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Wer des Menschen Wolf ist

Der Wolf zählt zu den fleischfressenden Raubtieren und bevölkerte früher zahlreich auch die mitteleuropäischen Wälder. Er flößt den Menschen Angst ein. Das allerdings war und ist zugleich das Faszinierende an ihm. Nina Blazon und Maggie Stiefvater haben den Wolf als Motiv in ihren Büchern aufgegriffen.

Von Ina Nefzer | 27.10.2012
    Der Wolf – die Spezies "canis lupus" – zählt zu den fleischfressenden Raubtieren und bevölkerte früher zahlreich auch die mitteleuropäischen Wälder. Dann aber wurde er in unseren Breiten von Menschenhand ausgerottet. Immer schon hat der Wolf dem Menschen große Angst eingeflößt. Das allerdings war und ist zugleich das Faszinierende an ihm. Diese Aura des Unheimlichen, Wilden und Gefährlichen. Man konnte alles Dunkle und Abgründige auf ihn projizieren. Und jeder hat es sofort geglaubt.

    Das macht den "Wolf" seit alters her zu einem beliebten, man könnte auch sagen: dankbaren Motiv. Über Jahrhunderte hinweg wurden Zerrbilder seiner Eigenschaften und Wesenszüge entworfen. Diese Wolfsbilder spiegeln nicht die Realität, sondern die Ängste und Fantasien der Menschen. In Märchen, Sagen, Legenden und Mythen ist er die reine Verkörperung des Bösen. Gevatter Wolf ist schlau, hinterlistig, verwegen und gefährlich. Einer, der einem ans Leben will. Für die Kirche der Teufel in Person. Seine Opfer: mitschuldig.

    "Eine wilde Bestie … tauchte hier auf…. Wo immer sie sich zeigt, hinterlässt sie eine blutige Spur der Grausamkeit.
    Doch Gottes Gerechtigkeit, so sagt der heilige Augustinus, lässt niemals zu, dass Unschuldige Qual erdulden. Nur wer gefehlt hat, muss leiden. Dieser Grundsatz lässt euch keinen Zweifel: Euer Unglück kann nur aus euren Sünden kommen."


    Wovon der Hirtenbrief des Bischofs von Mende spricht, hat sich zwischen 1764 und 1767 in Südfrankreich auf dem Gebiet der heutigen Auvergne zugetragen. Als dort die sogenannte "Bestie von Gévaudan" über drei Jahre hinweg ein Blutbad anrichtete und etwa 100 Menschen, vornehmlich Frauen und Kindern, die Schafe hüteten, grausam das Leben nahm, glaubte man von Anfang an an einen Wolf. Ob das stimmt oder wer die Gräueltaten tatsächlich verübte, ist bis heute nicht geklärt.

    Dieser Stoff faszinierte die Stuttgarter Autorin Nina Blazon. In ihrem neuen historischen Roman mit dem Titel "Wolfszeit" hat sie sich auf die Spuren der Bestie begeben und das Unmögliche literarisch wahr werden lassen: Sie liefert – auf atemlos spannende Weise - eine fiktive Rekonstruktion des Tatgeschehens samt finaler Enthüllung der Bestie. Eine Ermittlungsgeschichte, die aber, dank umfangreichster Recherchen der Autorin, immer auf dem Boden historischer Fakten bleibt. Im Roman lässt sie ihre Hauptfigur, den jungen Wissenschaftler Thomas Auvray, unterschiedlichste Möglichkeiten durchspielen, Fährten verfolgen und immer wieder neue Theorien auf ihre Wahrscheinlichkeit abklopfen. Blazon zeigt das Geschehen keineswegs nur aus der Perspektive des Ermittlers, sondern schildern aus der Sicht unterschiedlicher Beteiligter, auch der Opfer. So wechseln sich Tatschilderungen unentwegt mit anderen Erzählsträngen ab, allesamt liefern sie ständig neue Informationen und nachträglich die Enthüllung des bereits Geschehenen. Einer der Hauptverdächtigen, bis heute, ist der Wolf oder sollte man vielleicht besser sagen: sein literarisches Alter Ego, der "Böse Wolf". Denn im Gespräch mit der Wolfsexpertin Elli Radinger fand die Autorin heraus:

    "Dieses Angriffsverhalten, das von den Opfern damals beschrieben wurde, die, die einen Angriff überlebt oder beobachtet haben: Es entspricht überhaupt nicht dem Verhalten eines Wolfes. … ein Wolf würde sich auf die Schafe stürzen, das als erstes. Er würde nie über offenes Feld auf einen Menschen zu galoppieren und ihn anspringen. Dazu sind Wölfe erstens zu scheu; der Mensch steht auf zwei Beinen, wie ein anderes Raubtier wie zum Beispiel ein Bär. Ein Wolf käme nie auf die Idee, ein anderes Raubtier anzugreifen. Es entspricht überhaupt nicht seinem Beuteschema. Zum anderen würde kein Wolf ein solches Blutbad anrichten. Ein Wolf tötet schnell und möglichst effektiv mit einem Drosselbiss. Die Opfer, die wir von diesem Fall kennen, die wurden zerfleischt."

