Mittwoch, 24. April 2024

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Wenn mit dem Wind die Angst kommt

Inmitten von Wald und Wildnis schläft das Monster. Unter einer 300.000 Tonnen schweren Decke aus Stahl und Beton. Sie soll die Umgebung vor der radioaktiven Strahlung schützten. Als der Block 4 der Kernkraftanlage Tschernobyl vor 20 Jahren explodierte kommt es zur Kernschmelze. Die Radioaktive Rauch- und Aschewolke zieht nach Norden. Die 1986 freigesetzte Radioaktivität war 400 mal größer, als die der Explosion von Hiroshima und Nagasaki zusammen. Etwa zwei Drittel des radioaktiven Fallout von Tschernobyl gingen nach dem 26 April 1986 in Weißrussland nieder.

Von Anja Schrum und Ernst-Ludwig von Aster | 08.04.2006
    Liquidatoren so werden noch heute alle Menschen genannt, die nach der Katastrophe eilig nach Tschernobyl geschafft wurden. Feuerwehrleute, und Soldaten aus der gesamten Sowjetunion: insgesamt 800 000 Menschen kamen um das strahlende Inferno einzudämmen. Die meisten von ihnen sind inzwischen tot.

    Im Bezirk Gomel, im äußersten Südosten Weißrussland ging ein Großteil der radiaktiven Fracht runter. In einem alten Holzhaus ist das 1-Zimmer-Büro der Gomeler Regionalgruppe, der "Invaliden Liquidatoren von Tschernobyl". Pawel Lukashov ist ihr Vorsitzender.


    Die Liquidatoren: einst gefeiert, heute vergessen

    Pawel Lukashov kritzelt mit dem Bleistift ein paar Rechtecke aufs Papier. Hier, der Atomreaktor. Dort das Dorf Tschernobyl. Der 40jährige tippt mit der Bleistiftspitze auf einen Punkt dazwischen. Hier liegt das Betonwerk. Das hat er mit erbaut. Damals, gleich nach dem Unglück.

    Sieben bis 10 Kilometer von der Reaktorruine entfernt arbeitet Pawel im Sommer 1986 gearbeitet. Abkommandiert als Rekrut der Roten Armee. Es ist ein warmer, trockener Sommer, erinnert sich der beleibte 40jährige, dessen blauer Pullover über dem Bauch spannt. Die Obstbäume hängen voller reifer Früchte.

    " Als wir gekommen sind, war gerade die Zeit der Kirschernte. Die Kirschen und Süßkirschen waren groß. Groß wie Hühnereier. Im Herbst kam die Apfelernte. Die Äpfel waren groß wie mein Kopf. Die Einheimischen hatten so etwas auch noch nicht gesehen. Äpfel groß wie ein Kopf. "

    Pawels deutet auf sein pausbäckiges Gesicht mit dem grauen Schnautzer. Und erzählt: Unter den Soldaten kursiert damals ein Witz: Man dürfe alles essen. Aber nichts anfassen.

    " Jeden dritten Tag wurde eine Blutprobe genommen. Täglich mussten wir unsere Arbeitsuniform wechseln. Unsere Kleidung mussten wir abgeben. Dann mussten wir duschen. Danach wurde unsere Strahlenbelastung gemessen. Dann haben wir frische Kleidung bekommen. Geholfen haben auch Atemmasken und Jodtabletten, um die Schilddrüse zu schützen. "

    Die Ergebnisse der medizinischen Untersuchungen? Pawel zuckt mit den Schultern. Militärisches Geheimnis. Einmal stiehlt er einem Arzt einen der grauen Zettelchen mit seinen Strahlungswerten. Heute klebt der Zettel in Pawels Fotoalbum. Neben Bildern seiner Einheit, Tschernobyl-Urkunden und einer Staubschutzmaske mit Radioaktivitätszeichen.

    Pawel hat sein Foto-Album auf dem klapprigen Holzschreibtisch ausgebreitet. Er redet schnell. Ohne Pause. Stoppt auch nicht, als Gennadij Selenko den winzigen Raum betritt. Die Schiebermütze abnimmt und sich still auf einen Schemel setzt.

    Pawel hat eine Schwarz-Weiß-Aufnahme hervorgezogen. Sie zeigt den völlig zerstörten Reaktorblock vier. Dort hat auch Gennadij Selenko gearbeitet. Der Offizier kommt als Leiter einer Einheit nach Tschernobyl, die mit Aufräum- und Reinigungsarbeiten beschäftigt ist. Er nimmt Pawel das Bild aus der Hand. Starrt drauf, nickt nachdenklich. Dann zieht er zwei Fotos aus der der Tasche seiner dunklen Lederjacke. Legt sie auf den Tisch. Sagt nur: Vor Tschernobyl und danach.

    Die erste Aufnahme zeigt einen lächelnden jungen Mann mit vollem, dunklen Haar in Uniform. Das zweite Bild: Der selbe Mann mit dünnem Haar, schmalem, blassem Gesicht und tiefen Falten um den Mund.

    Zwischen den beiden Aufnahmen liegen nicht zehn, sondern lediglich zwei, drei Jahre. Zwei, drei Jahre Tschernobyl. Der Offizier hält die geballte Faust vor dem Mund, starrt ins Leere. Ringt um Fassung. Er sieht krank aus. Blass, fast durchsichtig. Dabei ist er erst Anfang Vierzig.

    "1990 oder 1991 habe ich schlagartig meine Sehkraft verloren. Deshalb wurde ich in eine Moskauer Spezialklinik eingewiesen. Dort konnte mir die Ärzte helfen. Heute ist meine Sehkraft immer noch schlecht, aber nicht mehr so schlecht wie am Anfang. Danach begann meine Odyssee durch die Kliniken und Hospitäler. Heute versuche ich weniger zum Arzt zu gehen. Ich kann einfach nicht mehr. "

    Woran genau er leidet, will der Offizier nicht sagen. Ob es Krebs ist? "Wollen Sie die Wahrheit wirklich wissen?" fragt er. Und schüttelt den Kopf. Er will es nicht sagen.

