Donnerstag, 25. April 2024

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"Westend" von Moritz Rinke in Berlin
Das Ende der westlichen Welt

Moritz Rinke ist einer der meistgespielten Gegenwartsdramatiker in Deutschland. Seine Stücke sind oft doppelbödige Beziehungsgeschichten aus dem Bürgertum. Am Deutschen Theater Berlin wurde nun Rinkes neues Werk „Westend“ uraufgeführt – ein Stück, in dem die bürgerliche Welt zu bröckeln beginnt.

Von Barbara Behrendt | 22.12.2018
    Haydns "Schöpfung" dröhnt über die weiße Bühne – ein Kubus mit kreisrunder Öffnung gen Himmel. In dieser noch unmöblierten Villa im gut situierten Berliner Stadtteil "Westend" wollen Eduard und Charlotte neu anfangen. Eduard, gespielt von Ulrich Matthes, ist Schönheitschirurg, der die Ängste der Menschen vor dem Altwerden zu behandeln meint. Charlotte, besetzt mit Anja Schneider, bereitet nach einer Stimmband-OP ihr Sopran-Comeback in Haydns Oratorium vor. In ihr Leben platzt Eduards alter Studienkollege Michael, der als Arzt in Afghanistan gearbeitet hat und nun Unterschlupf sucht.
    Charlotte: "Seit wann bist du denn zurück, er hat gesagt, du warst in Afghanistan, wann, warum, hat Afrika nicht gereicht? Eduard sagt, du warst Hauptmann?"
    Eduard: "Das hatte ich doch erzählt, Mick hatte hier keine Anstellung bekommen und dann in Kandahar, Kaschmir..?"
    Michael: "Kundus."
    Eduard: "Kundus, richtig, da war Mick, Bundeswehrkrankenhaus, Auslandseinsatz."
    Charlotte: "Musstest du schießen?"
    Michael: "Schießen?"
    Eduard: "Also, meine kleine Schwester hat gesagt, deine Patienten seien vorwiegend Soldaten, du seist quasi so was wie ein Feldarzt... Oberfeldarzt... Oberhaupttruppenarzt, wie nennt ihr das denn?"
    Michael: "Ich habe vorwiegend Kinderbeine amputiert, Splitter in Kinderköpfen gesucht."
    Eduard: "Charlotte, schenk doch noch mal nach..."
    Mit Michael steht die Welt vor der Tür, die Eduard und Charlotte aussperren: Krieg, Flüchtlinge, Armut. Aber auch Charlottes alte Liebe ist zurück, die beiden waren früher mal ein Paar. Dann gibt es noch die Nachbarin Lilly, Medizinstudentin, die zweite Frau in diesem Vierergespann.
    Beziehungsgewirbel à la "Wahlverwandtschaften"
    Einerseits entfacht Moritz Rinke ein Beziehungsgewirbel, das auf Goethes "Wahlverwandtschaften" gründet – sogar die Figurennamen sind identisch. Andererseits ist "Westend" Metapher für das Ende des westlichen Wohlstandslebens, das im Angesicht von globalen Krisen nicht fortführbar ist. Neu ist das nicht, aber durchaus legitim, uns, dem westlichen Publikum, die eigenen Widersprüche vorzuhalten. Das Stück lebt von der Identifikation. Doch gerade die fällt schwer, wenn die Figuren beinahe unter dem Gewicht der Welt, die sie symbolisieren, zusammenbrechen.
    Eduard etwa, der den Narzissmus zur westlichen Staatsform erklärt, der er selbst am konsequentesten folgt. Der es romantisch verklärt, Charlotte auf seiner eigenen, ersten Hochzeit kennengelernt und sofort geküsst zu haben. Hoch symbolisch dann auch die beiden Zinksärge, die im Haus und tatsächlich auch auf der Bühne stehen. Eduard sollte sie damals für zwei Kinderleichen zu Michael nach Afghanistan schicken, das ging schief – jetzt stehen sie hier als sichtbares Zeichen der Schuld.
    Lilly: "Wozu braucht er denn Kindersärge, sind das nicht Muslime?"
    Michael: "Turkish Airlines sagt, die wären in Berlin gar nicht aufgegeben worden!"
    Eduard: "Das ist eine Frechheit von Turkish Airlines, wenn ich diesen scheiß Rückgabezettel noch finde! Ich habe die wieder in dieses Institut zurückgebracht, zwei Särge mit Zinkeinlagen, ich werde es beweisen!"
    Michael: "Ich brauche keine Beweise mehr! Diese Gesellschaft schiebt alles, vor dem sie sich fürchtet, in Auffanglager oder Schutzfolien! Alles wird auf Abstand gehalten, mit riesigen Eisenzäunen, mit Mauern, mit Spenden, mit nachdenklichen Berichten im Frühstücksfernsehen! Aber vor mir, vor mir haben diese Menschen ihr Blut ausgekotzt, vor mir wurden ihre Leben ausgepustet – und was machen wir hier?!"
    Zu viel Botschaft, zu viel Weltanschauung
    All das ist viel zu dick aufgetragen. Trotzdem: Ulrich Matthes und Anja Schneider sind zwei sehr gute Argumente für diesen Abend. Regisseur Stephan Kimmig hält sich zurück und lässt seine Schauspieler ihre Figuren erkunden, wie das bei einer Uraufführung immer der Fall sein sollte. Wie Matthes herumtänzelt, seine bedeutungsschwangeren Sätze ganz nebenbei spricht, manchmal ironisch, immer verletzlich – das lässt aus dieser Symbolfigur dann doch einen Menschen werden. Und Anja Schneider legt so viel Lebenshunger, so viel Trotz in ihren Blick, dass man sie wortlos versteht.
    Anders bei Linn Reusse als Lilly und Paul Grill als Michael, ihre Worte klingen oft pathetisch, affektiert. Zu viel politische Botschaft, zu viel Weltanschauung will Rinke in seine Figuren pressen – und zusätzlich die "Wahlverwandtschaften" neu erzählen. Das wirkt oft konstruiert, auf drei Stunden Länge auch mal zäh und erzeugt zu wenige wirklich berührende Momente auf der Bühne.