    Ein Tatmuster, das - so die Wissenschaftlerin – jedoch auf Wolfmischlinge deuten könnte. Ob Wolf, Wolfshund oder unbekannte Bestienzüchtung - im Laufe seiner Ermittlungen stellt Thomas Auvray fest, dass die Verletzungen der Leichen ohnehin nicht allein von einem Tier stammen können. Ein erster Verdächtiger wird verhaftet. Einer, der selbst ganz verwildert aussieht mit grauem Haarkranz und einer Kette aus Wolfszähnen um den Hals.

    Als Thomas Auvray ihn im Gefängnis trifft, sitzt er ihm reglos, auf Hände und Knie gestützt, "wie ein zum Sprung bereites Raubtier"454 gegenüber:

    "Wölfe haben eine wilde, reine Seele", stieß er hervor. "Sie sind gut! Gut!"

    "Ich gehe zu den Toten und rufe ihn mit dem Zeichen, opfere den Feen und den Matronen einen Wolfszahn und bitte sie, ihn zu besänftigen. Ich rette seine Kinder vor Fallen und Gifte, damit er gnädig ist und unsere nicht mehr verschlingt."


    Der Alte hinterlässt an den Tatorten in Bäume geritzte Zeichnungen. Ein Opfer für "Lo Lop", den Wolfsgott. Dieser keltisch geprägte Aberglaube, der innerhalb der bäuerlichen Bevölkerung im Gévaudan noch sehr lebendig war, hatte ein anderes Wolfsbild: das des stolzen, schönen Wildtiers mit magischen Kräften.

    "Der keltische Wolfsgott war natürlich eine Gottheit, das heißt, er konnte strafen, er konnte schrecklich sein, er konnte auch ein Verschlinger sein wie viele andere Tiergottheiten auch. Aber er konnte eben auch heilsam, wirksam sein, er konnte auch gut sein, er konnte den Menschen helfen und die Menschen leiten. Er hatte … beide Gesichter, das Dunkle und das Helle."

    Es ist genau diese Wandelbarkeit oder Doppelgesichtigkeit, um die es im Roman "Wolfszeit" geht, nicht nur beim Wolfsmotiv, sondern auf unterschiedlichsten Ebenen. Auf faszinierende Weise stellt Nina Blazon die wilde, ursprüngliche und ungezähmte Natur und bäuerliche, keltisch geprägte Wesenart naturwissenschaftlichem Denken, der beginnenden Aufklärung und adeliger Lebensweise gegenüber. Und charakterisiert so das Leben im ausgehenden 18. Jahrhundert als eine von Dualitäten geprägte Zeit des Umbruchs. Mit dem Kunstgriff, das Romangeschehen aus wechselnden Perspektiven zu schildern, holt sie das Doppelgesichtige auf die Ebene der persönlichen Wahrnehmung. Und kann bei der Wiedergabe von Augenzeugenberichten Subjektives – wie den Moment des Verwandelns - nahelegen: zum Beispiel dass die Bestie auf vier Pfoten kommt und auf zwei Beinen geht. Da liegt die Vermutung nahe, der Täter sei ein "Mann-Wolf" oder "Mensch-Wolf", besser bekannt unter dem Begriff "Werwolf".

    "Was mich bewogen hat, diese Fantasy-Auflösung nicht zu verwenden für diesen Roman, war Folgendes: Ich hatte mich eingehend mit der realen Mordserie beschäftigt. Und ich fand es so spannend, mich mit dem Profiler Stefan Harbort zusammenzusetzen, der diese Tatmuster analysiert hat. Und ich fand es viel spannender, mich hier darauf zu konzentrieren, was hätte wirklich passiert sein können damals, als in die Fantasy abzudriften und zu sagen: Gut, dann machen wir eine romantische Werwolf-Geschichte daraus oder lassen eine Bestie erstehen, wie es sie garantiert nie gegeben hat."

    Die Frage nach der Bestie wird – psychologisch gesehen - zur faszinierenden Suche, wie Böses entsteht und der Titel "Wolfszeit" zur Metapher.

    "Ich wollte im Roman explizit nicht mit diesen Klischees spielen. Dieser Rotkäppchenwolf, dieser böse Wolf, das sind Märchenelemente. Ich hab sie als Märchenelemente eingebracht, aber ich wollte ein realistisches Bild vom Wolf zeichnen."

    Der Wolf darf also bleiben, was er ist: ein Tier. Mehr wird nicht verraten.

    Auch die amerikanische Autorin Maggie Stiefvater erzählt im ersten Band ihrer Romantrilogie "Nach dem Sommer" von einem Wolfsangriff:

    "Ich erinnere mich, wie ich im Schnee lag, ein kleines, warmes Bündel, das langsam kälter wurde. Die Wölfe drängten sich um mich, sie leckten und bissen, zerrten an meinen Gliedern… Der Moschusgeruch ihres Fells erinnerte mich an nassen Hund und brennendes Laub, vertraut und bedrohlich zugleich… Einer der Wölfe stupste mir mit der Schnauze in die Hand, dann an die Wange. Sein Schatten fiel auf mein Gesicht. Mit seinen gelben Augen sah er mich an."

