnismäßig schäbig, nichtssagend und grau.

    Und dann gibt es Jugendbücher, die sind wie Vertraute, wie sehr seltene, kostbare Freunde. Man teilt mit ihnen die wirkliche Welt. Kevin Brooks "Lucas" gehören zu dieser Kategorie, ähnlich wie sein Debutroman "Martyn Pig".

    Und außerdem - das muss noch gesagt werden - haben Brooks’ Romane doch etwas mit denen von J.K. Rowling gemein: Erwachsene und Kinder verschlingen sie gleichermaßen gern.

    Kevin Brooks:
    Martyn Pig, Roman, dtv extra, Auswahlliste Deutscher Jugendliteraturpreis 2005
    Übersetzt aus dem Englischen von Uwe-Michael Gutzschhahn
    287 Seiten
    8.50 Euro


    Lucas, Roman, dtv extra, erschienen im Mai 2005
    Übersetzt aus dem Englischen von Uwe-Michael Gutzschhahn
    448 Seiten
    12 Euro


    Beide Bücher sind geeignet für Leser ab 12.