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Westerwelle sagt Tunesien Hilfe zu

Tausende Tunesier flüchten gen Europa und landen auf der italienischen Flüchtlingsinsel Lampedusa. Guido Westerwelle (FDP) rät den Menschen, zuhause am Umbruch mitzuwirken: Das Land sei wirtschaftlich gut aufgestellt.

Guido Westerwelle im Gespräch mit Gerwald Herter | 14.02.2011
    Gerwald Herter: Frauen, Kinder, meist aber junge Männer, die es endlich geschafft haben, denen anzusehen ist, dass sie um ihr Leben fürchten mussten auf der Passage aus dem Norden Afrikas nach Italien, das schien zu Ende. Doch nach dem Umsturz in Tunesien kommen wieder Tausende von Flüchtlingen auf Lampedusa an.
    Ich bin jetzt mit dem deutschen Außenminister und FDP-Chef Guido Westerwelle verbunden. Er war erst vorgestern, also am Samstag, in Tunesien, er hat dort viele Gespräche geführt und sich mit eigenen Augen ein Bild von der Lage machen können. Guten Morgen, Herr Westerwelle.

    Guido Westerwelle: Guten Morgen, Herr Herter.

    Herter: Ihr italienischer Kollege, Außenminister Frattini, fordert nun Hilfe aus anderen EU-Staaten: Schiffe, Flugzeuge, Hubschrauber, nicht zuletzt eine EU-Krisensitzung. Wird Italien bekommen, was die Regierung jetzt auch von Ihnen verlangt?

    Westerwelle: Wir werden natürlich jetzt unverzüglich in Europa die Lage analysieren. Wir werden auch im Kollegenkreise auf europäischer Ebene darüber sprechen und entscheiden, welche Maßnahmen ergriffen werden müssen. Das Entscheidende aber ist und bleibt, dass wir dafür sorgen, dass die Menschen in ihren Herkunftsländern Chancen haben, eigene freiheitliche wirtschaftliche Chancen haben, und deswegen ist es wichtig, dass der Umbruch zum Beispiel in Tunesien auch gelingt, in Richtung Demokratie, aber auch in Richtung mehr Wohlstand.

    Herter: Was sagen Sie den Menschen aus Tunesien? Sollen sie in ihrer Heimat jetzt bleiben?

    Westerwelle: Ja, denn es geht ja darum, dass in Tunesien auch jetzt die Chance des Aufbaus besteht. Wir selbst werden als Bundesregierung ganz erheblich uns engagieren, damit diese demokratische Jasmin-Revolution in Tunesien nicht nur politisch gelingt, sondern dass das Land auch eine wirklich vernünftige Zukunft bekommt. Man darf ja nicht vergessen: Dieses Land ist ja in weiten Teilen auch regelrecht ausgebeutet worden. Es ist ja ein wirtschaftlich durchaus gut aufgestelltes Land, aber vieles, was dort wirtschaftlich erarbeitet wurde, wurde ja dann von dem autokratischen System außer Landes gebracht, jedenfalls nicht zurück in den wirtschaftlichen Kreislauf in Tunesien selbst gegeben, und deswegen ist jetzt natürlich auch eine Stunde da, wo es nicht nur um mehr Demokratie geht, sondern auch um mehr Wohlstand, denn die jungen Menschen, die ja auf die Straße gegangen sind, haben für beides demonstriert: Sie haben für Freiheit demonstriert, aber auch für mehr Chancen, mehr Jobs, mehr Arbeit und mehr Zukunft.

    Herter: Der Tourismus ist für Tunesien ganz, ganz wichtig, eine wichtige Einnahmequelle. Sagen Sie den Deutschen, fahrt jetzt nach Tunesien, ihr müsst keine Bedenken haben?