    " Alle Soldaten haben solche Probleme gehabt. Sie sind in Ohnmacht gefallen. Der Oberst der Nachbartruppe ist im Laufe eines Jahres gestorben. Was aus seinen Leuten geworden ist, weiß ich nicht. Die Soldaten meiner Einheit sind - glaube ich - mittlerweile alle gestorben. Als ich meine Einheit verlassen hab, hab ich den letzten gesehen. Und der war krebskrank. So ist das. "

    62 Soldaten waren in seiner Einheit, erzählt Gennadij Selenko. Und fast alle sind tot. Auch 130 Liquidatoren aus Gomel sind nicht mehr am Leben. Die verbliebenen 300 aber kämpfen nicht nur mit gesundheitlichen Problemen, sondern auch mit finanziellen und bürokratischen, klagt Pawel, der den Gomler Liquidatoren-Verband leitet. Und zieht einen dicken Ordner mit Beschwerdebriefen hervor.

    " Ehrlich gesagt: Wir haben unsere Pflicht für Staat und Heimat getan. Um Europa und die Welt vor der atomaren Katastrophe zu schützen. Aber so wie unser Staat uns jetzt behandelt... Sehr viele machen heute damit Geschäfte... "

    Die Kinder der Behördenmitarbeiter hätten schon zigmal Kurreisen mitgemacht. Doch der Nachwuchs der kranken Liquidatoren müsse zu Hause bleiben, klagt Pawel. Bettzeug und Spritzen müssten die kranken Aufräumarbeiter selbst mit in die Klinik bringen. Und die teuren Medikamente selbst zahlen. Pawels Stimme wird laut und kämpferisch. Der Offizier dagegen sitzt still und traurig auf seinem Schemel. Starrt ins Leere.

    " Wir spielen keine Rolle mehr. Wir sind alle um die Vierzig, wir haben alle etwas von der Welt gesehen. Aber jeder von uns hat Kinder. Ich habe nach Tschernobyl eine Tochter bekommen. Und auch sie strotzt nicht gerade vor Gesundheit. Uns kann man nicht mehr helfen. Aber was wird aus unseren Kindern? Wer hilft ihnen? "

    Der Süden Weißrusslands mit seinen Seen und Wäldern ist die schönste Gegend des Landes. Wer es sich leisten konnte hatte hier sein Sommerhaus oder Altersitz, früher! Heute sind die meisten Dörfer verlassen, einige Menschen starben, andere wurden evakuiert. Sie leben jetzt in tristen Plattenbauten an der Peripherie von Minsk. Bis heute mussten rund 300 000 Menschen umgesiedelt werden in Weißrussland, Russland und der Ukraine.

    Choiniki liegt nur 38 km von Tschernobyl entfernt. Die weißrussische Kleinstadt wurde nicht vollständig evakuiert, aber die Hälfte des Landkreises wurde zur Sperrzone erklärt. Blickt man vom Rathaus aus auf den Marktplatz dann grüßt da Lenin. Überlebensgroß! Sein Motto: Kommunismus - das ist Sowjetmacht plus Elektrifizierung. Die Folgen der atomaren Stromerzeugung müssen heute im Rathaus verwaltet werden.


    Leben am Rande des Sperrbezirks - der Verwalter

    Igor Prokasov eilt zum Schreibtisch seines Chefs. Dahinter hängt die rot-grüne weißrussische Fahne. Rechts summt der neue Kühlschrank, daneben steht der alte Safe. Präsident Alexander Lukaschenko blickt staatsmännisch von der Wand herab. So, das sein Blick auf dem Schreibtisch des Landrats ruht. Dessen Stellvertreter Prokasov schiebt einige Akten zur Seite, zieht einen Zeigestock hervor.

    Am Bücherschrank hängt die mannshohe Karte, befestigt mit Reißzwecken. Der Rayon/Landkreis Choiniki im Masstab 1: 50.000.

    " Wir grenzen an die Ukraine. Choiniki liegt 46 Kilometer von Tschernobyl entfernt. Manchmal trennt uns nur der Fluss. Hier Weißrussland, da Ukraine. Von sienem Ufer aus kann man mit dem Fernglas den Reaktor sehen. "

    Der Zeigestock folgt einer feinen roten Linie. Sie verläuft von Ost nach West. Ziemlich genau in der Karten-Mitte. In der oberen Hälfte: Farb-Flecken wie Puzzleteile. In orang, rot, blau


    "Wir haben mehr als die Hälfte des Territoriums verloren. Die elf Betriebs sind hier bunt gekennzeichnet, in diesem Bereich wohnt niemand. 97 Prozent des Getreides muss verfüttert werden, weil es mit Cäsium und Strontum belastet ist. "

    Elf Kolchosen aufgegeben, die bewohnbare Landkreis-Fläche um die Hälfte geschrumpft, 50 Prozent der Bevölkerung verloren, das geerntete Getreide nicht essbar, ebenso wie die Frühkartoffeln, die Milch nicht trinkbar - mit fester Stimme reiht der Agrarwissenschaftler die Zahlen aneinander. Den Zeigestock fest in der rechten Hand. Anthrazitfarbiger Anzug, dunkles Hemd, schwarze Lederschuhe, leicht getönte Brille, kurze Haare, dezente bordeauxrote Krawatte - der 35 jährige wirkt wie ein existentialistischer Buchalter. Oder ein moderner Bestattungsunternehmer.

    Vor der Tür wartet sein alter schwarzer Mittelklasse-Wagen. Mit hinten getönten Scheiben. Prokasov gibt Gas. "Damals, vor 20 Jahren, war ich 15," erzählt er. Sein Vater, der Kolchose-Chef erfährt schnell, dass in Tschernobyl etwas passiert ist. Igor musste mit seinem Bruder die Kühe zusammentreiben, danach das Feuer im nahe liegenden Moor löschen. Heute liegen die Reste der Kolchose in der gesperrten Zone....

