Samstag, 20. April 2024

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Werte, Verhaltensformen, Traumata

Was erben wir von unseren Eltern, Großeltern und Urgroßeltern? Verhaltensformen, Aussehen - oder gar Traumata aus der Vergangenheit? Das erforscht das Zentrum für Literatur- und Kulturwissenschaften ZFL in Berlin.

Von Isabel Fannrich | 11.11.2010
    Transgenerationale Übertragungen: Dieser Begriff machte erst im 20. Jahrhundert Karriere. Das Phänomen, dass eine Generation der anderen ihre Vorstellungen, Verhaltensweisen und auch materiellen Werte weiter gibt, haben literarische Werke aber schon sehr viel früher aufgegriffen. Der Bielefelder Literaturwissenschaftler Walter Erhart:

    "Transgenerationelle Übertragungen spielen in der Literatur traditionell eine ganz große Rolle in der gesamten Literatur. Man könnte sogar sagen, dass die Literatur fast spezialisiert ist auf dieses Phänomen. Seit der Antike werden Geschlechterfolgen, Generationen, Familienflüche, Weitergabe von Schicksal, von Verbrechen durch die Generationen hindurch in der Literatur thematisiert in ganz unterschiedlicher Form."

    Insbesondere das Genre des Familienromans hat seit jeher das Verhältnis zwischen den Generationen reflektiert. Deshalb eignet sich die literatur-wissenschaftliche Betrachtung verschiedenster Ausprägungen transgene-rationaler Übertragungen als Klammer der Tagung im Zentrum für Litera-tur- und Kulturwissenschaften.

    Nicht mehr das Schicksal oder der Mythos steht im Mittelpunkt der mo-dernen Literatur. Sondern ganz andere Formen des Austausches zwischen Jung und Alt: Seit dem Zweiten Weltkrieg findet sich das Erinnern als zentrales Motiv im Familienroman. Aber auch das Vergessen infolge einer medizinischen Störung des Gedächtnisses verknüpft in manchen Roma-nen der Gegenwart die Generationen.

    "'"Das kann natürlich etwas sein, was jetzt medizinisch motiviert sein kann, dass ein bestimmtes Gebrechen oder ein bestimmtes genetisches Verhalten, dass sich der Enkel wie der Großvater verhält, dass bestimmte Ticks, bestimmte Redewendungen sich über die Generationen dann so fortzeugen. Aber Literatur wird immer dann spannend, wenn sie versucht, größere Zusammenhänge, größere Geschichten zu erzählen. Und dann wird dieses Motiv interessant des über mehrere Generationen sich hin-ziehenden Zusammenhangs.""

    Ein wichtiges Anliegen der Tagung, die disziplinenspezifische Be-trachtungsweise herauszuarbeiten: Wie verschieden wird das Verhältnis zwischen den Generationen in der Biologie, der Soziologie und der Öko-nomie gedacht und praktiziert?

    So diskutierten die Wissenschaftler über die Bedeutung des Weltkultur-Erbes und der Staatsverschuldung für die zukünftigen Generationen. Oder darüber, wie sich die Nachfolge in Familienunternehmen regelt. Sigrid Weigel, Leiterin des ZFL:

    "Wie man sieht an einzelnen kulturellen Praktiken wie etwa der Übergabe einer Firma innerhalb einer Familie spielen da unheimlich viele Faktoren und eben auch Vorstellungen von Erbe eine Rolle, die zum Teil über Jahrhunderte tradiert worden sind. Warum will ein Vater unbedingt, dass sein Sohn die Firma weiter führt und nicht jemand, der das vielleicht am besten könnte aufgrund seiner Qualifikation?"

    Dass sich Disziplinen wie die Soziologie oder die Psychologie mit trans-generationaler Übertragung beschäftigen, ist die Folge einer Leerstelle, so die These des Wissenschaftshistorikers und Biologen Ohad Parnes. Denn in der biologischen Forschung aus den Anfängen des 20. Jahrhunderts geriet alles, was Eltern nicht genetisch auf ihre Kinder übertrugen, zum "Randphänomen".

    "Eine der Hauptergebnisse dieser kleinen Revolution der Etablierung der modernen Genetik nach Mendel nach 1900 war, dass nicht jede Übertragung von einer Eigenschaft von Eltern auf Kinder als Vererbung mehr galt. Insofern entstand sozusagen eine Alter-nativkultur, wenn man so sagen will, alternative Wissenskultur, die vor allem die Sozial-wissenschaften übernommen haben, die versucht haben zu erklären, wie doch manche Sachen übertragen werden. Das durfte man nicht mehr als Vererbung bezeichnen und dann entstand das als (…) Alternativkonzept."

