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Wenn Menschen töten

Während des Zweiten Weltkriegs hörten die westlichen Alliierten systematisch Gespräche unter deutschen Kriegsgefangenen ab. Die Protokolle bilden eine einzigartige Quelle, die unter anderem Aufschlüsse über die Entstehung und Voraussetzung extremer Massengewalt gibt.

Von Ursula Storost | 08.12.2011
    Der Literaturwissenschaftler Professor Jan Philipp Reemtsma ist einer, der sich in den verborgenen Winkeln der menschlichen Psyche auskennt. Jahrzehntelang hat der Leiter des Hamburger Instituts für Sozialforschung der Frage nachgespürt, warum Menschen in Kriege involviert sind. Warum sie vernichten, töten, gewalttätig sind.

    "Weil sie es können. Warum machen Menschen Musik? Weil sie es können. Das gehört zu den Fähigkeiten des Menschen."

    "Es ist mir ein Bedürfnis geworden, Bomben zu werfen. Das prickelt einem ordentlich. Das ist ein feines Gefühl. Das ist ebenso schön, wie einen abzuschießen."

    So erzählte ein Oberleutnant der Luftwaffe im Juli 1940 seinen Kameraden in alliierter Kriegsgefangenschaft. Die Gespräche der gefangenen Offiziere wurden von den Alliierten abgehört. 150.000 Seiten Protokolle dieser soldatischen Unterhaltungen sind vor ein paar Jahren aufgetaucht.

    "Also die sitzen da in den Kriegsgefangenenlagern und reden den lieben langen Tag über ihre Erlebnisse und so was."

    Der Mainzer Geschichtsprofessor Söhnke Neitzel und der Sozialpsychologe Professor Harald Welzer, Direktor des Center for Interdisciplinary Memory Research in Essen haben begonnen, diese Protokolle auszuwerten.

    "Was bedeutet denn eigentlich Krieg an der Stelle, wo man jetzt siegreich vormarschierte, wo man Land erobert. Das bedeutet ja für junge Männer, sie können Dinge tun, ungestraft auch tun, die sie unter Normalbedingungen niemals tun könnten. Sie können Frauen vergewaltigen, sie können aber auch sich Städte ankucken, sie können in Kneipen gehen, sie können sich Sachen aneignen. Alles Neueröffnungen von Handlungsspielräumen, die sie unter Normalbedingungen nie hätten. Man könnte sagen, es gibt eine Situation des du darfst."

    "Ich habe einen Franzosen von hinten erschossen, der fuhr mit dem Fahrrad. - Wollte der dich gefangen nehmen? - Quatsch. ich wollte das Fahrrad haben."

    Szenen aus dem Soldatenleben. An die man sich in der Gefangenschaft gerne erinnert.

    "Sie nehmen Verbrechen natürlich nicht so wahr, wie sie in der Nachkriegszeit als Verbrechen definiert worden sind. Sondern sie nehmen sie je nachdem wahr. Also das massenhafte Verhungernlassen russischer Kriegsgefangener nehmen die als nicht gerechtfertigt und als Schweinerei wahr. Das ist für sie militärisch in keiner Weise akzeptabel, weil sie auch die Rotarmisten als anerkennenswerte Kämpfer, gute Soldaten wahrnehmen. Also gibt es keinen Grund die so zu behandeln."

    Die Protokolle belegen einmal mehr, dass die Soldaten gewusst haben von Massenerschießungen und Judenvernichtung.

    "Sie sagen, das ist fürchterlich. Da mag man keine deutsche Uniform anhaben. Das kann man nicht machen. Wenn es auch Juden sind. Und sie schieben das auch alles nicht auf ihre eigene Armee. Sondern auf die SS. Die SS sind die Schweine, die haben das veranlasst. Sie distanzieren sich sehr stark davon."

    Wenn es allerdings um die Bekämpfung von Partisanen, sogenannte Vergeltungsschläge, Massenerschießungen männlicher Dorfbewohner geht, dann äußern sich die Abgehörten zustimmend.

    "Des Rätsels Lösung ist, dass sie halt nach militärischen Kriterien das bewerten. Alles was sie in einen militärischen Handlungsrahmen einordnen können, das erscheint ihnen notwendig und plausibel. Aber warum sie Leute umbringen sollen oder auch nur in irgendeiner Weise dabei Unterstützung leisten sollen, die mit dem Krieg gar nichts zu tun haben, also wehrlose Frauen und Kinder aus irgendwelchen Dörfern, die man umbringt, weil sie Juden sind. Das erscheint ihnen nicht plausibel."