    " Um diese Jahreszeit ist die Strahlung niedriger, sie steigt, wenn es brennt oder heiss ist. Da wo die Bäume sind, da war früher das Dorf "Lenin". Die Bewohner wurden umgesieldet. Die Holzhäuser des Dorfes abgerissen und vergraben. Damit das Material nicht als Brennhiolz genutzt wird... "

    Prokasov deutet aus dem Fenster. Nur ein paar Bäume, Gras. Warnschilder mit dem Radioaktivitätszeichen. Sonst nichts..

    Immer wieder greift der 35-Jährige zum Mobiltelefon. Offiziell brauchen wir eine Genehmigung, um die gesperrte Zone zu besuchen. Für Ausländer ist das derzeit kompliziert, sagt er. Prokasov setzt auf seine Autorität als stellvertretender Landrat. Und die verdunkelten Scheiben seines Wagens... .

    Ein rot-weißer Schlagbaum versperrt den Weg, rechts der Strasse Stoppschilder, Radioaktivitätszeichen. Links die blauen Container der Miliz. Langsam schlendert ein älterer Mann im Tarnanzug heran....

    "Was machen die Elche ? Lebt die alte Wölfin noch ?" Prokasov fachsimpelt mit dem Wächter. Der war früher bei ihm angestellt. Als Igor noch eine Kolchose leitete. Nach zwei Minuten öffnet sich der Schlagbaum. Schnurgerade führt die Strasse ins Sperrgebiet. Der 35jährige gibt Gas. Früher waren hier überall Felder, sagt er. Heute wuchern hüfthoch die Gräser.

    " Im Winter kann man hier aus dem Hubschrauber Wölfe jagen. Gegen Bezahlung. In einem Winter haben wir hier schon einmal 124 Wölfe geschossen. "Für die Tiere ist es hier das Paradies", sagt der passionierte Jäger. "Vielleicht haben wir Glück und sehen einen Elch". Prokasov lächelt. Ein wenig wehmütig. Ein Jahr hat er in Minsk gearbeitet. Im Arbeitsstab des Präsidenten. Er hätte Karriere in der Haupstadt machen können. Doch er wollte zurück. "Das Leben hier muss doch weitergehen", sagt er....

    Links und rechts wuchern die Gräser, wechseln sich ab mit Schilfpflanzen, vereinzelt ragen Birken empor. Nach zehn Minuten blinkt Prokasov, biegt rechts ab

    " Wir sind hier in der Ortschaft Babschin. Seit 1986 ist sie nicht bewohnbar. Die Leute sind zwangsevakuiert worden. "

    Gelb, braune, und rote Farbreste blättern von den Balken. Die ursprüngliche Farbe der Holzhäuser lässt sich nur noch erahnen. "Auch wir mussten unser Haus verlassen", sagt Prokasov, während er die menschenleere Dorfstrasse entlanggeht. "Meine Mutter hat geweint." Vor einem brüchigen Holzaun bleibt er stehen. Dahinter wuchert dichtes.Gestrüpp. Äste ragen durch das zerbochene Fenster ins Innere des Holzhauses.

    " Vor allem für die alten Leute ist die Entwurzelung ein sehr grosses Problem. Dazu kommen die gesundheitlichen Folgen. Ich war selbst zur Behandlung, in Dnepropetrowsk. Ich hatte eine Dosis von 3600 Milliröntgen abbekommen. Länger als einen Monat wurde ich behandelt. Die Wissenschaftler haben an mir trainiert... "

    Seine Mutter stirbt wenige Jahre später. Sie hat die Entwurzelung nicht überlebt, sagt er. Seine Stimme klingt brüchig. Zwischen den leeren Häusern von Babschin.

    " Ich weiß, dass ich in einer verstrahlten Region lebe, das schockiert mich nicht mehr. Ich denke, so geht es den meisten Leuten hier.. Aber mein Herz schmerzt immer noch. Immer wenn ich an unserem alten Haus vorbeifahre... "

    Zurück geht es mit dem Auto. Durch das nukleare Niemandsland. Nach einer halben Stunde tauchen am Horizont wieder die vierstöckigen Wohnblocks von Choiniki auf. Prokasov nimmt den Fuß vom Gas, fährt rechts ran. Etwas abseits steht eine steinerne Frauenstatue, überlebensgroß. Die Augen geschlossen, das Gesicht trauernd. In der rechten Hand eine Taube. Hinter der Statue - eine Betonmauer. 21 Namen sind dort eingelassen. Jeder steht für eine Ortschaft, die es heute nicht mehr gibt...

    " Das ist ein Denkmal der Trauer. Es steht für alle, die in den verlassenen Dörfern gelebt haben. Hier versammeln sie sich am 26. Zusammen mit den Politikern zum Gedenken. "

    Und wer will, der darf sich auch in seinem alten Heimatort beerdigen lassen. Dafür gibt es eine Sondergenehmigung. Für die Fahrt in die verstrahlte Zone. Mit dem Leichenwagen..

    Viele Menschen im Umkreis- im strahlenden Dunstkreis - von Tschernobyl haben sich allen Verboten zum Trotz nicht verpflanzen lassen. Viele kamen wieder zurück aus den städtischen Wohnsilos in ihre Dörfer auf dem Land. Sie wollten lieber mit der Radioaktivität als ohne Heimat leben. Sie haben sich eingerichtet am Rande des Sperrbezirks, leben auf dieser Seite des Schlagbaums, denn jenseits des Schlagbaums soll die Strahlenbelastung plötzlich ansteigen?!

    Die Gefahr liegt heute kaum mehr in der Luft, sondern viel mehr im Boden. An vielen Stellen ist die obere Humusschicht der Wälder mit dem radioaktiven Element Cäsium verseucht. Pilze und Wurzeln saugen es auf.

    Der Cäsium 137 Gehalt einer einzigen Mahlzeit mit kontaminierten Waldpilzen entspricht der Strahlungsmenge von 10 Röntgenaufnahmen der Lunge.

    Wer in Dobrusch einer Kleinstadt 20 km entfernt von Gomel lebt, lebt mit Bequerel und Cäsiumwerten. Die meisten ernähren sich von Obst und Gemüse aus dem eigenen Garten, so auch Ekatarina Balinowka und ihre Familie.