    Schon in den zwanziger Jahren hätten sich Soziologen, Anthropologen und Psychologen relativ unabhängig voneinander mit einer Frage be-schäftigt, die heutige Forscher bewegt: die Rolle der dritten Generation. Die Wissenschaftler untersuchten damals, wie sich die Enkel der Ein-wanderer – etwa in den USA – entwickelten und von ihren Großeltern oder Eltern unterschieden. Ohad Parnes:

    "Und diese Vorstellung von dritter Generation setzt sich fort nach dem Zweiten Welt-krieg, auch in der Psychologie. Erst mit Fragen der Übertragung von Depression, der Über-tragung von schizophrenische Zuständen und dann eigentlich erst Ende der 60er Jahre, Anfang der 70er Jahre fangen Psychologen - sehr spät interessanterweise - sich zu fragen: Gibt es etwas zu sagen über die Wirkung von Trauma auf zweite Generation Über-lebende?"

    Erst durch die psychotherapeutische Behandlung von Patienten der zwei-ten Generation - den Kindern von Überlebenden des Holocaust - kam die transgenerationale Übertragung als Begriff und Konzept in die Dis-kussion, bestätigt der Frankfurter Psychoanalytiker Werner Bohleber:

    "Was jetzt neu ist, und der Übertragungsbegriff stammt eigentlich aus der Psycho-analyse, (...) dass ein Problem, das in der Elterngeneration traumatisch eigentlich ver-ursacht ist, sehr stark über nonverbale Kanäle in die Geschichte der Kinder sozusagen ein-dringt, weil das Trauma, (...) in der Generation, der das zugestoßen ist, kann das nicht be-wältigt werden, sondern die Verhaltensweisen und die Ängste und die Abwehrbewegungen gegen die traumatische Erfahrung dringen in das Leben der Kinder ein, ganz anders, als das normalerweise der Fall ist."

    Wie sehr sich die zweite aber auch die dritte Generation an der Ver-strickung ihrer Großeltern beziehungsweise Eltern abarbeitet, spiegelt sich im Familienroman der Nachkriegszeit. Hier rücken die Autoren zum Beispiel die Biographie des Großvaters in den Vordergrund oder be-schreiben die Verflechtung dreier Generationen.

    Heinrich Böll schrieb als einer der ersten 1959 einen generationen-umspannenden Roman, der die NS-Zeit reflektierte: "Billard um halb zehn". Spätere Familienromane griffen die mangelhafte Kommunikation über die Naziherrschaft und die eigene Verstrickung auf. Walter Erhart:

    "Diese Verwicklungen müssen (...) immer wieder erinnert werden, ans Tageslicht ge-bracht werden. Die Spannungen dieser Geschichten sind in der Regel eigentlich die, dass das Geschehen des Nationalsozialismus verschwiegen worden ist oder dass ein großes Schweigen in den Familien herrscht. Und dass sich erst in der zweiten Generation (…) ein Bedürfnis regt, dieses Schweigen nicht nur zu durchbrechen, sondern eine Geschichte zu erzählen."

    Der sogenannte Pakt des Schweigens, den Traumatisierte mit ihren Nachkömmlingen schließen, beschäftigt immer noch die Psychologie. Das, worüber nicht gesprochen wird, wirkt im Leben eines Kindes weiter und bestimmt den Inhalt seiner Psyche:

    "Und eine Erfahrung jetzt gerade in der transgenerationellen Arbeit und der Erforschung von transgenerationellen Mechanismen ist, dass nichts so wirksam ist als das Schweigen, transgenerationell. Das ist ganz eigentümlich. Weil natürlich die Kinder spüren: Hier fehlt etwas. Hier stimmt was nicht. Und dann versucht natürlich das Kind das zu verstehen und mit seiner Phantasie zu bearbeiten."

    Beeindruckend bleibt am Ende, wie vielfältig der Austausch zwischen den Generationen und – zwischen den Zeilen – mit welcher Macht er ver-bunden ist.

    Die alte Frage aber nach Anlage oder Umwelt muss nach Ansicht von Ohad Parnes zum jetzigen Zeitpunkt offenbleiben. Denn mit der Ent-deckung epigenetischer Prozesse in den vergangenen Jahren sei die Grenze zwischen dem, was nachfolgende Generationen aus der Umwelt übernehmen oder erben verwischt. Die Frage von Übertragung sei heute viel komplizierter als noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts:

    "Also die Frage ist, müssen wir uns entscheiden zwischen diesen zwei Modellen oder ist die Frage vielleicht: Passen beide Modelle nicht richtig, und wir sind nur gefangen zwischen diesen zwei Modellen, wenn wir Prozesse beschreiben wollen. Und die Frage: Können wir uns eine Alternative vorstellen?"