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Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen?

Gesellschaften standen immer schon vor der Frage, wer angesichts begrenzter materieller Ressourcen versorgt werden sollte und konnte. Sind diejenigen, die in existentielle Not geraten sind, selber schuld, weil sie nicht arbeiten wollen? Wie geht die Gesellschaft mit Menschen um, die vermeintlich trotz Arbeitsfähigkeit auf Kosten ihrer Mitmenschen leben? Fragen, denen sich der Sonderforschungsbereich "Armut und Fremdheit" an der Universität Trier widmet.

Von Peter Leusch | 15.05.2008
    Lutz Raphael: " Heutzutage ist man immer gern sehr schnell mit dem Argument, wir hätten eine ganz andere Armut als etwa vor 150 Jahren. Auf den ersten Blick stimmt das natürlich, wenn man Bilder von Armut vor 150 Jahren vor Augen hat, sieht man hungernde Kinder: ein klassisches Klischee - es ist auch nicht falsch, wenn man aber genauer hinschaut, dann gibt es bestimmte Ähnlichkeiten in der Grundproblematik von Armut heute und vor 150 Jahren. Das Grundproblem bei Armut bleibt, dass sie über mangelnde Arbeitsmöglichkeit in eine Lage kommen, in der sie am sozialen Leben nur in einem eingeschränkten Maße teilhaben, - Stichwort: relative Armut, das ist schon vor 150 Jahren in den europäischen Zusammenhängen der normalere Fall. "

    Der Trierer Historiker Lutz Raphael entdeckt überraschende Parallelen im Bild der Armut früher und heute. Minderwertige Kleidung, schlechte Wohnverhältnisse, Kinder, denen man keine Ausbildung finanzieren kann, - und wenn doch, muss man spätestens bei der Klassenfahrt passen: Sozial Schwache leben am Rande der Gesellschaft. Vor allem Arbeitslosigkeit führte - auch früher schon - geradewegs dorthin.

    " Lohnabhängige Arbeit in Städten ist nicht ein Phänomen des 19. und 20. Jahrhunderts, das haben Sie schon in der frühen Neuzeit, da gibt es die Handwerker, die Handlanger, die in den größeren Städten auch von ihrem Tagewerk leben müssen, und wenn keine Aufträge kommen, sitzen die auch in dieser Situation prekärer Existenz.

    Nicht vollständige Familien, wie wir das vornehm nennen, das sind auch Phänomene, die früher ganz wichtig waren, zum Beispiel Alleinerziehende mit Kindern, sind auch im 19. sind auch im 16 Jahrhundert typische Fälle von Armut, natürlich sind die Ursachen, die das produziert haben, im einzelnen andere, aber die Situation ist durchaus vergleichbar. "

    Lutz Raphael arbeitet in einem interdisziplinären Forschungsverbund, der sich in insgesamt 17 Teilprojekten mit dem Thema Fremdheit und Armut quer durch die Geschichte auseinandersetzt - auf neue wissenschaftliche Weise. Und zwar werden Gegenwartsphänomene wie Langzeitarbeitslosigkeit, Migration und ungesicherte Lebensverhältnisse - das so genannte neue Prekariat in die Geschichte zurückgespiegelt: Hat es Vergleichbares im Mittelalter oder in der Antike auch schon gegeben?

    In dem kulturwissenschaftlichen Forschungsverbund geht es aber nicht darum, die ökonomischen oder sozialen Ursachen von Armut aufzuklären, sondern darum, was Armsein zu einer bestimmten Zeit bedeutet, und vor allem wie eine Gesellschaft mit ihren Sozialschwachen umgeht.

    Die Historikerin Monika Escher-Apsner sieht in den Fürsorgediskursen ein bestimmtes Denkschema, das die Geschichte bis heute durchzieht:

    " Da finden wir in der Tat Argumentationen, die sich über 2000 Jahre gehalten zu haben scheinen, da geht es darum, wer ist der Unterstützung würdig und wer ist unwürdig. Also wir haben es im frühen und im hohen und späten Mittelalter mit der Frage zu tun, wer ist der wahre, der wirklich bedürftige Bettler und wer ist der falsche, der starke Bettler, das heißt, der arbeitsfähig wäre.

    Wer wäre in der Lage, einen Beitrag zur Gesellschaft zu leisten und wählt hingegen den Ausweg des Müßiggangs, - und das ist ein Vorwurf, den wir auf theologischer Seite finden, den wir aber auch im säkularen, herrschaftlich-administrativen Bereich finden: Das beginnt bei Paulus: Wer nicht arbeiten will, soll auch nicht essen. - aus dem zweiten Brief an die Tessalonicher, aber das ist auch ein Ausspruch, den wir von Franz Müntefering im letzten Jahr gehört haben: Nur wer arbeiten will, soll auch essen. "

    Würdiger Arme oder Sozialschmarotzer - diese Unterscheidung begegnet in wechselnden Kleidern historisch immer wieder. Dabei charakterisiert den würdigen Armen, dass er sich bemüht und Verantwortung für sich übernimmt, und dass er eine Form von Gegenleistung erbringt. So wurde vom Almosenempfänger im Mittelalter erwartet, dass er für das Seelenheil des Gebenden betet.