    Der Alltag mit Bequerell und Cäsiumwerten - Gemüse aus dem eigenen Garten


    Alles unsere eigenen Produkte, sagt Ekaterina Ballinowa und macht eine einladende Handbewegung. Auf dem kleinen Wohnzimmer-Tisch drängen sich Teller und Schüsseln. Die Wodkagläser finden kaum Platz. Eingelegte Tomaten und Gurken, Kartoffeln, gefüllte Paprika, Kohl- und Rote Beete-Salat. Dazu Hühnchen und Fisch.

    " Wir haben hier eine Kreiszeitung, in der die Ergebnisse der Lebensmittel-Untersuchungen veröffentlicht werden. Die Bewohner der Kreises lassen ihr selbst angebautes Gemüse untersuchen. In der Zeitung stehen dann zum Beispiel die Ergebnisse für Tomaten oder Gurken. Und dann weiß ich, dass sie wenig belastet sind. "

    Ekaterina Ballinowka bringt auch selbst Proben zum Test. Auf Pilze, Waldbeeren oder Wild dagegen verzichtet sie. Weil sie sind nach wie vor hoch belastet sind.

    Wir haben immer von diesem Garten gelebt. Und uns ist nichts passiert, sagt die Mittvierzigerin. Und fügt hinzu: Hoffen wir, dass alles gut.

    Ekaterina plaudert offen und fröhlich. Lacht mit strahlenden Augen. Bittet die Gäste zuzugreifen, alles zu probieren. Der Rest der Familie wird später essen. Ihr Mann ist Busfahrer und noch unterwegs. Der älteste Sohn arbeitet als Feuerwehrmann in einer radioaktiv-verseuchten Sperrzone. Ein gut bezahlter Job. Zum Zeitpunkt der Katastrophe war er gerade drei Jahre alt.

    " Ihm war es damals egal. Er wollte vor allem spielen. Er durfte auch im Sandkasten spielen. Aber wenn er nach Hause kam, dann hab ich ihn immer gründlichen gewaschen. Bestimmt 10 Mal am Tag hab ich ihn unter die Dusche gesteckt. Und 20 Mal T-Shirts und Hosen gewechselt. Das mochte er natürlich gar nicht. Aber einem Dreijährigen kann man nicht erklären, warum bestimmte Dinge verboten sind. Er wollte nur spielen. Genau wie die anderen Kinder. "

    Viele Dobruscher haben die Stadt nach dem Unglück verlassen, erinnert sich Ekaterina. Auch ihre Schwestern. Die eine lebt heute in der Ukraine, die andere in Russland. Ekaterina streicht sich durch das dunkelblonde Kurzhaar und lacht. Sie ist geblieben.

    " Ich bin Optimistin. Ich denke, egal, wohin man geht, überall gibt es Schwierigkeiten. Und zu Hause helfen einem selbst die Wände. "

    Ekaterina hat Mathematik und Physik studiert. Und als Naturwissenschaftlerin gelernt, die Dinge nüchtern zu betrachten. Und mit den Gefahren der erhöhten Radioaktivität umzugehen.

    " Ich war zum Beispiel immer daran interessiert, alles zu lesen, was ich in die Hände kriegen konnte. Ich habe einfach alles gelesen. Und dann habe ich das herausgezogen, was ich für mich gebrauchen konnte. Es gab nicht viele Informationen, aber wir haben uns untereinander ausgetauscht. Es war ja kein Geheimnis. Auch viele Sachen, die nicht mit Tschernobyl zu tun haben, haben wir auf den Reaktorunfall bezogen. Selbst heute noch sagen wir: Hier ist der Reaktor. Und da sind die Folgen. Auch wenn es nicht stimmt. "

    Wenn die Kuh keine Milch gibt oder das Kind hustet - immer ist da der Gedanke: Tschernobyl!. Das ist natürlich quatsch, sagt Ekaterinas Kopf. Und der Bauch antwortet: Wenn doch?

    " Wenn die Linden blühen, dann fliegt dieser gelbe Blütenstaub. Als es einmal regnete, bildeten sich an den Pfützen gelbe Ränder. Von dem Blütenstaub. Auf dem Weg zur Schule trugen alle Frauen, die ich gesehen habe, Kopftücher. Ich übrigens auch. Wir fürchteten alle, dass das kein Blütenstaub ist sondern ein radioaktiver Schadstoff. Mit den Kopftüchern wollten wir uns schützen. Es war lächerlich. Obwohl ich wusste, was es ist, nämlich Blütenstaub, habe ich trotzdem das Kopftuch umgebunden. "

    Ekaterina lacht. Gegen die eigene Verunsicherung. Sie ist Optimistin. Und versucht es mit aller Kraft zu bleiben.

    Der 14-jährige Nikolai kommt herein. Hört zu. Sprechen er und seine Freunde über Tschernobyl? Ekaterina blickt ihren Sprössling erwartungsvoll an. Der Junge mit dem blonden Stoppelhaar läuft rot an. Schüttelt den Kopf.

    Mehr will Nikolai nicht sagen. Ekaterina lacht. Nein, sagt sie, die Kinder untereinander reden nicht darüber. Aber im Unterricht werde das Thema immer wieder behandelt, fügt die Lehrerin hinzu. Gerade auch an ihrer Schule:

    " Die Kinder an unserer Schule kommen teilweise vom Land. Aus den Dörfern, die in der verstrahlten Zone liegen und mit mehr als 15 Curie belastet sind. Den Kindern wird beigebracht, was man essen darf und was nicht. Und wie man sich im Wald verhält. Im letzten Jahr hatten wir nämlich ein Problem mit diesen Kindern. Sie waren alle im Wald, um Pilze zu sammeln. Dabei haben sie Mitarbeiter vom Zentrum für Hygiene und Epidemiologie erwischt. In der Zeitung hieß es danach: Den Kindern würde in der Schule nicht beigebracht, wie man sich zu verhalten habe. Aber wir bringen es ihnen bei. Nur: Die Kinder sammeln die Pilze. Und die Eltern bereiten sie dann zu. Sie wissen doch, wie das ist. "

    Pilze sind fast ein Grundnahrungsmittel in Weißrussland. Ein günstiges zudem. Und die Strahlung ist unsichtbar. Groß ist da die Gefahr, sie zu verdrängen. Andererseits sind da die vielen medizinischen Untersuchungen. Regelmäßig kommt der Schilddrüsen-Bus, untersucht alle 370 Schüler. Einmal pro Jahr lässt sich auch Ekaterinas Familie durchchecken. Die Strahlungsbelastung messen. Die Werte der Eltern sind gut. Auch die des 14jährigen Nikolai. Nur die radioaktive Belastung im Körper des Ältesten ist nach wie vor hoch. Ekaterina überspielt die Sorge mit einem Lächeln.

