Geschichte der Hörspieldramaturgie Teil 7

Hörspiel-Pop oder Pophörspiel?

11:36 Minuten
Eine Studiotür im früheren DDR-Funkhaus an der Nalepastraße in Berlin-Adlershof
. © picture-alliance | KITTY KLEIST-HEINRICH TSP
Von Ulrich Bassenge · 27.04.2021
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Im siebenten Teil seiner Reihe zur Geschichte der Hörspieldramaturgie beleuchtet Ulrich Bassenge das Hörspiel kurz vor dem Ausklang des letzten Jahrhunderts.
Zuspiel Radio Daze
1988. Christoph Lindenmeyer wird zum Leiter der Hörspielabteilung des Bayerischen Rundfunks berufen. Sein Vorgänger Dieter Hasselblatt hat Stanislaw Lem und Herbert W. Franke zum Hörspielschreiben bewogen, die Rechte an Douglas Adams‘ Per Anhalter durchs All klar gemacht und erstmals War of the Worlds von Orson Welles im Original ausgestrahlt. Das zeitgenössische Hörspiel interessiert den leidenschaftlichen Science-Fiction-Fan ebensowenig wie Philip K. Dick, Michael Moorcock oder William Gibson. Lindenmeyer findet also Tabula rasa vor. Er besetzt den Dramaturgenposten mit Herbert Kapfer. Gemeinsam ruft man beim BR die Postmoderne aus.
Ausschnitt "eschen junge zwei"
Geschult an Expressionismus, Dada und deren Nachkriegspendants, der Beat Generation und der konkreten Poesie schärfen Lindenmeyer und Kapfer das Profil des BR, ohne die großen Namen aufzugeben - Namen wie Heinz von Cramer, ein flamboyanter und unfassbar produktiver Regisseur, Komponist und Kettenraucher, der während der Realisation seiner opulent besetzten Literaturbearbeitungen über Wochen das Funkhaus in der Hopfenstraße mit seinem Tross okkupiert. Die Größen des Neuen Hörspiels wie Ernst Jandl, Friederike Mayröcker und Gerhard Rühm kehren zurück zum Radio, ebenso wie der von Jandl ironisch als "Vater der Wiener Gruppe" betitelte Außenseiter H.C. Artmann. Das verbindende Element der meisten Produktionen ist eine Pop-Sensibilität.
Zitat Herbert Kapfer: "Pop beeinflusst das Hörspiel unentwegt. Pop überrascht eine Gattung, die ständig darum bemüht ist, nicht vom Zug der Zeit abgehängt zu werden, immer wieder aufs Neue. Die zunehmende Tendenz zu Mischformen lässt eine Unterscheidung zwischen Pop und Avantgarde immer schwieriger werden."
BR-Dramaturg Kapfer in seinem definierenden Essay Harte Schnitte, ungezähmte Worte. Stimmen hört jeder. Exemplarisch für die Münchner Dramaturgie steht das Werk von Andreas Ammer mit seinem postdramatischen und plunderphonischen Zugriff auf Monumente der Weltliteratur. Sehr oft tut er sich dafür mit dem Komponisten FM Einheit zu einer Band zusammen.
Zitat Herbert Kapfer: "Der Pop-Gedanke hat mich sicher mehr geprägt als der Künstlergedanke. Es ist nicht so, dass wir etwas aus der Welt nehmen und damit dokumentieren, wie schlecht die Welt ist, sondern wir nehmen etwas aus der Welt und stellen es ganz wo anders hin."
Ausschnitt "Radio Inferno"
Andreas Ammer explodiert im BR wie eine Supernova. Anfangs adjutiert vom literarischen Universalgenie Carl-Ludwig Reichert tummelt er sich zunächst im selten genutzten Genre des enzyklopädischen Hörspiels. Ihr gemeinsames Debüt Orbis Auditus – das Lautlexikon wird zum Hörspiel des Jahres gekürt. Unzählige Preise werden folgen. Hörspiel Nr. zwei, Kaiser Wilhelm Overdrive ist eine Reminiszenz an die Ära des O-Tons.
Ausschnitt "Kaiser Wilhelm Overdrive"
Dramaturg Kapfer legt Wert auf die Feststellung, dass es kein Pop-Hörspiel gäbe, sondern nur Hörspiel-Pop. Damit sind die Verfahrensweisen gemeint …
Zitat Matthias Knappe:"… die seit den sechziger Jahren gewachsenen Techniken der Pop-Kultur als Inspiration und Methode. Akustisches Material jeder Art wird zitiert, montiert und collagiert."
