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Werner Tiki Küstenmacher
"Das Gottesbild weitet sich"

Der evangelische Theologe Werner Tiki Küstenmacher versucht seit mehr als 30 Jahren, das Bild von Kirche mit seinen Cartoons und Büchern zu beeinflussen. Eines davon trägt den Titel "Gott 9.0 – Wohin unsere Gesellschaft spirituell wachsen wird". Darin entwickelt Küstenmacher ein Stufen-Modell von Religion - und Glaubenszweifel wird hier zu einer tragenden Säule.

Von Burkhard Schäfers | 27.07.2016
    Werner Tiki Küstenmacher, deutscher evangelisch-lutherischer Pfarrer sowie freiberuflicher Autor und Karikaturist.
    Werner Tiki Küstenmacher, deutscher evangelisch-lutherischer Pfarrer sowie freiberuflicher Autor und Karikaturist. (Foto: Deutschlandradio - Burkhard Schäfers)
    In Zeiten, in denen islamistische Terroristen Kirchen stürmen und katholische Priester töten, fragen immer mehr Menschen: Wollen wir Religion? Brauchen wir Religion? Ginge es ohne Religion besser? Oder: Hilft Religion? Auch darum geht es in unserer Reihe "Religion und Identität". Wir porträtieren Menschen, die darüber nachdenken, wie Religion ihr Leben oder ihre Arbeit geprägt hat und wohin sich Religion in der Gesellschaft entwickeln sollte.
    Nur wer sich eindeutig zu seinem Gott bekennt, wer regelmäßig betet und meditiert, findet zu einem tieferen Glauben. Mit dieser Behauptung räumt Werner Tiki Küstenmacher gleich zu Beginn auf. Religion sei nichts Konstantes, sondern wie der Mensch auf Entwicklung angelegt, sagt der evangelische Autor und Karikaturist:
    "Ich wurde immer gewarnt von den Predigern: Man darf sich seinen Glauben nicht selber zusammenbasteln. Du musst das nehmen, was du da vorfindest. Aber dann hab ich gemerkt: Die Menschen haben sich immer ihren Glauben aus verschiedenen Quellen zusammengestellt."
    Seit den 70er Jahren geht Küstenmacher seiner künstlerischen Ader nach: Mit gezeichneten Cartoon-Bänden über "Gottes Bodenpersonal" oder den "Tatort Bibel", als Redner, Rundfunkpfarrer sowie als Buchautor mit Titeln wie "simplify your life" oder "Gott 9.0". Die Bücher, die er teilweise zusammen mit seiner Frau, mit Marion Küstenmacher schreibt, leben auch von seinen Karikaturen.
    "Das Zeichnen ist für mich das Schönste und Entspannendste. Das Schreiben und Nachdenken ist viel anstrengender. Deswegen freue ich mich immer, wenn ich meine eigenen Bücher auch illustrieren darf und bin froh, wenn ich’s soweit fertig geschrieben habe, dass es an die Zeichnungen geht."
    Religiöse Grenzen überwinden
    Eine seiner Kernbotschaften ist: Gottesbilder sollten nicht festgefügt sein, sondern sich entwickeln. Niemand solle sich seinen Glauben vorgeben lassen, weder von der Kirche noch von anderen Religionsführern. Vielmehr plädiert der evangelische Pfarrer dafür, sich den persönlichen Glauben immer wieder neu durch Nachdenken, Lesen und Diskutieren anzueignen. Und dabei durchaus über die Grenzen der eigenen Religion hinauszuschauen. Natürlich kann man das, was dabei herauskommt, für einen religiösen Flickenteppich halten und fragen: Was bleibt von der Tradition, wenn jeder auf seinem individuellen Glaubenstrip ist?
    "Es gibt einen schönen Spruch von Richard Dawkins, dem Religionskritiker. Der sagt: Du bist auf jeden Fall ein Atheist, du glaubst nicht mehr an Zeus, du glaubst nicht mehr an Thor, oder an was deine Vorfahren geglaubt haben. Indem ich mich zu einem Glauben bekenne, habe ich mich auch von anderen Glaubensformen, die es davor gab, verabschiedet. Dass wir uns weiter entwickeln, bestimmte Glaubenssätze, Glaubensüberzeugungen hinter uns lassen, das gehört zum Glauben dazu."