    Westerwelle: Wir haben die Reisehinweise bereits in Richtung Normalisierung verändert. Das heißt, die Reisehinweise wurden an die verbesserte Lage letzte Woche angepasst. Insbesondere Reisen nach Tunis und an die Badeorte am Meer sind aus unserer Sicht wieder möglich. Und man darf ja nicht vergessen, dass etwa pro Jahr 500.000 Deutsche allein als Touristen in Tunesien zu Gast sind, und das ist natürlich durch die Ereignisse der letzten Wochen eingebrochen. Aber wer Tunesien kennt, weiß, dass das ein sehr schönes Land ist, ein Land ist, das ja auch von enorm vielen freundlichen Menschen auch ausgezeichnet ist, und insoweit rechne ich damit, dass auch der Tourismus als wesentlicher Zweig der Wirtschaft in Tunesien jetzt in den nächsten Wochen wieder anziehen wird.

    Herter: Sie versuchen, den Wandel zu unterstützen. Bleiben Sie dabei, dass Sie in der Vergangenheit bei Besuchen in arabischen Ländern immer wieder in ausreichender Ausführlichkeit die Einhaltung von Menschenrechten eingefordert haben, Herr Westerwelle?

    Westerwelle: Ich kann das nicht für andere sagen, ich kann es nur für uns sagen. Für die Regierungszeit, in der ich selber Verantwortung trage, ist das mit Sicherheit geschehen. Aber wenn man beispielsweise die gesamte Lage auch ehrlich und objektiv analysieren will, dann darf man einfach nicht vergessen, dass wir ja auch noch strategische Interessen im Nahen Osten haben und auch gehabt haben in den letzten Jahren. Zum Beispiel ist es natürlich immer ein wichtiges Anliegen auch deutscher Politik gewesen, dass der Nahost-Friedensprozess befördert wird. Das heißt, natürlich wurde auch die konstruktive Rolle Ägyptens von allen Regierungen der Welt, insbesondere auch der westlichen Welt, im Nahost-Friedensprozess gewürdigt, und das gehört auch zur geschichtlichen Wahrheit dazu.

    Herter: In Algerien sind am Samstag Demonstranten ganz brutal niedergeknüppelt worden. 400 Menschen wurden festgenommen. Ihre Reaktion, Herr Westerwelle?

    Westerwelle: Ich bin sehr besorgt über diese Entwicklung in Algerien, denn auch dort gehen ja Menschen für ihre Rechte auf die Straße. Sie demonstrieren für Freiheit, sie demonstrieren für neue Chancen, für Demokratie, für Rechtsstaat, und das sind universelle Rechte und wir appellieren an die algerische Führung, auf jede Form von Gewalt zu verzichten und das Recht auf Versammlungs- und Meinungsfreiheit zu garantieren. Wir sehen ja, dass die freiheitliche Bewegung, die in Tunesien begonnen wurde, ganz augenscheinlich auch ein Funken ist, der die gesamte Region ansteckt, und dass diese freiheitliche Bewegung Chancen hat, dafür treten wir in Europa ein. Wir stehen als Demokraten an der Seite von Demokraten und Menschenrechte sind universell. Das heißt, jeder der dort demonstriert nimmt ein Menschenrecht wahr, und deswegen können wir nur dringlich auch an die algerische Regierung herantreten – das tun wir natürlich -, dass Gewalt nicht stattfindet und dass diese Menschen, die jetzt auf die Straße gehen, nicht niedergeknüppelt werden.

    Herter: Haben Sie mit Mitgliedern der algerischen Regierung telefoniert?

    Westerwelle: Nein, das ist bisher noch nicht der Fall gewesen. Aber selbstverständlich können Sie davon ausgehen, dass auf den notwendigen Gesprächskanälen unser Wille eindeutig zum Ausdruck gebracht wird, und das sind ja auch dann über Botschaftskontakte die Möglichkeiten, die wir dazu haben.

    Herter: Überlegen Sie, den algerischen Botschafter einzubestellen?

