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Wenn Oma erzählt

Irene Dische hat sich auf bizarre Geschichten spezialisiert. Das zeigte sich schon in ihrem ersten Erzählband "Fromme Lügen" von 1989, der die in den USA geborene deutschstämmige Schriftstellerin berühmt machte. Der neue Dische-Roman "Großmama packt aus" knüpft gleichsam in einer Replik an "Fromme Lügen" an.

Von Gabriele Killert | 01.02.2006
    Irene Dische hat eine Vorliebe für bizarre Geschichten. Das zeigte sich schon in ihrem ersten Erzählband "Fromme Lügen" von 1989, der die in New York geborene deutschstämmige Schriftstellerin mit einem Schlag berühmt machte. Da ging es in der Titelgeschichte um das Schicksal eines jüdischen Emigranten, der das Opfer seiner eigenen Identitätsfälschung wird. Jahrzehntelang hat er eisern vermocht, seine jüdische Herkunft zu verleugnen, um eines schönen Tages von seiner achtjährigen naseweisen Enkelin wegen seines Oberlippenbärtchens und seiner Aversion gegen alles Jüdische verdächtigt zu werden, der leibhaftige untergetauchte Adolf Hitler zu sein. Eine skurrile Variation über das immergrüne Thema der Wiederkehr des Verdrängten. Seither kann die Autorin, Tochter eines amerikanischen Biochemikers und einer Pathologin mit ihren Erzählungen und Romanen als Sektions- Künstlerin von Lebenslügen gelten, die sie bei deutschstämmigen Emigranten und vorzugsweise in der eigenen Familie aufspürt.

    Der neue Dische-Roman knüpft gleichsam in einer Replik an "Fromme Lügen", ihre erste große Erzählung an. Die Protagonisten und Requisiten: Opa, Oma, die leichenbeschauliche blonde Tochter, Intelligenzbestie von Schwiegersohn, schlimme Enkelin, treue Liesel, reinrassiger Dackel, Reihenhaus in New Jersey nebst linden Sauerkrautdüften am Abend - dies alles finden wir hier wieder. Nur, dass es sich diesmal nicht um fromme Lügen, sondern eher um ketzerische Geständnisse handelt. Die Paranoia-Kritik geht in eine neue, verschärfte Runde. Diesmal hat die Großmutter das Wort, und zwar die ganzen 365 Seiten lang.

    "Großmama" hat bereits das Höchste erreicht, was eine Katholikin, die die irdischen Entfernungen nach Rosenkränzen misst, erreichen mag. Sie ist im Himmel und thront neben Liesel, ihrer tüchtigen Haushälterin, zur Rechten Gottes. Ihre Erinnerungen und guten Ratschläge gehen an die Adresse ihrer "schlechten Enkelin" Irene. Ihr Sorgenkind. Sie ist so widerspenstig und unbelehrbar, gondelte schon mit 16 Jahren allein durch die Welt bis nach Afrika, geriet in die Fänge orientalischer Despoten, deren Zudringlichkeit sie mit knapper Not entkam. Sie spielte die große Abenteuerin, dabei hat ihre Generation die elementarsten Dinge nicht gelernt, die Großmama noch von ihrer Großmutter beigebracht bekam. Zum Beispiel Haltung: Das bloße Auftreten einer Frau müsse, sobald sie irgendwo erscheine, die Männer veranlassen, unwillkürlich an ihre Hose zu greifen und zu prüfen, ob sie auch zugeknöpft ist. Den Respekt dieser Geste haben Großmama sogar die Nazi-Schergen entgegengebracht.

    Carl wäre ohne ihr einschüchterndes Auftreten verloren gewesen. Carl ist ihr wunder Punkt. Als erzkatholische Rheinländerin aus gutem Hause hätte sie ihn nicht heiraten dürfen. Es war Krieg. Ihre glücklichste Zeit, anno 1917. Sie assistierte im Feldlazarett dem Chirurgen Carl Rother und verliebte sich in seine schwarzen Augen und sein anmutiges Hantieren mit der Knochensäge. Erst als er die Operationsmaske abnahm, kam seine schrecklich große jüdische Nase zum Vorschein. Da war es schon um sie geschehen. Und obwohl er aus ehrlich empfundenen Antisemitismus noch vor der Heirat zum Katholizismus übertrat, hat sie die Familie damit schwer "nach unten" gezogen.