    " Diejenigen, die ständig meckern sind öfter krank. Das hat schon die Wissenschaft bewiesen. Diejenigen, die versuchen, die Sache positiv zu sehen, haben es vielleicht nicht besser, aber leichter. Das ist meine Lebenseinstellung. Ich weiß, Tschernobyl bleibt Tschernobyl. Ein Problem für die ganze Welt. Aber es ist passiert. Was soll man da machen? "

    Doch einfach verdrängen lässt sich Tschernobyl nicht. Die Katastrophe ist zum ständigen Begleiter geworden. Auch für Ekaterina. Ob sie will oder nicht. Die Gedanken kommen immer wieder. Ohne Vorwarnung. Wenn sie zum Beispiel die Wettervorhersage hört. Und die selbe Wetterlage angekündigt wird, wie damals, vor 20 Jahren:

    " Wenn der Wind weht zum Beispiel, selbst wenn er zehn Mal nichts mit dieser Havarie zu tun hat, trotzdem sagt, dir eine innere Stimme: Vielleicht ist doch nicht alles in Ordnung. "

    Als über 800.000 Liquidatoren den Sarkophag um den Reaktorblock 4 bauten blickten sie auf folgendes Spruchband: "Die Kraft der Freundschaft zwischen den Völkern der UDSSR ist stärker als das Atom." Die Sowjetunion gibt es nicht mehr und die Völker-Freundschaft hilft nicht gegen die tödliche Strahlung. Auch 20 Jahre nach Tschernobyl klingen die beschönigenden Worte der Politiker noch nach. und selbst heute hantieren Wissenschaftler mit unterschiedlichen Zahlen. Während die Weltgesundheitsorganisation WHO zusammen mit der Internationalen Atomenergiebehörde in einer Studie von wenigen tausend Toten aufgrund der Strahlenexposition ausgehen, sprechen andere Wissenschaftler von 50.000 bis 100 000 Toten. In ihre Berechnungen fallen nicht nur die Krebsopfer, sondern auch die Menschen, die sich nach der Explosion das Leben nahmen.

    Und während die internationale Atomenergiebehörde die Katastrophe runterrechnet zählen die Weißrussen ihre Toten. Die Zahl der Menschen mit Schilddrüsenkrebs ist rapide gestiegen. Der Grund ist das radioaktive Jod 131, das in hohen Konzentrationen nach dem Reaktorunfall freigesetzt wurde. Experten schätzen, dass ein Drittel aller damaligen Kinder, im Laufe ihres Lebens an Schilddrüsenkrebs erkranken. Für den Bezirk Gomel wären das allein 50 000 Menschen: Am Rande der Stadt ist die Onkologische Klinik, die Einheimischen nennen den Komplex: das medizinische Städtchen.


    Die Strahlung und die Folgen - Schilddrüsenkrebs


    Junge Männer, alte Mütterchen - alle müssen Schlange stehen. Vor vier großen Fenstern. Im Ergeschoss der Krebsklinik.

    Hinter den Fenstern ziehen Krankenschwestern Akten aus mannshohen Karteischränken. Vergeben Termine.

    "Unbefugten ist der Zutritt verboten" steht an einer Glastür ein paar Stockwerke weiter oben. Larisa Gamolina bittet uns hinein.

    Die Ärztin knallt die Bürotür hinter sich zu. Greift in die Tasche ihres weißes Kittels, zieht schnell eine Zigarettenschachtel heraus und lässt sie unauffällig in der Schreibtischschublade verschwinden. Larisa Gamolina leitet die Abteilung für Nuklearmedizin.

    " In unserer Krankendatei sind 1.500 Patienten registriert. Im Jahre behandeln wir hier 560, 570 Patienten. Die Abteilung verfügt über 10 Betten. "

    Larisa Gamolina zieht die Schublade einer Hängeregisratur auf. Holt die Akte eines Mannes hervor.

    " Der Mann hat noch zwei Metastasen im Körper. Eine kleine in der Lunge und eine im Halsbereich. Die ist noch ziemlich aggressiv. Die versuchen wir zu bekämpfen. Der Patient führt ein ganz normales Leben, hat Familie, einen Sohn. Wenn wir ihn aber nicht therapiert hätten, wäre er nicht am Leben geblieben. "

    Ein typischer Fall, sagt die Ärztin. Schilddrüsenkrebs. Mit aggressiven Metastasen. Der Mann wurde bereits operiert. Nun wird er mit radioaktiven Jod behandelt, um die Metastasen zu zerstören. Bittere Ironie: Die Patienten sollen durch den selben Stoff gesunden, der sich krank gemacht hat: Radioaktives Jod.

    " Es gibt keine Komplikationen wie zum Beispiel nach einer Chemo- oder Strahlentherapie. Solche Reaktionen haben wir bei unseren Patienten nicht beobachtet. Die Patienten fühlen sich ganz normal. Und sie sehen manchmal sogar besser aus als unsere Mitarbeiter hier. "

    Scherzt Larisa Gamolina. Ihre schwarz-umrandeten Augen aber blicken ernst. Der kräftig geschminkte Mund im blassen Gesicht lächelt nicht. Sie weiß: Die Heilungschancen in westlichen Fachkliniken liegen bei über 90 Prozent. Ob diese Ergebnis im weißrussischen Gesundheitssystem zu erreichen ist, bleibt fraglich. Außerdem wird etwa ein Prozent ihrer Schilddrüsenpatienten an Leukämie erkranken - infolge der Radio-Jod-Therapie.