So schreibt Matthias Knappe im Reader Vom Sendespiel zur Medienkunst – die Geschichte des Hörspiels im Bayerischen Rundfunk. Es ist kein Zufall, dass der Anfang der Münchner Dramaturgie zusammenfällt mit der Erfindung des Samplers.
Musik Paul Hardcastle
Von Anfang an gehören Jazz, Rock und Punk zum Kanon. Die Popliteraten interessieren sich jetzt fürs Hörspiel, so wie ein Vierteljahrhundert früher ein Wondratschek, Fauser oder Brinkmann. Erstmals liest man Namen wie Petra Fuchs, Thomas Meinecke, Andreas Neumeister, Thomas Palzer oder Simone Schneider im Programmheft. Aus dem kreativen Sumpf der Berliner Geniale Dilletanten-Szene kommen Max Goldt, Wolfgang Müller von der Tödlichen Doris und eben FM Einheit, der Schlagzeuger der Einstürzenden Neubauten und Kollaborateur Andreas Ammers in preisgekrönten Projekten.
Hartmut Geerken, Schriftsteller und Musiker, hat das Goethe-Institut in Kairo geleitet und ist zu gleichen Teilen von der Philosophie Immanuel Kants und dem afrozentrischen Glaubenssystem Sun Ras informiert. Seinen Lieblingstexten nähert er sich in Dechiffrierung und improvisatorischer Decollage. Die Grenzen seiner Klangkunst sind schwer auszumachen.
Ausschnitt "Bombus terrestris"
In seiner Zeit als Krimi- und Science-Fiction-Abspielstation ist der BR bei allen großen Wettbewerben leer ausgegangen. Seit Mitte der 80er Jahre hatte sich die Tendenz zum Spiel zwischen Wort und Musik abgezeichnet. Heiner Goebbels hatte mit seiner Heiner-Müller-Paraphrase Der Mann im Aufzug eine breite Schneise geschlagen. Hier schließt der BR nun an, holt schnell auf und übernimmt innerhalb weniger Jahre die Meinungsführung. Regale füllen sich mit Preisen, Wände mit Urkunden. Die ganze ARD blickt paralysiert auf die Bayern, auch wenn die musiklastigen Münchner Produktionen lange Zeit verhasst bleiben und nicht übernommen werden. Irgendwann aber ist Kapfers Diktum bei den meisten durchgesickert:
Zitat Herbert Kapfer: "Die Impulse der Popkultur, die Ende der sechziger Jahre auf das deutsche Hörspiel einwirkten, sind inzwischen selbstverständlicher Bestandteil einer zeitgemäßen Hörspielauffassung und Produktionspraxis."
Damit ist unter anderem gemeint eine gewisse Coolness in der Inszenierung, ein absichtliches downplay vor dem Mikrophon. Eine pop-affine Produktion umfasst auch das Verständnis des Tonstudios als Musikinstrument - wie das im jamaikanischen Dub oder zuvor im Abbey Road Studio gepflogen wurde. Selbst vor der Sprache macht das maschinelle Treatment nicht halt. Zur alchimistischen Pop-Formel des BR gehört auch die Besetzung. Kurz gesagt: zuviel name dropping kann es gar nicht geben. Je internationaler, desto besser.
Ausschnitt "Funky Yard"
Was ebenfalls zu stemmen ist: die Digitalisierung des Hörfunks. Der Bayerische Rundfunk tauft seine Hörspielabteilung in "Hörspiel und Medienkunst" um. Erste Hörspiele werden auf CD veröffentlicht. Erste Stücke werden außerhalb der öffentlich-rechtlichen Studios privat am PC produziert. Eine freie Hörspielszene entsteht. Es herrscht Optimismus. Andreas Ammer sieht das Hörspiel auf der Höhe von Zeit und Technik:
Zitat Andreas Ammer: "Wenn wir nach der zeitgemäßen Form des Hörspiels suchen, sollten wir von Mozart und der Hitparade lernen. Denn das Hörspiel ist – einmal abgesehen vom Film, der wegen seiner Gigantomanie zum Unkünstlerischen neigt – der einzig zeitgemäße Platz, an dem sich heute noch große Geschichten erzählen lassen."

Alle Teile der Geschichte der Hörspiel-Dramaturgie: