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"Wer heute die Friedrichstraße zurücklegen muss, nimmt besser die U-Bahn"

Welcher Bauherr würde einen Architekten beschäftigen, der des räumlichen Sehens nicht mächtig wäre? Glaubt man Wolfgang Pehnt, dann haben sich die Pioniere der Moderne den idealen Baumeister als Zyklopen vorgestellt, als einäugigen Riesen. Pehnt ist aufgefallen, dass in Beschreibungen des Palazzo Pitti in Florenz, der nach 1900 zum Referenzbau eines rationalistischen Monumentalstils avancierte, mehrfach das Adjektiv "zyklopisch" begegnet. 1911 stand der vierundzwanzigjährige Erich Mendelsohn im Garten des Palastes auf der linken Arnoseite und schloss von den "zyklopenhaften Blöcken des Erdgeschosses" auf den "ungestümen Reformwillen zur Macht", der die Auftraggeber beseelt haben musste. Im gleichen Jahr hielt der Philosoph Leopold Ziegler am selben Ort sein Staunen fest angesichts der "fast zyklopisch ungefügen Masse" grob behauener Quader "von ungeheurer Ausladung".

Von Patrick Bahners | 21.06.2006
    Humanistischen Formenschmuck wie etwa eine gliedernde Pilasterordnung hatten sich die Kaufherren gespart, die diese quasifürstliche Residenz emporziehen ließen. Ökonomie ist imposant: Der Brunelleschi zugeschriebene Palast stand Pate für die kompakte Großkörperlichkeit des Mannesmann-Gebäudes von Peter Behrens, das 1912 am Düsseldorfer Rheinufer eingeweiht wurde. Die Großunternehmen hatten Repräsentationsbedürfnisse, deren Erfüllung solange Diskretion verlangte, wie die Wirtschaft im wilhelminischen Staat als halblegitime Gegenmacht galt. Lösungen der diffizilen Aufgabe gab die "triumphal-verschlossene Architektur" der florentinischen Stadtpaläste an die Hand. Immer wieder gelingt Pehnt die Prägung solcher Formeln, die den Leser sehen lassen, welche Spannungen durch das Gebäude, das der Autor gerade vorstellt, ausgedrückt und unterdrückt werden.

    Ähnlich wie Vasari mit Biographien berühmter Künstler die Kunstgeschichte begründete, hat Pehnt sein Kompendium der modernen Architekturgeschichte als Chronik der illustren Bauwerke angelegt, die im zwanzigsten Jahrhundert auf deutschem Boden errichtet oder entworfen worden sind, wobei auch notorische Fälle schlechter und korrumpierter Architektur Berücksichtigung finden. Zwar erzieht Pehnt zum Hinsehen, indem er sogar dem Bochumer Universitätscampus des Büros Hentrich, Petschnigg und Partner einen Reiz abgewinnen kann, nämlich "attraktive Blicke in die Landschaft von den Terrassen der Substruktionen". Aber der Alleskenner macht uns nicht weis, es sei nur ein banausisches Vorurteil, dass es Bausünden gibt. Über Baukultur darf jedermann mitreden, denn jedermann braucht ein Dach über dem Kopf. Ein Buch für den "Hausbedarf" im doppelten Sinne möchte Pehnt vorlegen. Beim Blättern fühlt man sich in einen Dia-Vortrag versetzt, nur dass diesem Deutschlandreisebericht alles Weitschweifige und Beschauliche abgeht. Ein großer Teil der etwa achthundertfünfzig Abbildungen sind Fotografien, die der Autor selbst gemacht hat. Die Präzision der Kommentare ist beachtlich, als hätte Pehnt Stichworte für ein Preisgericht niedergeschrieben, das nach Sichtung sämtlicher Gesellenstücke moderner deutscher Baukunst sich für ein Meisterwerk entscheiden müsste. Auch Pehnts monumentales Opus imponiert durch ökonomische Raumausnutzung, wobei die Gliederung plastischer gerät als bei den Kopien der Pitti-Fassade in der Versicherungswirtschaft.

