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Werkgerecht

"Rose is a rose is a rose.” Mit diesen Worten machte Gertrude Stein auf die wundervolle Mehrdeutigkeit der Begriffe eines literarischen Textes aufmerksam. Was "rose" alles sein kann, vielleicht ein kleines Mädchen, eine Blume oder, als arose, das Partizipperfekt von englisch: aufstehen, das bleibt, zumindest manchmal, der Phantasie des Lesers überlassen. In der Unmöglichkeit das geschriebene eindeutig zu erfassen, entfaltet sich ein eigener literarischer Wert. Mit Blick auf Jana Scheerers Roman Mein Vater, sein Schwein und ich, ließe sich das Zitat etwas abgewandelt wiederholen: "Ein Schwein ist ein Schwein ist ein Schwein." Das klingt zunächst vollkommen absurd, wird aber gerade deshalb dem Werk gerecht.

Von Timo Kristin | 08.11.2004
    Mein Vater, sein Schwein und ich ist eine Sammlung kurzer Geschichten aus dem Leben einer namenlosen Ich-Erzählerin. Jede dieser Anekdoten stellt eine Station in der Entwicklung eines Mädchens zur jungen Frau dar. Neben der Erzählerin treten noch deren Eltern, die nur als "mein Vater" und "meine Mutter genannt werden, regelmäßig in Erscheinung. Alles weitere, Handlungen und Personen, entwickelt sich in einer Phantasiewelt, in der – zunächst – nichts unmöglich scheint und die gegen Ende immer absurdere Blüten treibt.

    "Während ich geboren wurde, jagte mein Vater einen Grizzlybären. "Ganz alleine?", fragte ich meinen Vater jedes Mal, wenn er die Geschichte erzählte. "Ganz alleine", sagte mein Vater, "Mama war ja im Krankenhaus." Damit beginnt die erste Geschichte. Zwar existiert besagter Grizzlybär tatsächlich, doch des Vaters Jagd ist alles andere als gewöhnlich, geschweige denn heldenhaft. Bei einem Urlaub im amerikanischen Yellowstonepark muss die hochschwangere Mutter von Zeltnachbarn ins Krankenhaus gebracht werden, um alleine die Geburt der Ich-Erzählerin durchzustehen. Der Vater ist nämlich damit beschäftigt, einen Bären, der zuvor den gesamten Reiseproviant gestohlen hat, mit Fastfood von einem nahe gelegenen Imbiss zu ködern. Dies könnte noch eine jener Geschichten sein, die man den Kindern nun mal erzählt, ein lustiger Schwank aus der Zeit vor ihrer Geburt.

    Auch mit der Vorstellung, die Eltern seien früher schwarzweiß gewesen, lässt sich etwas anfangen. Schließlich fehlt ihnen auf alten Fotos tatsächlich die Farbe. Jana Scheerer schreibt die ersten Erzählungen ihres Buches aus der Sicht eines kleinen Kindes. Ton und Thematik ergänzen sich dementsprechend zu einem naiv-lustigen Weltbild, das vor dem Leser mehr dahinplätschert, als sich zu so etwas wie einer Romanhandlung – der Buchaufdruck verspricht es – zusammenzufügen.

    Nach dem neunten Geburtstag des kleinen Mädchens bekommt die Familie, wie die Autorin es nennt, einen Rentner zugeteilt – und die Geschichten emanzipieren sich allmählich von dem zuvor gepflegten künstlich naiven Erzählton. Dies geht jedoch nicht mit einer abgeklärteren Perspektive einhehr, ganz im Gegenteil. Den Rentner hat nämlich der Vater ins Haus geholt. Etwas unüberlegt hatte er auf einem Blatt zur so genannten Rentnerversorgung unterschrieben – die wankende Alterspyramide lässt grüßen – tja, und so ist man nun eben verpflichtet, einen der überzähligen Rentner zu versorgen. Zum Glück kann die Familie ihn – auch das weckt Gedanken an bekannte Klischees – bei einem Mallorca Urlaub wieder loswerden. Der Rentner wird kurzerhand ausgesetzt und die Übrigen treten die Rückreise an.

    Es macht Spaß, dabei zu sein, wenn Jana Scheerer einige urdeutsche Befindlichkeiten und Sorgen etwas zu wörtlich nimmt. Und auch der Balanceakt zwischen unglaubwürdiger Naivität und gekonnter Groteske gelingt ihr – meist – sehr gut. So könnte es noch eine Weile weiter gehen, doch fehlt immer noch der große Zusammenhang, der die Bezeichnung Roman rechtfertigen würde.

    Hier kommt schließlich das Schwein ins Spiel. Genauer gesagt taucht es nur ein einziges Mal auf, und das auch erst in Kapitel VI. Doch lässt es sich hier merkwürdig schwer einordnen. Der Vater mietet es um die Harmonie in der Familie zu fördern. Der Besitzer hatte es schließlich zu diesem Zweck angepriesen. Natürlich bewirkt das Schwein genau das Gegenteil. Doch was hat es zu bedeuten? Ein Schwein ist ein Schwein ist ein Schwein. Es ist einfach da, lässt den Leser aber doch für einen Moment inne halten: War es nicht der Vater, der den Rentner ins Haus geholt hat, hat er nicht die Geburt seiner Tochter verpasst, weil er unbedingt einen Grizzly jagen musste? Man wird das Gefühl nicht los, hier den Schlüssel zu einer größeren Thematik in der Hand zu halten. Und es ist ein wirklich gekonnt gearbeiteter Schlüssel. Schließlich kann man dieses Schwein fast überall wieder finden, wenn man will, und vielleicht auch den Appell an den Vater, den eigenen Schweinehund einmal zu überwinden, statt ihn immer wieder in den absurdesten Gestalten zuhause aufs Sofa zu setzten.

    "Mein Vater, sein Schwein und ich" kann zwar als eine Sammlung kurzer Anekdoten gelesen werden. Jana Scheerer beherrscht die Form der grotesken Kurzprosa. Das Lesevergnügen macht dabei auch die manchmal etwas zu einfache Sprache vergessen. Doch erschöpft sich die Bedeutung der Erzählungen nicht in zeitgeschichtlichen Anspielungen. Das Schwein entfaltet, obwohl selten genannt, einen interessanten Blick auf die innere Befindlichkeit der Erzählerin in ihrer eigenen kleinen, möglicherweise gar nicht so heilen Welt. Es lädt zum Nachdenken über ein literarisches Zeichen und seine Bedeutungen ein. Eine Qualität, die sich nicht im amüsanten Lesevergnügen erschöpft.

    Jana Scheerer
    Mein Vater, sein Schwein und ich
    Schöffling, EUR 17,90