    Das Mädchen Grace überlebt, sie weiß nicht wie. Seither sucht und wartet sie auf den Wolf mit den gelben Augen. Ihren Wolf. Der sechs Winter lang immer wieder am Waldrand, am Ende ihres Gartens auftaucht. In den Sommern bleibt er verschwunden. Bis zu dem Tag, an dem die Männer im amerikanischen Provinznest Mercy Falls wieder einmal das im umgebenden Waldgebiet lebende Wolfsrudel jagen:

    "Ich roch ihn, noch bevor ich ihn sehen konnte. … Da war er – halb sitzend, halb liegend lehnte er an der Glastür. Mir stockte der Atem, als ich mich ihm zögernd näherte. Sein glänzender Pelz war verschwunden, er war nackt…. Er war rot verschmiert vom Ohr den Hals hinunter bis zu den erschreckend menschlichen Schultern – wie eine tödliche Kriegsbemalung. Ich kann nicht sagen, woran ich ihn erkannte, aber ich zweifelte keine Sekunde, dass er es war."

    Stiefvater gelingt es, das übernatürliche Sujet in ihre realistische Romanhandlung nahtlos einzubinden. Ihre Werwölfe sind, in Menschengestalt so unterschiedlich, wie Menschen sein können, und als Wölfe instinktgeleitete Wesen, Waldtiere – beiden gemeinsam sind gewisse charakterliche Merkmale, ein außerordentlich guter Geruchssinn und die Augen. Daran kann man sie erkennen.

    Die drei Bände - "Nach dem Sommer","Ruht das Licht" und "In deinen Augen" – erzählen in erster Linie die berührende und zugegebenermaßen sehr romantische Liebesgeschichte von Grace und Sam. Die beide verzweifelt versuchen, entweder als Wölfe oder als Menschen beieinanderzubleiben. Doch hinter der Liebesgeschichte wird etwas eigentlich viel Faszinierenderes handlungsreich inszeniert und psychologisch ausgelotet: wie Grace, Sam und ein paar Jugendliche mehr damit fertig werden, eine Existenz zwischen zwei Welten zu führen. In zwei Körpern, zwei Lebensformen. Und keinen Zustand wirklich festhalten zu können.

    Spannend vergegenwärtigt die Autorin die wechselhaften Seins-Zustände ihrer Hauptfiguren auch erzählperspektivisch. Mit den Kapiteln wechseln sich die Protagonisten in der Schilderung des Geschehens ab. Während einer Verwandlung beispielsweise wird veranschaulicht, wie mit der menschlichen Existenz die Fähigkeit zu denken und zu sprechen immer mehr entgleitet:

    "Sie sagte etwas, ich verstand es nicht. Es tat weh, alles tat weh. Leise fing ich an zu wimmern. Sie sprang auf und lief den Flur hinunter. Und dann war sie verschwunden. Ich stöhnte und legte den Kopf auf die Knie. Nein, nein, nein, nein. Da war sie wieder. Sie nahm mich bei den Handgelenken und ihre Lippen bewegten sich. Formten unverständliche Laute. Laute, die für die Ohren von jemand anderem bestimmt waren. Ich starrte sie an."

    Die körperliche Zerrissenheit der jugendlichen Werwölfe wird auch biografisch vertieft. Denn die Elternhäuser spielen eine wichtige Rolle bei dem, um was es in dieser Romantrilogie letztlich geht: um Selbstbestimmung. Um Adoleszenz.

    Den Wolf in sich besiegen und integrieren heißt Erwachsenwerden. Das in den Figuren lauernde Werwölfische dient als Metapher für die Pubertät. Für die Zeit, in der man hinausgeht in die Wildnis und völlig neue Anteile an sich entdeckt. Anteile, die einem als Kind Angst machen und als Jugendlichen faszinieren.

    Erwachsenwerden, das veranschaulichen die beiden vorgestellten Wolfsromane auf ihre je eigene faszinierende Weise, die kaum unterschiedlicher sein könnte, gelingt nur, wenn wir lernen, duale Anteile in uns zu versöhnen: das Wilde und das Zivilisierte, das Warme und das Kalte, dunkel und hell, Tier und Mensch.


    Nina Blazon: "Wolfszeit", Ravensburger 2012, 17,99 Euro.
    Gekürzte Lesung von Simon Jäger, Silberfisch 2012, 24,95 Euro.

    Meggie Stiefvater: "Nach dem Sommer", 2012, "Ruht das Licht", 2011, "In deinen Augen", 2012. Alle: Aus dem Amerikanischen von Jessika Komina und Sandra Knuffinke, Script5, 18,90 Euro

    Gekürzte Lesungen von Annina Braunmüller, Max Felder, Johannes Raspe, Gabrielle Pietermann, Der Audio Verlag, Nach dem Sommer 22,99 Euro, Ruht das Licht 22,99 Euro, In deinen Augen 19,99 Eur.