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Afonso Reis Cabral: Aber wir lieben dich
Ein Drama um Menschlichkeit und Niedertracht

2006 wurde im portugiesischen Porto ein Transsexueller von Jugendlichen mit sadistischer Brutalität erschlagen. Afonso Reis Cabral beleuchtet die Hintergründe des aufsehenerregenden Verbrechens mit den Mitteln der erzählerischen Phantasie.

Von Eberhard Falcke | 27.05.2021
Der portugiesische Schriftsteller Afonso Reis Cabral und sein Roman „Aber wir lieben dich“
Der portugiesische Schriftsteller Afonso Reis Cabral und sein Roman „Aber wir lieben dich“ (Foto: imago/ GlobalImagens/ Orlando Almeida, Buchcover: Hanser Verlag)
Es bieten sich großartige Aussichten von den oberen Stockwerken des Gebäudes mit dem schönen Namen "Zuckerhut": die Stadt Porto, die Flussbiegungen des Douro, in der Ferne die Gipfel des Valongo-Gebirges. Da entfährt sogar den abgebrühten Fürsorgezöglingen aus dem Jugendheim São José ein bewunderndes "traumhaft". Ihre unmittelbare Umgebung jedoch bietet ein tristeres Bild: das nackte Betonskelett einer Bauruine, Abfall, Graffiti, der Schutt einer gescheiterten Investition. Das ist der zentrale Schauplatz des Romans "Aber wir lieben dich" von Afonso Reis Cabral, der von krassen Gegensätzen und schmerzhaften Widersprüchen handelt. Am deutlichsten werden diese Spannungen verkörpert von Rafael, dem empfindsamen Ich-Erzähler, und Samuel, seinem Freund, der die hässliche Welt, in der sich die Jungen behaupten müssen, mit dem Zeichenstift aufs Papier bannt. Beide sind um die zwölf Jahre alt, ihre Mütter schaffen als Prostituierte an, ihr Zuhause ist ein ständiges Krisengebiet, darum sind sie im Heim gelandet, dessen Erzieher sich wenig um ihre Zöglinge kümmern:
"Wir suchten in der Stadt nach den Dreckslöchern. So nannten wir sie. Nélson sagte Verbotene Orte, Samuel mochte das nicht, denn es waren ja keine Orte und nicht einmal verboten. Nélson und ich waren gut im Kaputtmachen, Samuel dagegen konnte zerstören und Dinge erschaffen."
Diese "Dreckslöcher" sind die geheimen Reviere der Außenseiter, für die sich sonst niemand interessiert und wo nur ihre eigenen Regeln gelten. Eines davon ist der Keller der Bauruine, aus der einmal ein Einkaufszentrum mit dem Namen "Pão de Acúcar", also "Zuckerhut" werden sollte. Dort macht Rafael eine aufregende Entdeckung. In einem elenden Verschlag haust da ein spindeldürrer Mensch, krank, geschwächt, schmutzig und mittellos. Rafael ist abgestoßen und angezogen zugleich.
Glamour und Elend
An den darauffolgenden Tagen bringt er Essen mit und lernt Gisberta kennen, die in São Paulo als Gisberto geboren wurde und sich nach der Pubertät entschied, eine Frau zu sein. Weil sie sich in Brasilien als Transsexuelle bedroht fühlte, ging sie nach Portugal und trat, wie in Rückblenden erzählt wird, mit Erfolg in Cabarets auf. Sie posierte als Marilyn, sang deren Hits und schloss ihre Show mit einem Striptease ab, der zeigte, dass sie nicht nur einem Geschlecht angehört:
"Der Körper, den sie selbst erschaffen hatte, war nur zum Anschauen da, nur zum Zeigen. 'Mann, wie hat es mir Freude gemacht, ihn vorzuführen', sagte sie."
Das war die Glanzzeit. Was folgte waren Prostitution, Drogensucht, HIV, Obdachlosigkeit, der Keller im "Zuckerhut". Und die kurze Freundschaft mit Rafael und Samuel. Zum ersten Mal im Leben machen die beiden Jungen die Erfahrung, dass sie, obwohl sie selbst nichts haben, jemandem etwas geben können.
Menschlichkeit und Niedertracht
Doch dann wendet sich das Blatt. Ein paar ältere Schläger aus dem Heim entdecken, was in dem Keller vor sich geht, und zerstören mit brutaler Gewalt die menschliche Begegnung, die sich dort gerade entwickelt hat. Gisberta überlebt das mehrtägige Martyrium von Tritten und Schlägen nicht. Ihre jungen Freunde können ihr nicht helfen und treten unter dem Druck der Horde sogar selbst ein paar Mal zu.
Dieses Ende darf man durchaus verraten, denn es hat sich 2006 in Porto tatsächlich ereignet. Und ohne dieses Ende hätte es das Verbrechen nicht gegeben, das Afonso Reis Cabral zehn Jahre später, als an den Fall öffentlich erinnert wurde, zum Stoff seines zweiten Romans gemacht hat.
Der Fall Gisberta: Von Jugendlichen erschlagen
Der Mord an Gisberta beschäftigte die Medien und die LGBT-Szene jahrelang, wie der Autor im Anhang mit zahlreichen Zitaten dokumentiert. Der "Público" schrieb damals kurz nach Entdeckung der Toten:
"Was sich tatsächlich in dem verlassenen Haus abspielte, ist nach wie vor alles andere als aufgeklärt. Manche Zeugen berichten, es habe oft Streit mit dem Opfer gegeben. Einer der an der Tat Beteiligten bezeichnete ihn trotzdem als seinen Freund."
Es sind genau diese weißen Flecken im Zentrum der grausamen Geschichte, die Afonso Reis Cabral genutzt hat, um darauf die Fiktion seines Romans zu entfalten. Die verstörende Wucht seiner Darstellung entsteht dadurch, dass er die sadistische Niedertracht der Täter aus dem Fürsorgeheim nicht durch ihren eigenen Opferstatus wegerklärt. Stattdessen zeigt er, wie ihre Bösartigkeit vor allem von gemeinem Machtwillen angetrieben wird. Während Rafael und Samuel sich dem menschlichen Mitgefühl öffnen, verschließen sich die Schläger gegen alle Menschlichkeit, um desto besser ihrer Tyrannei frönen zu können.
Mit "Aber wir lieben dich" ist Afonso Reis Cabral ein spannender und vielschichtiger Roman gelungen: Eine True-Crime-Story, ein bewegendes menschliches Drama und vor allem eine beunruhigende Parabel über die Abgründe der menschlichen Natur.
Afonso Reis Cabra: "Aber wir lieben dich"
aus dem Portugiesischen von Michael Kegler
Carl Hanser Verlag, München. 300 Seiten, 24 Euro.