    Die politischen Zäsuren geben die Kapitelgrenzen vor: Das Buch lässt sich als deutsche Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts lesen, deren erste Lektion die Kontinuität ästhetischer und technischer Ambitionen über die Brüche von Macht- und Besitzverhältnissen hinweg ist. Man erkennt in der gedrungenen Wucht der wilhelminischen Heldendenkmäler, im zyklopischen Gestus einschüchternder Erinnerungspolitik schon den Bunkerbau des Zweiten Weltkriegs, wenn man erfährt, dass Wilhelm Kreis, der 1899 im Wettbewerb der Deutschen Studentenschaft für eine Bismarckgedenkstätte alle drei ersten Preise gewonnen hatte, 1941 zum Generalbaurat für die Gestaltung der deutschen Kriegerfriedhöfe ernannt wurde. Nicht für alle Maßnahmen des Stildenkmalschutzes hat die Ideologiekritik den passenden Schlüssel parat; als wiederverwendbare Lösungen erweisen sich gerade die zweideutigen Elemente. Umgekehrt gilt: Nichts veraltet so schnell wie die didaktische Architektur, die eine Lesbarkeit oder besser gesagt: Übersetzbarkeit der gebauten Welt behauptet. Der Kalte Krieg brachte solche weithin sichtbaren Zeichensprachgebilde massenhaft hervor: die schiefwinklige Stellung der Wohnblocks in der ursprünglichen Planung für das Westberliner Hansaviertel als Metapher der Freiheit oder, noch simpler, das dreidimensionale Piktogramm des aufgeschlagenen Buches von Hermann Henselmanns Leipziger Universitätshochhaus.

    Das Pitti-Prinzip, die Rücknahme der vertikalen Ordnung, trieb Erich Mendelsohn so weit, bis die klassische Hierarchie buchstäblich gekippt war: Die Glasfassade seines Kaufhauses Petersdorff in Breslau wird durch waagerechte Bänder gegliedert. Aus einer pathologischen Betrachtung des modernen Daseins leitete Mendelsohn die Funktion dieses seines Markenzeichens her: Die Eintönigkeit war Abwechslung von der Abwechslung. "Der Mensch unserer Zeit, aus der Aufgeregtheit seines schnellen Lebens, kann nur in der spannungslosen Horizontalen einen Ausgleich finden." An einer anderen Stelle von Mendelsohns gesammelten Schriften findet sich freilich zur Abwechslung die entgegengesetzte Deutung: Da gelten, wie Pehnt resümiert, "die Horizontalen als dynamischer Ausdruck des Zeitgeistes, als Abbild des schnell dahinschießenden modernen Lebens, vor allem wenn sie an der Randbebauung vielbefahrener Straßenzüge auftreten".

    Zyklopisch war vor hundert Jahren das klotzige Eckhaus, das sich dem Flaneur in den Weg schob. "Verstöße gegen bestehende städtebauliche Maßstäbe waren nicht mehr tabu. Auch darin war der Palazzo Pitti ein Vorbild, wenn auch kein rühmliches." Längst wirken in unseren Städten die blinden Fronten der Büropaläste schrecklicher als die vorspringende Stirn des Bankhauses, in dem ein einäugiger König, ein Bismarck der Finanzwelt, zu residieren vorgab. In der neuen alten deutschen Hauptstadt müssen die Kaufherren ihren Machtwillen verbergen. "Der Weg entlang der schnurgeraden Friedrichstraße mit ihren glattpolierten Granit- oder porösen Travertinfassaden ist lang und monoton. Brüche und Sprünge zwischen Neu und Alt, Hoch und Niedrig, Hässlich und Gelungen und die Vitalität, die alte Aufnahmen zeigen, sind nur noch Erinnerung. Hier soll es einmal mehr Lokale als Hausnummern gegeben haben?" Der Senatsbaudirektor befahl die Rekonstruktion, und die Reform, deren steinernes Gehäuse Mendelsohn in Florenz bewunderte, bleibt in Berlin unbehaust. Sprachlos versucht der neue Zyklopenstil die Kritik zu machen, indem er sich selber kritisch nennt. Wolfgang Pehnt, der Vielgewandte, empfiehlt, um der Ermüdung der Augen vorzubeugen, eine ganz einfache List: "Wer heute die Friedrichstraße zurücklegen muss, nimmt besser die U-Bahn, Linie 6."