    Der 62-Jährige, der in Gröbenzell bei München lebt, ist überzeugt: Gottesvorstellungen entwickeln sich nach vorhersagbaren Mustern. Beruhend auf den Arbeiten zweier US-Amerikaner – des Sozialpsychologen Clare Graves und des Denkers Ken Wilber – beschreibt er ein Stufenmodell der Religion, das sowohl einzelne als auch ganze Gesellschaften durchlaufen. Geht es zunächst ums nackte Überleben, so folgen im Laufe der Zeit magische Rituale, heilige Ordnungen und Herrscher. Später dann der mündige Bürger, der sich für ein Leben ohne Gott entscheiden kann, und der Weg hin zu egalitären Gemeinschaften, die religiöse Grenzen und Autoritäten überwinden.
    Dieses Stufenmodell könne helfen, sich innerhalb der vielen religiösen Strömungen zu orientieren, Missverständnisse und ideologische Grabenkämpfe zu erklären, sagt Werner Tiki Küstenmacher.
    "So ein Entwicklungsmodell ist hilfreich in diesen sehr verwirrenden Diskussionen, die wir zurzeit haben rund um Religion – mit Islam, Buddhismus, und mit dem christlichen Glauben. Weil ein Glaube entwickelt sich weiter und wird dabei komplexer, komplizierter auch. Das Gottesbild weitet sich."
    Plädoyer für den Zweifel
    Wenn Menschen über Glaubensfragen streiten, würden sie zwar häufig von Gott sprechen, aber damit völlig Unterschiedliches meinen. Orthodoxe Juden, konservative Katholiken und traditionelle Muslime befänden sich im Modell meist auf der vierten von neun Stufen, Protestanten auf der fünften, engagierte Christen auf Stufe sechs. Angesichts dieser Unübersichtlichkeit sehnen sich manche zurück nach alten Ordnungen, nach Sicherheit und Verlässlichkeit. Hilfreich sei aber nur der Blick in die Zukunft, nicht der in die vorrationale Vergangenheit, in ein Zeitalter ohne Aufklärung und freies Denken, so der Autor.
    "Das ist so häufig, dass dann eben gedacht wird: Wir müssen nur wieder werden wie damals die Urwaldvölker oder diese Schamanen, die hatten doch noch ein viel intensiveres Verhältnis zur Natur. Und das ist diese Verwechslung, die oft passiert: Das eine ist prärational, und dann gibt es Entwicklungsstufen, die gehen über das rein Rationale hinaus, also transrational."
    Derzeit sieht Küstenmacher die Gesellschaft auf dem Weg zu einer neuen Stufe - einer Zusammenschau der Komplexität und der Paradoxien.
    "Der Glaube, die Gesellschaft die mir vorschwebt, ist eine, die all diese verschiedenen Bewusstseinsstufen integriert. Dieses bunte, sehr polydoxe Bild wäre das, was mir als Ideal vorschwebt."
    Das Nebeneinander von Widersprüchlichem lässt manche hadern: Trägt der eigene Glaube oder handelt es sich um eine Fiktion? Auch Werner Tiki Küstenmacher, der religiöse Autor und evangelische Pfarrer, ist ein Zweifler.
    "Zweifel ist der Übergang von einer Stufe zur nächsten. Da kämpfe ich, weil ich viel Vertrautes weglasse. Das fühlt sich an wie Unglaube, wie Zweifel, wie Verzweiflung. Dann arbeite ich mich voran und merke, ich bin auf der neuen Stufe heimisch. Das ist das, wo ich eigentlich hin wollte. Und nach einiger Zeit fühle ich mich auf dieser Stufe auch wieder unwohl, dann kriege ich wieder neue Zweifel, und mein Bewusstsein entwickelt sich nochmal weiter."