Donnerstag, 28. März 2024

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125. Geburtstag von Walter Mehring
Rebellische Berliner Schnauze mit Köpfchen

Als Dadaist und Expressionist machte Walter Mehring das Kabarett der 1920er-Jahre groß. In seinen Chansons verband er Sprache mit modernen Rhythmen. Seine immer schärferen Seitenhiebe gegen die aufstrebenden Nationalsozialisten zwangen Walter Mehring 1933 in ein langes, zermürbendes Exil.

Von Christoph Vormweg | 29.04.2021
    Der Schriftsteller Walter Mehring (Archivbild von 27.4.1976) gehört zu den wenigen der nach 1933 von den Nationalsozialisten geächteten und aus dem Land vertriebenen Dichtern, deren Werk noch zu Lebzeiten wiederentdeckt wurde. Er gilt als ein wichtiger Vertreter der radikalsten Kunstrichtung, des Dadaismus.
    Der Schriftsteller Walter Mehring auf einem Archivbild vom 27.4.1976 (dpa / picture alliance / UPI)
    "Der Mensch ist schlecht / ob Herr, ob Knecht / Kusch!
    Alles in Freiheit dressiert / alles pariert /
    und harrt des Winks / von rechts bis links."
    Mehring: "Verblüffung und Provokation: [...] das sind die Antriebe, das ist das Geheimnis der Kunst überhaupt."
    Walter Mehring, geboren am 29. April 1896, hat die satirische Ader vom Vater geerbt. Während des Ersten Weltkriegs radikalisiert er sich und wird zum Mitbegründer der DADA-Sektion: eine Berliner Schnauze mit Köpfchen, der die hauptstädtischen Dialekte aus dem Effeff beherrscht. Mit seiner zeitkritischen "Gebrauchslyrik" und seinen Liedern will Mehring die Konventionen sprengen, karikieren und entblößen. Seine bevorzugte Interpretin wird Trude Hesterberg.

    "Das Tier wart Mensch - der Mensch ist feig /
    und frisst sich auf mit Krieg und Streik. /
    Sie würden sich zerfetzen / nach Noten und Gesetzen
    und fürchten die Dressur, / das ist Kultur."
    Mehring: "Ich habe noch nie Reime gefunden, weil ich nie Reime gesucht habe. Das ergibt sich von selber aus der Musik. Und der Rhythmus ist das Wesentliche."
    Trude Hesterberg mit Rumpler-Tropfenwagen auf einem Foto um 1928
    Trude Hesterberg auf einem Foto 1928 (picture-alliance / akg-images )

    Tucholsky: "Es reißt einen um!"

    "Zunächst ist hier technisch etwas vollkommen Neues. Da sind nicht mehr die langen Sätze, die mit der Kraft des Verstandes hergestellten Gedankengänge, vom Autor auf die vorher gebaute Pointe losgelassen - hier ist der sinnliche Eindruck in jeder Zeile neu und stark," bescheinigt Kurt Tucholsky dem Jungtalent Mehring, der in Max Reinhardts Kabarett "Schall und Rauch" auf sich aufmerksam macht.
    "Die Mache kommt zunächst gar nicht zum Bewusstsein. Sie ist aber – ob aus dem Herzen, ob aus dem Hirn herrührend - ungeheuer raffiniert. So etwas von Rhythmus war überhaupt noch nicht da. Man kommt nicht zur Besinnung, und es reißt einen um."
    "Die Linden lang! Galopp! Galopp! Zu Fuß, zu Pferd, zu zweit! Mit der Uhr in der Hand, mit dem Hut auf dem Kopf! Keine Zeit! Keine Zeit! Keine Zeit!"