    Wir lernen in Disches Roman die Welt mit den Augen dieser rheinischen Kampfnatur sehen. Eins steht für sie fest: Männer sind schwach und verstockt, eine ungute Mischung. Wenn es nach Carl gegangen wäre, wäre er in Breslau, wo er eine schöne Stellung als Chirurg hatte, geblieben und als "Ehrenarier" mit den anderen Mitgliedern seiner Familie deportiert worden. Die rechtzeitige Flucht nach Amerika hat er Großmama und Liesel zu verdanken, die beide später nachkamen. Sie liebte ihn und hielt selbstverständlich zu ihm trotz des wachsenden Drucks von Seiten der Nazis, auch in der eigenen Familie. Doch bei aller Liebe, die physische Vereinigung kostete sie aber immer viel Überwindung. Es kam ja auch nichts dabei heraus. Bei seinen Röntgen-Experimenten hatte er sich verstrahlt und so brachte er nur eine Tochter zustande: Renate, auch so ein Kapitel für sich. Furchtbar energisches Geschöpf, mit viel zu vielen Talenten. Großmama brachte ihr nützlichere Fertigkeiten bei, zum Beispiel "blöd gucken".
    Das allerdings taten die Eltern dann, als ihre eigensinnige Tochter sich für die Pathologenlaufbahn entschied. Und dann schleppt sie eines Tages diesen Dische an, 25 Jahre älter, ein hochintelligenter Eigenbrötler mit entsetzlichen Tischmanieren- und heiratet dieses "blöde Genie". Ein groteskes Arrangement: Er hat die Nase nur in seiner Forschung, sie schnippelt den ganzen Tag an Leichen herum.

    Kein Wunder, das die beiden Kinder Carlchen und Irene mit jedem Tag sonderbarer werden. Wenn die Oma nicht wäre, wüchsen sie ganz im Leichenschauhaus auf. Aber Großmama hat selbst genug Sorgen. Eifersucht auf Carls Geliebte. Trauer um Carls ermordete Verwandtschaft. Bluthochdruck. Sie wiegt 220 Pfund infolge Plätzchen-Abusus. Jedes Jahr sieht sie ihr letztes Stündlein gekommen und wird natürlich uralt. Dafür stirbt Carl an Krebs. Es stirbt der Drahthaardackel. Renates Ehe geht in die Brüche. Und sie bringt es fertig, wieder einen Juden zu heiraten, und später noch einen, beides schreckliche Antisemiten. Gott strafte diese Familie, in der schon lange niemand mehr betete - außer Großmama. Sie betete ununterbrochen, aber Gott erhörte ihre Gebete nicht. Es ist ihr, selbst noch im Himmel ein Rätsel, warum Gott sie "dazu auserwählt hat, derart im Judentum zu versinken".

    Großmutter, was hast du für eine herrlich große Klappe? Damit ich besser auspacken und euch Gutmenschen erschüttern kann. Großmama redet natürlich nicht, wie ihr der Schnabel gewachsen ist. Wer hier redet, mit kunstvoll verstellter Stimme und wie der Wolf im Märchen unter die Haube der Großmutter geschlüpft ist, das ist die schlimme Enkelin Irene, die Romanautorin, die einen Heidenspaß daran hat, die übliche jüdische Leidensgeschichte auf den Kopf zu stellen, einmal anders als "korrekt" zu erzählen. Das Leben ist auch nicht korrekt. Und die Dinge sind oft nicht so einfach wie die terribles simplificateurs des Meinungsfeuilletons sie verkomplizieren, indem sie überall Antisemiten aufspüren, die sie selbst herbeigeredet haben. Hier lässt die Autorin mit durchtriebenem, bisweilen glacialem Humor eine Erz-Schelmin und Judenfeindin zu Wort kommen, die sich abrackert für ihre anstrengende Mischpoke mit einem herzlichen Widerwillen, der von Liebe praktisch nicht zu unterscheiden ist.

    Irene Dische: Großmama packt aus.
    Aus dem Amerikanischen von Reinhard Kaiser
    Hoffmann und Campe 2005
    365 Seiten