    Vor dem Besuch der Krankenzimmer verteilen die Krankenschwestern Umhänge an die Besucher. Stecken jedem ein Dosimeter ans Revers.

    " Hier ist eine hohe radioaktive Belastung. Nach siebeneinhalb Jahren dürfen wir deshalb in Rente gehen. Die Männer wollen nicht mit Radioaktivtät arbeiten. "

    Aus Angst, wie die Ärztin sagt. Hier arbeiten nur Frauen. Gamolina trägt gleich zwei Dosimeter an ihrem Kittel. Einen an der Brust- und einen an der Seitentasche. Seit acht Jahren ist hier im Dienst. Eigentlich schon viel zu lange. Angesichts der Strahlenbelastung.

    " Wohin soll ich denn gehen? - Wir haben hier bei Null angefangen. Es gab nur einen Raum, wir bekamen sieben Patienten und zwei Fläschchen radioaktives Jod und die Anweisung sie zu behandeln. Wir wussten zuerst gar nicht, wie wir das machen sollten. Die Abteilung ist wie ein eigenes Kind. Und das kann man nicht einfach verlassen. "

    Aufgebaut hat sie die Abteilung gemeinsam mit dem deutschen Otto Hug Strahleninstitut. Einem gemeinnützige Verein der Tschernobyl-Hilfe. Der Verein hat die Ausstattung der Abteilung finanziert und trägt heute noch einen Teil der laufenden Kosten. Studiert hat Larisa Gamolina in Nowosibirsk, dort sind auch ihre beiden Kinder geboren. 1991 ist sie dann, gemeinsam mit ihrem Mann zurück nach Gomel gezogen. Weil hier auch ihre Eltern leben und weil es eine Wohnung gab.Und natürlich alle Hände voll zu tun.

    Auf weißen Pumps eilt Larisa Gamolin den Gang hinunter. Steuert auf die Tür mit der Nummer eins zu. Die Ärztin braucht Kraft, um die Zimmertür aufzuziehen. Sie ist aus Blei.

    Jedes Zimmer habe eine eigene Toilette, aber keine Dusche. Die Toiletten sind an eine spezielle Kanalisation angeschlossen. Weil die Patienten nach der Therapie so stark strahlen, erklärt die Ärztin.

    Das eigentliche Krankenzimmer ist ein kahler, blau-gestrichener Raum. Links ein einfaches Bett, davor eine Stellwand aus Blei. Über dem Bett hängen zwei Plastikkästen: Ein Radio und eine Sprechanlage. Zur Verständigung mit der Ärztin und den Schwestern. Der Tisch, Fensterbank, Telefonhörer - alle Flächen sind mit Plastikfolie abgeklebt, zum Teil sind es aufgeschnittene Tüten. Von einem Schemel erhebt sich eine Frau in geblümter Kittelschürze. Die Patientin ist zur Kontrolle hier.

    Tanja ist sehr zufrieden mit der Behandlung. Alle seien sehr nett, sagt die Mutter von zwei erwachsenen Söhnen.

    " In unserer Abteilung gibt es viele Patienten, wo die Mütter gemeinsam mit ihren Söhnen oder Töchtern behandelt werden. Manchmal therapieren wir hier ganze Familien. "

    Weil sich die ganze Familie damals an einer Stelle hoher radioaktiver Belastung aufhielt. Die Therapie-Plätze hier sind begehrt. Bis Ende 2007 seien alle Betten ihrer Abteilung verplant, erzählt die Ärztin. Und die Warteliste wird wohl noch länger werden. Denn immer mehr Patienten erkranken an Schilddrüsenkrebs. Von bis zu 50.000 Fällen gehen manche Wissenschaftler aus. Larisa Gamolina zuckt mit den Schultern. Sie will keine Prognose abgeben.

    " Was in 10 Jahren sein wird, ist schwer zu sagen. Dieses Experiment hat 1986 angefangen, vielleicht werden andere gesundheitliche Probleme auftauchen. Aber vorhersagen kann ich das heute nicht. "

    Viele denken bei Tschernobyl vor allem an die Ukraine. Dort steht zwar der Reaktor doch hinter der Grenze in Weißrussland waren die Folgen des Reaktorunglücks ungleich schlimmer. Mehrere 1000 Quadratkilometer sind unbewohnbar, davon liegt rund die Hälfte im Rayon (Landkreis?) Choiniki. Doch um die Region scheint sich niemand mehr zu kümmern. Die internationale Hilfe kommt hier schon lange nicht mehr an.

    Die Gefahr liegt heute weniger in der Luft, sondern viel mehr im Boden. An vielen Stellen ist die Humusschicht der Wälder mit dem radioaktiven Element Cäsium verseucht - Pilze und Wurzeln saugen es auf.

    Die Cäsium 137-Konzentration einer einzigen Mahlzeit mit kontaminierten Waldpilzen entspricht der Strahlungsmenge von 10 Röntgenaufnahme der Lunge!

    Wer in Dobrusch einer Kleinstadt in der Nähe von Gomel lebt, lebt mit Bequerel und Cäsiumwerten. Die genaue Kontamination wird regelmäßig in der Zeitung veröffentlicht. Nach wie vor essen die meisten ihr eigenes Obst und Gemüse aus dem Garten, so wie Ekatarina Balinkowa und ihre Familie.


    Übrig blieben die Frauen- die Selbsthilfegruppe

    Der Bus fährt vorbei, das Wasser spritzt. Illia steht am Strassenrand. Wird nass. Und lacht. Seine Mutter guckt genervt. Packt den Sechsjährigen am Plastikgewehr, das über seiner Schulter hängt, zieht ihn hinter sich her.

