Archiv

Wettbewerb für innovative Konzertformate
Raus aus dem Konzertsaal

Ungewöhnliche Räume, Auflösung von Genregrenzen und neue Kommunikationsformen mit dem Publikum - abseits von üblichen Konventionen war beim Wettbewerb für neue Konzertformate D-bü in Berlin vor allem eins gefragt: Innovation. Die Veranstaltung der deutschen Musikhochschulen fand zum ersten Mal statt.

Von Sylvia Systermans | 18.12.2017
    Ensemble zeug und quer
    Auch das Studentenensemble zeug und quer präsentierte sich mit einem etwas anderen Konzertformat. (www.d-bü.de, Urban Ruths)
    Die Bühne in einem Museumsraum: eine fünf Mal fünf Meter große weiße Fläche, an den Seiten rechts und links Zuschauerreihen, am Kopfende eine Bank mit Lampe und Tisch, gegenüber ein Streichquartett. Vier weiß gekleidete Sänger stehen, zum Publikum gewandt, an den Bühnenecken und bewegen sich synchron zu Stimmen aus dem Off.
    "Madame Lenin - ein musiktheatrales Ritual", so heißt das Projekt von zeug und quer, mit dem das studentische Kollektiv der Musikhochschule Freiburg am vergangenen Donnerstag im Hamburger Bahnhof Museum für Gegenwart den ersten Wettbewerb der deutschen Musikhochschulen für neue Konzertformate D-bü in Berlin eröffnete.
    "Wir haben eine Musiktheater-Form, aber man sieht fast nichts auf der Bühne"
    Rund 90 Minuten dauerte die Performance mit gesprochenen und gesungenen Texten russischer Schriftsteller und Musik überwiegend russischer Komponisten zum Thema Verklärung und Schrecken von Revolution. Auf eine durchgehende, erzählende Handlung wurde verzichtet, stattdessen wechselte das Doppelquartett aus Sängern und Streichern ständig Positionen und Konstellationen, in ritualhaften, sakral aufgeladenen Aktionen und Tableaus.
    "Wir interessieren uns für eine Rezeptionsform, die eher in eine transzendentale Ebene geht, die jenseits des Verstandes die Seele berührt", erläuterte der künstlerische Leiter von zeug und quer, Clemens K. Thomas, die Intention von "Madame Lenin".
    "Wir haben eine Musiktheater-Form, aber man sieht fast nichts auf der Bühne, aber man hört, man kann in Klängen baden. Ich glaube, dass unsere Inszenierung gar nicht so revolutionär ist, und ich würde auch sagen, sie ist nicht besonders außergewöhnlich oder innovativ. Aber die Innovation geht vom Betrachter aus, wenn Sie jeden Tag in ungewöhnliche Konzerte gehen, war es für Sie wahrscheinlich normal, wenn Sie gewohnt sind, nur eine normale Bühnensituationen zu haben, dann war es vielleicht schon was anderes."
    Vibrierende Bässe und harte Beats
    Ortswechsel. Vom Hamburger Bahnhof Museum für Gegenwart zum Radialsystem V. nahe der Eastside Galerie. Hier spielte spät um 23:00 Uhr das zweite Studentenensemble zur Eröffnung vom D-bü-Wettbewerb, also wie jedes Ensemble an einem eigenen Ort in einem öffentlichen Konzert vor Publikum.
    Das Ensemble VKKO
    VKKO führten "Basic Soul Encoder" beim Wettbewerb auf (www.d-bü.de, Urban Ruths)
    Vibrierende Bässe, harte Beats, Keyboard, E-Gitarre, Schlagzeug, Elektronik. Dazu ein klassisches Streichquartett und ein Bläserquintett mit Posaune. Zwei Dirigenten leiten das Ensemble abwechselnd, die Partitur vor sich, tanzen, springen, stampfen, schütteln ekstatisch den Kopf zur Musik. Bunte Visuals und ein selbstgedrehter Splatter-Kurzfilm flackern über eine Leinwand.
    VKKO heißt das Orchester von Christopher Verworner und Claas Krause, zwei Jazz- und Kompositionsstudenten der Musikhochschule München. Klassische Kammermusik und eine Jazzcombo mit Wavesound, das schwebte dem Duo vor, als es 2014 mit befreundeten Studenten das Verworner-Krause-Kammerorchester gründete.
    D-bü ist auch eine Reaktion auf eine Entwicklung parallel zum Hochschulbetrieb
    VKKO und zeug und quer, zwei von insgesamt acht Projekten, beim Hochschulwettbewerb D-bü für neue Konzertformate. Der starke Kontrast war gewollt. Ungewöhnliche Räume sollten bespielt, Genregrenzen aufgelöst, neue Kommunikationsformen zwischen Musikern und Publikum entwickelt werden. Mit D-bü reagiert die Rektorenkonferenz erstmals auf eine Entwicklung, die schon seit Jahren von Studierenden parallel zum normalen Hochschulbetrieb ausgeht, so der künstlerische Leiter Sebastian Nordmann, Intendant am Berliner Konzerthaus.