    Westerwelle: Über so etwas spekuliere ich nicht morgens im Radio, sondern das sind dann Entscheidungen, die werden getroffen und danach werden wir sie bekannt machen. Aber wir haben eine ganze Palette von diplomatischen Möglichkeiten, unserem Willen Nachdruck zu verleihen, und Sie können fest davon ausgehen, dass wir uns so wie in Tunesien und in Ägypten auch entschieden für Gewaltfreiheit einsetzen werden, für die Wahrung und für den Respekt der Versammlungs- und Menschenrechte einsetzen werden, und es ist immer sehr wichtig in solchen Lagen, dass man nach innen sehr klar ist in den Gesprächen, aber dass man nach außen auch das notwendige Maß an kluger Zurückhaltung zeigt, dass es eben nicht zu Gewalttätigkeiten kommt. Wir haben nämlich ja in Ägypten gemerkt, wie lange Tage und Wochen das ja auch auf der Kippe gestanden hat. Viele freuen sich jetzt mit uns darüber, dass diese Revolution der Menschen gelungen ist. Man sieht die Frauen, die Männer und ist mit begeistert, denkt auch an eigene deutsche Bilder aus unserer Geschichte, die man noch im Kopf hat. Aber man darf nie vergessen: die Lage ist unverändert sehr fragil und es ist ganz wichtig, dass es eben einen friedlichen Verlauf gibt, dass auch die Demokraten gewinnen und dass es kein Zurück gibt zu autokratischen Systemen, oder vielleicht zu religiösem Extremismus, und dass dann plötzlich Fundamentalisten am Ende an die Macht kommen.

    Herter: Das spielt auch bei Algerien eine Rolle. Welche Rolle spielt es in Ihrer Politik, dass Islamisten in Algerien immer recht stark waren, el Kaida, Maghreb, Dschia, FIS?

    Westerwelle: Das spielt eine Rolle. Das spielt aber in allen Staaten der arabischen Welt immer eine Rolle, und deswegen unterstützen wir ja die moderaten Kräfte und wollen, dass es einen wirklichen moderaten und demokratischen Wandel gibt. Deswegen erwarten wir auch immer, dass natürlich die Verträge eingehalten werden. Man darf nicht vergessen: Ägypten ist das Land, das als Erstes arabisches Land mit Israel einen Friedensvertrag geschlossen hat, und wer die Region kennt weiß, wie nah das beieinander ist, weiß auch, wie groß die Nachbarn Israels sind, und die Sicherheit Israels ist natürlich auch für die deutsche Bundesregierung Staatsräson.

    Herter: Das Militär hat zugesichert, dass Verträge eingehalten werden, ein erster Erfolg. Hat auch die Bundesregierung etwas lernen können während des Umbruchs in Ägypten, Herr Westerwelle?

    Westerwelle: Zunächst einmal, denke ich, haben wir alle etwas lernen können, nämlich dass der alte konstruierte Gegensatz, Demokratie sei das Gegenteil von Stabilität, widerlegt wurde. Es geht eben nicht um Demokratie oder Stabilität, sondern es geht um demokratische Stabilität, um stabile Demokratie. Deswegen haben wir die Konsequenzen gezogen. Wir wollen, dass diese freiheitlichen Entwicklungen auch wirklich eine Erfolgsgeschichte sind, dass am Ende demokratische Strukturen stehen, dass am Ende auch neue Chancen für die Menschen da sind, und wir werden in Tunesien ganz handfest uns engagieren mit Trainingsprogrammen in der beruflichen Bildung, bei der Unterstützung auch unternehmerischer Aktivitäten - das ist alles der Schlüssel zu Wohlstand -, und in Tunesien soll man sehen, auch beweisen können in der gesamten arabischen Welt, dass Demokratie auch neue Chancen für Wohlstand bedeutet. Das ist, glaube ich, die beste Überzeugungskraft, die man für die Idee der Freiheit entfalten kann.

    Herter: Demokratie soll sich lohnen. Bundesaußenminister Guido Westerwelle (FDP) über den Umbruch im Norden Afrikas. Vielen Dank für dieses Gespräch und schönen Tag!

    Westerwelle: Auf Wiederhören!

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