    Die hochtourigen Bilderfluten der Großstadt faszinieren Walter Mehring. Bald wird er zu den Expressionisten gezählt und Paris zu seiner Parallel-Metropole. Mal komponiert er Schlager wie "Ein Mädel von der Reeperbahn", dann schreibt er in Carl von Ossietzkys "Weltbühne". Mehrings großes Feindbild werden die aufstrebenden Nazis:
    Mehring: "Es kann jemand, der Arzt ist, ja sich nicht weigern, in eine Pest hineinzugehen. Es gibt für ihn keine Ausreden in dem Moment, wo er beschlossen hat, ein Arzt zu sein. Für den Schriftsteller gilt genau dasselbe."
    Der wohl bekannteste und schärfste Satiriker der 1920er-Jahre, der Maler und Grafiker George Grosz, an der Staffelei (undatiert). Er war einer der Gründer der Berliner Dada-Gruppe, während des Nationalsozialismus lebte er in der Emigration.
    George Grosz: "Ein kleines Ja und ein großes Nein"
    Als Dandy liebt er den amerikanischen Tanz Shimmy, besucht Varietés und Sportveranstaltungen. Als Künstler bringt George Grosz in spitzen Strichen gesellschaftliche und politische Abgründe auf das Papier, prangert Kriegsgräuel an und entlarvt skrupellose Bohemiens.

    Prophetische Kassandra-Rufe

    1929 bringt Erwin Piscator Mehrings Schauspiel "Der Kaufmann von Berlin" auf die Bühne: eine Persiflage auf die Inflationsgewinnler der Weltwirtschaftskrise.
    Mehring: "Es wurde allerdings der größte Theaterskandal von Berlin. Es war immerhin das erste Mal, dass geschlossen in Formation SA einmarschierte und die Vorstellung störte."

    Bitteres Exil in den USA

    Mehrings Kassandra-Rufe sind so sarkastisch wie prophetisch: etwa im Hinblick auf die spätere Bücherverbrennung. 1933 bleibt dem 36-Jährigen – auch wegen seiner jüdischen Wurzeln - nur die Flucht im Nachtzug nach Paris. Der einstige Glücksort wird zum Ausgangspunkt in ein bitteres Exil. 1935 erscheint "Müller, Chronik einer deutschen Sippe". Auf Druck der Nazis zieht Mehrings Schweizer Verlag den Roman aber zurück. Nur mit Glück schafft er es bis in die USA. Dort "versinkt" er, wie er schreibt, "im Nirgendwo", "am Rand der Zeit".
    Mehring: "Es gibt ein einziges, sehr ernsthaftes Exil – und das ist das Sprach-Exil. […] Besonders, wenn man Verse schreibt."
    Das Gebäude des Voice of America in Washington
    1942: "Voice of America" sendet erstmals auf Deutsch
    Im Zweiten Weltkrieg wurde das Radio als Leitmedium seiner Zeit gleichsam zur Waffe. So wurde der amerikanische Auslandsrundfunk "Voice of America" eigens gegründet, um der deutsche Propaganda etwas entgegenzusetzen. Auch Walter Mehring gehörte zum Redaktionsteam.
    Dank der Hilfe seines alten Freundes, des Malers und Karikaturisten George Grosz, hält sich Walter Mehring über Wasser. Trotz Depressionen und Verfolgungswahn schreibt er weiter. Nach Ende des Zweiten Weltkriegs erscheint "Die verlorene Bibliothek", erst auf Englisch, dann auf Deutsch: eine Auseinandersetzung mit seinem Vater, Untertitel: "Autobiographie einer Kultur". In der jungen Bundesrepublik jedoch wird Mehrings Buch ignoriert.
    Mehring: "Ich habe oft, wenn ich gefragt wurde, gesagt: Was man mir übelnimmt, ist, dass ich noch weiterschreibe."

    Walter Mehrings Mutter ist, wie sich herausstellt, im Vernichtungslager Auschwitz ermordet worden. Zehn Jahre lang gelingt ihm nach seiner Rückkehr aus den USA kein einziges Gedicht. Er stirbt 1981 in einem Züricher Altersheim.
    Das Grab von Walter Mehring auf dem Friedhof Sihlfeld in Zürich, aufgenommen am 26. Juni 2013.
    Das Grab von Walter Mehring auf dem Friedhof Sihlfeld in Zürich, aufgenommen am 26. Juni 2013. (picture alliance / Keystone / Christian Beutler)