    "Es geht den 24 deutschen Musikhochschulen darum, neben der Exzellenz, wer spielt am besten Geige, gleichzeitig den anderen Musiker vorzustellen, der neue, innovative Konzertformate vorstellt. Das sind zwei völlig verschiedene Richtungen im 21. Jahrhundert an einer Hochschule. Es bilden sich Ensembles, genreübergreifend, die einen unheimlichen Drang haben, das auf die Bühne zu bringen und die nicht nur sagen, ich will die beste Interpretation eines Beethovenkonzertes spielen."
    Für die beste Interpretation der Klassiker ist traditionell der Felix-Mendelssohn-Bartholdy-Wettbewerb der Musikhochschulen zuständig. Nun also ein neuer Wettbewerb für innovative Konzertformate. Herkömmliche Kategorien, wie technische Perfektion und Tiefe der Interpretation, greifen bei diesem Format nicht. Stattdessen waren Originalität, Wiederaufführbarkeit und Publikumserfolg die Kategorien, mit denen D-bü an den Start ging, erläutert Sebastian Nordmann die Schwierigkeit, Äpfel mit Birnen zu vergleichen.
    "Der Wettbewerb an sich, dass wir drei Preise vergeben, soll nicht dahin zielen, dass wir sagen, es gibt das beste Format, sondern wir wollen gerade diese Plattform bieten zu sagen, es gibt unterschiedliche neue Formate und unterschiedliche Preise dafür. Wir wollen nicht ranken und sagen, der eine ist besser als der andere und das viel mir auch wahnsinnig schwer bei der Auswahl."
    Studenten in der Jury
    Rund 30 Projekte unterschiedlichster Ausrichtung und Besetzung wurden für die Vorauswahl eingereicht, acht Ensembles schließlich zum Wettbewerb in Berlin zugelassen. Alle 16 Hochschulen, die nicht beim Wettbewerb im Rennen waren, schickten jeweils einen Studenten, eine Studentin als Jurymitglied nach Berlin. Auch das ein neuer Ansatz:
    "Ich glaube, je älter man wird, und ich bin jetzt 46 und darf trotzdem schon sagen, desto mehr hat man Konventionen. Studierende sind viel freier, das ist ihre Generation, mir war es wichtig, dass es auch in der Jury von vorneherein keine Konventionen gibt. Und ich glaube, dass auch Studierende lernen können, weil sie ja selbst an den Formaten interessiert sind, was ist wichtig, was kommt rüber, diskutieren in einer Plattform mit den Studierenden und nachher mit den Ensembles, die teilgenommen haben, was hat funktioniert, was hat nicht funktioniert."
    Was im herkömmlichen Hochschulbetrieb bislang nicht vorkommt, sagt Steven Walter, künstlerischer Leiter vom experimentellen Klassik-Festival Podium in Esslingen und was wohl einer der Gründe für die durchaus unterschiedliche Qualität der eingereichten Beiträge war, die mitunter deutlich zu lang oder manchmal mit zu vielen Ideen überladen waren.
    "Das liegt auch daran, dass das ganze Thema, also wie kann man Konzerte anders denken, noch immer ein erstaunlich Frisches ist in den Musikhochschulen. Das heißt, es ist nicht so, dass da eine Disziplin entstanden ist, mit bestimmten Qualitätsstandards, das ist noch sehr, sehr jung als Handlungsfeld für Musikerinnen und Musiker und dadurch ist die Qualität sehr unterschiedlich. Und man merkt, dort wo etwas Interessantes entstanden ist, ist es meistens auch jenseits der Musikhochschulen entstanden. Und da haben wir versucht, die Spreu vom Weizen zu trennen hinsichtlich Originalität und Vielfalt und Potenzial."
    Wettbewerb mit Werkstattcharakter
    Anders als bei traditionellen Wettbewerben, bei denen es auf perfekte Leistung ankommt, waren hier Impulse und Offenheit für kreative Entwicklungen und Prozesse gefragt. Ein Wettbewerb mit Werkstattcharakter.
    Ob der Wettbewerb D-bü seinen selbstbewusst formulierten Anspruch einlösen wird, "zukünftig eine der wichtigsten Plattformen für die Musikformate der Zukunft zu sein – als jährliche Leistungsschau der unkonventionellsten musikalischen Köpfe" wird sich zeigen.