    Bemerkenswert ist, dass Taten weder aus ideologischer Überzeugung begangen noch gerechtfertigt werden. Viele der Soldaten sind Judenhasser. Sind aber dennoch empört über deren Ermordung. Antinazis und Hitleranhänger zeigen die gleichen Verhaltensweisen. Wie auch die größte Gruppe, die völlig Unpolitische. Harald Welzer:

    "Auf der Ebene des eigentlichen Kriegshandelns, also des Ausübens von Gewalt, des Handwerkes des Krieges, unterscheiden die sich gar nicht. Das hat eigentlich relativ wenig, was man so denkt und wovon man überzeugt ist, in konkreten Situationen damit zu tun, was man für richtig hält, was man jetzt tut."

    "Da sah man nichts als Frauen, die Pflichtarbeitsdienst machten. Straßen haben die gemacht. Mordsschöne Mädels. Da sind wir vorbeigefahren, haben sie einfach in den Pkw herein gerissen, umgelegt und dann wieder rausgeschmissen. Mensch, haben die geflucht."

    Menschen, sagt der Sozialpsychologe, verhielten sich immer so, wie es ihrer Meinung nach in der jeweiligen Situation von ihnen erwarten werde. Bei Mutter oder Freundin eben anders als beim Zahnarzt, bei Vorgesetzten oder Kameraden im Kontext des Krieges. Und, so Harald Welzer, im Krieg haben Menschen kein wirkliches Korrektiv.

    "Im zivilen Alltag haben sie ja ganz viele unterschiedliche Bezugsgruppen. Und da können sie etwas, was sie in der einen Rolle tun vielleicht mal kritisch überprüfen lassen von Personen aus der anderen Gruppe. Im Militär ist das nicht der Fall. Man gehört zu dieser Gruppe."

    Die Protokolle zeigen aber auch: trotz ihrer durchaus klaren Sichtweise, dass Judenmorde oder der organisierte Hungertod von Kriegsgefangenen nicht zu einem militärischen Handlungsrahmen gehören, sind die Handlungen der abgehörten Soldaten widersprüchlich.

    "Zum Beispiel das Erschießen russischer Kriegsgefangener, wenn sie sie nicht zurücktransportieren können und sie ihnen gewissermaßen hinderlich oder im Wege sind. Also auch ein klassisches Kriegsverbrechen. Das machen sie. Und sagen, das muss sein. Also sie folgen auch hier einer militärischen Logik und haben dabei überhaupt kein Gefühl dafür, etwas Verbrecherisches zu tun. Also auch das ist sehr stark differenziert. Bestimmte Normen gelten für manche Situationen. Für andere gelten sie wiederum nicht."

    Der Literaturwissenschaftler Jan Philipp Reemtsma hat diese Art der Gruppenzugehörigkeit seit Jahrzehnten analysiert. Krieg ist dazu da, dass Menschen Gewalt ausüben, sagt er.

    "Die Frage, wie kann es sein, dass ganz normale Menschen - wie kann es sein, dass Familienväter, Nachbarn usw. Ja, wer denn sonst. Wenn Abertausende von Menschen in den Krieg ziehen."

    In den 150.000 Seiten Abhörprotokolle sind kaum Gefühlsregungen zu finden, wenn über sensationelle Gewalttaten erzählt wird. Über die alltägliche "normale" Gewalt wird gar nicht geredet, konstatiert Jan Philipp Reemtsma.

    "Eben weil sie alltäglich war. Und insofern keinen Sensationswert hatte."

    Eine Gesellschaft völlig ohne Gewalt und Kriminalität wird es nie geben, glaubt Jan Philipp Reemtsma. Allerdings leben wir heute in einer Gesellschaft mit wesentlich weniger Gewaltkriminalität als noch vor hundert Jahren. Aber das Potenzial zur Gewalt, das gibt es immer.

    "Wenn Militär in einem Land die Macht ergreift, dann brauchen sie ja sehr schnell außerhalb der Streitkräfte Menschen, die zu bestimmten Brutalitäten fähig sind. Und die sind sofort vorhanden. Die müssen sie nicht extra ideologisch umerziehen. Das heißt, die sind fähig und sehr viele von ihnen auch bereit, sich sehr schnell einer solchen veränderten Situation anzupassen und da aktiv zu werden. Auch in einer sehr unangenehmen Weise kreativ zu werden."


    Literaturhinweis:
    Sönke Neitzel, Harald Welzer: "Soldaten. Protokolle vom Kämpfen, Töten und Sterben", S. Fischer Verlag, 512 Seiten, 22,95 Euro

    Jan Philipp Reemtsma: "Vertrauen und Gewalt. Versuch über eine besondere Konstellation der Moderne", Hamburger Edition, 576 Seiten, 30 Euro