    Die Plastiktüte in der rechten Hand, Illia an der linken - so überquert Lena mit energischem Schritt die Strasse, geht dann zwischen den grauen, fünfstöckigen Betonbauten hindurch...

    Vor der Stahltür, von der die dunkelgrüne Farbe blättert, warten schon ihre Freundinnen. Der vierjährige Sergej spielt im Hausflur. Die kahlen Steintreppen geht es hinauf, durchs kalte Treppenhaus, bis in den zweiten Stock

    Lena schliesst auf, Sergej und Illja, drängen an ihr vorbei, stürmen ins Wohnzimmer. Das ist hier gleichzeitig Schlaf- und Kinderzimmer. Mit geübtem Griff verwandelt Lena ihr Bett in eine Sitzfläche. Ihre Freundinnen stellen die Taschen in dem kleinen Vorraum vor der Küche ab, ziehen die Schuhe aus. Lena schiebt das Spielzeug auf dem Boden zur Seite. Seit einigen Jahren treffen sich die Frauen regelmässig

    " Es war eine Veranstaltung, da hat sich jede Mutter vorgestellt. Und erzählt, wo sie zur Zeit der Katastrophe war. Und welche gesundheitliochen Probleme sie in der Folge hatten. Und wie sie mit der Angst und der Depression umgegangen sind. "

    Das erste Treffen organisiert das "Grüne Kreuz", eine Schweizer Hilfsorganisation. Lena und Olga sind dabei, dann noch neun andere Frauen. Sie erzählen sich ihre Geschichten. Ihr Leben seit 1986. Umsiedlung, Jobverlust, Krankheiten der Kinder, Väter, die immer mehr trinken, Frauen und Kinder sitzen lassen. Die Kapitel gleichen sich. Die Verzweifelung. Das Gefühl, allein gelassen zu sein. Darum gründen die Frauen den "Club des Vertrauens".

    Immer mehr Frauen drängen durch die Eingangstür. Vor der Küche wächst ein Berg aus Schuhen, Jacken, Mützen und Handschuhen. In dem kleinen Zimmer wird es immer enger.

    Reihum stellen sich die Frauen vor, fünf sitzen auf dem Sofa, sechs drängen sich auf dem Bett. Vor dem roten Wandteppich. Lena steht mitten im Raum, atmet schwer, reicht Kekse in die Runde. Die Kinder spielen unter dem Tisch.

    " In den letzten 20 Jahren habe ich einen Sohn großgezogen, der ist heute 24. Damals hat uns niemand etwas gesagt. Mein Sohn spielte im Sandkasten, es war ein höllisch heißer Tag. Meine Eltern arbeiteten im Landratsamt. Mein Vater hat uns zuhause alle eingesperrt, keiner durfte raus. Den 1. Mai haben wir noch gefeiert. Am 7. Mai wurden alle Kinder nach Minsk geschickt. Die Erwachsenen bekamen 50 Rubel in die Hand, und sollten den Ort so schnell wie möglich verlassen. "

    Aufrecht, mit durchgedrücktem Rücken, sitzt Swetlana auf dem Bett. Zwischen ihren Freundinnen. Ihr Blick ist hart, als sie erzählt. Die Hände hat sie in den Schoss gelegt, über dem schlichten, grauen Rock gefaltet, So fest, dass die Adern hervortreten..

    "Als ich in Minsk ankam, war mein Kind in Klink Nr. 1 untergebracht, dort wurden Gewebe- und Blutproben entnommen. Ich wollte mein Kind da rausholen, doch die Ärzte ließen es nicht gehen. Am Ende musste ich einen Zettel unterschreiben, das ich das Kind auf eigene Gefahr mitnehme. Nirgendwo auf der Welt darf man so etwas ohne die Zustimmung der Eltern machen. "

    Auf dem Krankenblatt steht, dass das Immunsystem ihres vierjährigen Sohnes nur leicht geschwächt ist. Mehr nicht. Swetlana ist skeptisch. Die Ergebnisse der Gewebe- und Blutproben erfährt sie nicht. Nicken in der Runde. Von der Arroganz der Ärzte können hier alle erzählen.

    " Hier haben sich die Frauen versammelt, die wirklich kranke Kinder haben. Sehr viele leiden an Asthma. Das ist die häufigste Kinder-Krankheiten in diesem Gebiet. Wer hier Hilfe weiß, der gibt sie an andere weiter. Wir treffen uns auch um uns auszutauschen... "


    1996 kommt Swetlanas Tochter zur Welt. Auch sie leidet an Asthma. Auch sie bekommt Medikamente vom Grünen Kreuz. Die es hier sonst nicht geben würde.

    "20 Jahre sind vergangen. Es ist ärgerlich, dass die Infrastruktur hier nicht entwickelt ist, es gibt kaum Betriebe wo wir arbeiten können. Deswegen können wir uns keine guten Medikamente leisten. Und auch keine Vitamine. Das haben wir alles nicht. "

    Heute treffen sich mehr als 100 Familien regelmäßig. Einmal im Monat. Im Club des Vertrauens. Eine der wenigen Selbsthilfegruppen Weißrussland. Die Broschüren herausgibt: mit Ernährungstipps, Therapieempfehlungen bei Allergien, Asthmaerkrankungen: Eine Informations- und Kontaktbörse abseits der staatlichen Kanäle.


    " Ich bin vorsichtig nach all dem, was ich erlebt habe. Was ist Vertrauen ?Wir hier haben Vertrauen zueinander, wir sprechen offen über die Probleme, auch mit dem grünen Kreuz. "

    Nicken in der Runde. Da sind sich alle einig. Der Club des Vertrauens gibt ihnen Halt. Die Gemeinsamkeit hilft. Das Reden. Über die Probleme. Und die Unsicherheit. 20 Jahre nach Tschernobyl.

    "Natürlich resigniert man manchmal, da weiß man nicht mehr weiter. Aber der Gedanke Mutter zu sein hilft. Die Machthaber verstehen aber nicht die Problem der Alleinerziehenden. Dieser Club hilft wirklich. Es ist einfacher zusammen als allein "

    Unter der Stahl-Beton Decke des Reaktorblocks 4 sind immer noch 20 Tonnen Kernbrennstoffe. Sicher liegen sie dort nicht, die Konstruktion, der so genannte Sarkophag ist undicht.