    Aber ist ein Gemeinwesen nicht in jedem Fall für seine Mitglieder verantwortlich?

    Aus diesem Grund löste sich der moderne Sozialstaat vom Prinzip der Gegenleistung, erklärt der Trierer Politikwissenschaftler Winfried Thaa:

    " Durch den Staatsbürgerstatus erwirbt man sich in den modernen Sozialstaaten ein Recht auf bestimmte Sozialleistungen, am stärksten in den skandinavischen Ländern, aber das spielt auch bei uns eine große Rolle. Und was wir bei uns seit 10, 15 Jahren beobachten können, ist dass diese enge Kopplung von Sozialleistungen an den Sozialbürgerstatus gelöst wird, und zum Teil ersetzt wird durch dieses Prinzip von Leistung und Gegenleistung. Es reicht nicht mehr aus, dass man Staatsbürger ist und damit den Anspruch hat, ein bestimmtes Minimalniveau an Leistungen zu empfangen, was ein menschenwürdiges Leben sichert und einen befähigen soll, am politischen und gesellschaftlichen Leben teilzunehmen, sondern man muss darüber hinaus bestimmte Leistungen erbringen, was in dieser Parole vom Fördern und Fordern, die über den Hartz-IV-Reformen stand, ihren Ausdruck fand. "

    Wir erleben also gegenwärtig eine partielle Rücknahme des Sozialstaates, der für alle da ist, zugunsten des älteren Prinzips der Gegenleistung, das streng unterscheidet, wer der Hilfe würdig ist und wer nicht.

    Das härtere Klima der Globalisierung trifft die sozial Schwachen. Auch hier entdeckt das Trierer Forschungsteam um den Lutz Raphael einen fatalen Mechanismus:

    Lutz Raphael: " Bei ökonomischen Schwierigkeiten, bei Nichteinlösung dieses Anspruchs über Arbeit in die Gesellschaft hineinzukommen - der würdige Arme macht das ja, wenn die Gesellschaft aber zum Beispiel diese Arbeit nicht hat, und das gab es auch im 19. Jahrhundert, dann entsteht ganz rasch auch eine Gegenwehr der Gesellschaft, die moralisiert, dadurch dass sie dem Einzelnen die Schuld an dieser Nichtmöglichkeit zuschreibt, und ihm dann ein Schmarotzertum versucht anzuhängen - dieser merkwürdige Prozess einer Moralisierung in Zeiten wo eigentlich kein Grund zur Moralisierung ist. "

    In Krisenzeiten werden die objektiven Schwierigkeiten den Verlierern subjektiv angelastet: Wer keine Arbeit findet, sei faul und selber schuld. Wie könnten die Sozialschwachen dieser Moralisierungsfalle herauskommen? Wohl am ehesten wenn sie eine politische Stimme finden, die die Dinge zurechtrückt und ihre Interessen vertritt. Nach solchen Möglichkeiten fragt im Rahmen des Trierer Forschungsverbundes ein politikwissenschaftliches Projekt, an dem Markus Linden mitwirkt:

    " Wir beschäftigen uns mit der politischen Repräsentation von Fremden und Armen. Und haben dabei insbesondere im Blick, dass wir in der Amtszeit von Gerd Schröder nicht nur was die Politikinhalte, sondern auch was die Politikform anbelangt, neuere Ansätze zu verzeichnen haben. Und da beziehen wir uns vor allem auf die Kommissionen, die von Schröder eingesetzt wurden, die für die Migration, und für unseren Themenkomplex in der Armutspolitik, Armutsbekämpfung sehr weit reichende Entscheidungen getroffen haben, nämlich die Hartz IV-Kommission und die Süssmuth-Kommission. "

    Das Urteil und die Konzepte von parteineutralen Experten galten als Ausweg aus dem Kleinkrieg der Parteien, als Alternative, die über allen Interessen steht. Haben sie nun die Belange der Sozialschwachen besser zur Geltung gebracht als die viel gescholtene Parteiendemokratie. Das Resümee der Wissenschaftler fällt überraschend aus. Winfried Thaa:

    " Wenn Sie die älteren Langzeitarbeitslosen nehmen, die in Hartz IV einfach wie alle anderen behandelt wurden, und in der Bevölkerung wurde das als schreiende Ungerechtigkeit wahrgenommen, und in einer konsensorientierten Kommission von Fachleuten wird das Anliegen dieser betroffenen Gruppe arbeitsmarktpolitischen Überlegungen untergeordnet, im politischen Prozess dagegen spielt dieses Anliegen eine wichtige Rolle, und man konnte das sehr schön beobachten am Richtungswechsel der SPD - Müntefering hat die arbeitsmarktpolitische Rationalität vertreten und ist damit auf die Nase gefallen, und das zeigt unseres Erachtens dass der parlamentarische Prozess mit seiner Konkurrenz unter Parteien eben doch besser geeignet ist, schwache Interessen zu berücksichtigen, als es solche rational agierenden Kommissionen sind. "

    Der Trierer Forschungsverbund demonstriert auf beeindruckende Weise wie sich gegenwartsrelevante Fragen unaufgeregt, aber dafür mit historischer Tiefenschärfe diskutieren lassen.