    Nach der Reaktorkatastrophe verließ fast die Hälfte der Bevölkerung den Landkreis Choiniki. Vor allem die Jungen gingen, und kehren so die gesamte demografische Pyramide um. Seit einigen Jahren setzt daher der Staat auf eine kontrollierte Zuwanderungspolitik. Sondergelder für belastet Kommunen werden bereit gestellt. Sonderkonditionen für Neu-Ansiedler bewilligt. Mittlerweile zeigt das Programm erste Wirkungen. Etwa in dem Ort Strelitschowa.


    Neues Wohnen im Schatten des Kraftwerks- das Neuansiedelungsprogramm

    Nikolai Nikolaijowitsch zieht an seiner Zigarette. Winkt den drei Männern kurz zu, die auf ihre Schaufeln gestützt, dem Bagger beim Arbeiten zusehen. Direkt vor dem frisch renovierten Haus Nummer 2.

    " Da wird die alte Wasserleitung herausgerissen und eine neue verlegt "

    "Entschuldigen Sie meine Aussprache", sagt Nikolai. Seine Vorderzähne sind gerade abgeschliffen worden. Nun wartet der Kolchosdirektor auf die Prothese. Der hagere Mittvierziger, die Schiebermütze auf dem Kopf, zieht noch einmal an seiner Zigarette. Deutet auf zwei dreigeschossige Gebäude. Grau und verfallen stehen sie an der Strasse, die Fenster vernagelt.

    " Bis zur Katastrophe hatte das Dorf 2900 Einwohner. Heute sind es 900. Davon sind 20 Prozent alte Bewohner. Alle anderen sind zugezogen. Viele kommen aus anderen Sowjetrepubliken: aus Kasachstan, aus der Ukraine, aus Russland, aus Moldawien, insgesamt leben hier 13 Nationen. "

    1986 wird Strelitschowa zwangsevakuiert. Doch die älteren Einwohner kehren schon nach wenigen Monaten zurück, sagt Niolai Nikolaiwitsch. Dann erscheint eine Zeitungsanzeige in den Bruder-Republiken der damaligen Sowjetunion: "Bewohner gesucht" Am Anfang gab es eine Annonce, es war 87,88 da kamen die ertsen Familien die haben sich gut eingelebt. Und nach und nach ihre Verwandte nachgeholt, "

    "Und seitdem wachsen wir", sagt der Kolchosdirektor. Und stapft die Treppen in einem der der frisch-renovierten Drei-Geschosser empor. Mittlerweile werden in Strelitschowa mehr Menschen pro Jahr geboren, als sterben

    Natalija Wassilija öffnet die Tür, bitte in die Wohnung. Ihr Mann verschwindet in der Küche. Seit sieben Jahren leben sie hier. Zusammen mit den beiden Töchtern und Natalijas Schwester. In der Drei-Zimmerwohnung.

    " Wir haben hier Bekannte gehabt, die sind schon früher hergezogen, die haben uns Bescheid gegeben, hier gibt es Wohnungen, hier gibt es Arbeit, hier kannst du gut leben. Und dann sind wir hierhergezogen. "

    Fünf Tage sind sie mit dem Zug nach Westen gereist. Für die geschenkte Dreizimmerwohnung. Im verstrahlten Strelitschowa

    "Nein, die Strahlung hier hat uns nicht beschäftigt, wir haben darüber gar nicht nachgedacht", sagt Natalaja. Und bittet ins Wohnzimmer. Tiefblau leuchtet da das Meer. Auf der Wandtapete.,...

    "Das ist eine normale Fototapete, die haben wir auf dem Markt gekauft. Sie hat uns gefallen. In Kasachstan gibt es doch nur Steppe, Steppe und noch mal Steppe. Hier ist alles kompakt,. Und da fährst Du und siehst nur Steppe. Das Meer haben wir nie gesehen. "

    Nichts als Steppe, das war für sie Kasachstan. Harte Arbeit für schlechtes Geld. Und keine Elektrizität in der Wohnung . Jetzt ist sie Chefbuchhalterin auf der Kolchose. Ihr Mann arbeitet als Fahrer. Die Kinder gehen in die frisch renovierte Schule. Und im Wohnzimmer steht der neue Fernseher..

    Im Schlafzimmer plätschert ein Wasserfall auf der Tapete. Im Kinderzimmer glitzert ein Teich an der Wand, darauf schwimmen zwei Schwäne. Nichts erinnert mehr an Kasachstan. Selbst die Katze, Dina, ist weissrussich. Und die beiden Töchter, 13 und neun Jahre alt, wissen kaum noch etwas über den Ort, an dem sie geboren wurden...

    " Die Kleinen haben kaum etwas gemerkt, manchmal scherzen wir, lass und zurück nach Kasachstan gehen. Aber keiner will das. Hier gefällt es den Kindern besser. Sie haben die Möglichkeit Kurreisen zu machen. Auch ins Ausland zu fahren. Unsere älteste Tochter war schon dreimal in Deutschland. "

    Natalja lacht. Ihre drei Goldzähne funkeln. Unvorstellbar wäre das gewesen in Kasachstan. Mit einer Tschernobyl-Initiative nach Deutschland zu fahren. Zur Kur. Das gibt es nur hier. In Strelitschowa. Ihrer neuen Heimat. Manches aber ist wie früher. Beeren sammeln sie. Und Pilze. Die eigene Kuh steht im Stall gleich neben dem Haus, liefert täglich die Milch. Dass man die nicht trinken soll, das hat Natalja gehört. Es war neu für sie. Sie hat es ignoriert.,

    "Wir achten da nicht drauf. Wir essen, das was wir früher gegessen haben. Wir kochen das, was wir früher gekocht haben. Wir haben nichts geändert. Das einzige, was sich geändert hat, ist, dass die Kinde jetzt zur Kur können. "