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Wettstreit im Inneren

Peter von Matt hat einmal erklärt, dass es zwei Autoren gebe, vor denen man sich mit Einfühlung oder Introspektion nur blamieren könne: Heinrich von Kleist und Franz Kafka. Andererseits sind gerade bei Kleist bestimmte entscheidende Details seiner Biographie im Dunkeln geblieben. Vielleicht liegt gerade darin ein Grund, warum es lange Zeit recht wenige Biographien dieses vor 230 Jahren in Frankfurt an der Oder geborenen Autors gab. Immerhin, in diesem Herbst sind gleich zwei erschienen: "Kleist. Eine Biographie", zwei Mal der gleiche Titel, einmal von Gerhard Schulz und einmal von Jens Bisky.

Von Detlef Grumbach | 27.12.2007
    "Kein Ort. Nirgends" nannte Christa Wolf ihre Erzählung, in der sie die fiktive Begegnung Heinrich von Kleists mit Caroline von Günderode gestaltet. Sie reagiert damit auf die Ausbürgerung Wolf Biermanns aus der DDR, fragt nach dem Verhältnis von Individuum und Gesellschaft, gesellschaftlicher Konvention, gesellschaftlicher Macht.

    "Keine Vollendung, nirgends", so formuliert Jens Bisky, Autor und Feuilleton-Redakteur der "Süddeutschen Zeitung", in seiner Kleist-Biographie. Die Frage nach dem Platz in der Gesellschaft, den der Autor des "Michael Kohlhaas", des "Zerbrochenen Krugs", der "Penthesilea" nicht finden konnte, weicht in dieser kleinen Hommage an Christa Wolf der nach seinem Leben, das – darum kommt auch Gerhard Schulz nicht herum – merkwürdig in der Schwebe bleibt, im klassischen Sinne eigentlich keine Lebensgeschichte darstellt.

    Jens Bisky:

    "Es ist ungeheuer merkwürdig: In der Zeit, wo alle Leute eine Lebensgeschichte haben, wo die Biographie als Muster sich neu etabliert, dann klassisch wird mit Goethes "Dichtung und Wahrheit", haben wir so ein Leben wie das Heinrich von Kleists, in dem man nicht das Gefühl hat, dass sich eins aufs andere aufbauen würde, dass jemand nach Lehrjahren in Wanderjahre überginge und dann zur Reife gelangt, sondern haben das Gefühl, alle 18 Monate, alle zwei Jahre fängt dieser entflohene preußische Leutnant von vorne an. In diesem Leben rundet sich nichts und es geht sehr vieles schief. Und wenn Kleist Möglichkeiten hat – und er hat einige, er gehört zu den Privilegiertesten in Preußen – dann entzieht er sich den Zumutungen und haut ab."

    1877, vor 230 Jahren wird Heinrich von Kleist als Spross einer angesehenen Offiziersfamilie geboren. Eine militärische Laufbahn scheint vorgezeichnet, doch Kleist quittiert den Dienst. Er studiert und stolpert in eine existenzielle Sinnkrise, die ihn am Wert allen Wissens zweifeln lässt. Er reist durch Europa und will Bauer in der Schweiz werden. Er debütiert mit seinem Stück "Die Familie Schroffenstein" und wird damit auf einen Schlag bekannt, will mit dem Schreiben Taten wie andere auf dem Schlachtfeld vollbringen, scheitert jedoch mit seinem Helden-Trauerspiel "Robert Guiskard". Weil er das Schreiben nun einmal nicht lassen kann, wie er bemerkt, will er schließlich vom Schreiben leben, Erfolgsstücke in Serie schreiben.

    Während Gerhard Schulz einen deutlichen Akzent auf die frühen Briefe Kleists legt und diese als literarische Dokumente mit dem Protagonisten Kleist liest, stellt Bisky ihn stärker in den politischen Konztext. Während Gerhard Schulz als emeritierter Germanist seinem Lebenswerk eine kleine Krone hinzufügt, schreibt Bisky als politischer Feuilletonist aus der Mitte seines Lebens und seiner Zeit. Bisky ist in der DDR aufgewachsen, hat als wacher Zeitgenosse die Umbrüche des Jahres 1989 erlebt, die folgenden Jahre nationaler Bewegungen, Konflikte, Kriege in Südosteuropa verfolgt. Wer aus dieser Perspektive auf Kleist und das Europa zu seiner Zeit schaut, kann durchaus eine Affinität zu dem Autor entwickeln. Doch darin liegt nicht der einzige Grund, dass der Biograf seinen Protagonisten als "ewigen Zeitgenossen" tituliert, aber auch bremst und auf Distanz großen Wert legt.

    "Schiller und Goethe entrücken immer mehr in eine ferne Welt – in der kann man auch sehr viel Modernes entdecken, aber da muss man sich Mühe geben, da muss man rekonstruieren – während es, wenn man Kleist liest, bei ganz vielen naiven Lesern den ersten Eindruck, das erste Gefühl gibt: Was für eine ungeheure Sprachmacht und zweites, der ist ja so modern und aktuell. Er wirkt auch so modern, weil er sich auf die Konflikte und Spannungen seiner Zeit eingelassen hat, und das sind die Jahre zwischen der französischen Revolution und den Befreiungskriegen. Wir leben immer noch im Bann dieser Jahre, auch deswegen wirkt er so ungeheuer zeitgenössisch auf uns."

    Kleist trennt sich von seiner Verlobten, pflegt ein inniges Verhältnis zu seinem Freund Ernst von Pfuel. Er bewirbt sich um Anstellungen bei Hofe und flieht vor jedem Amt. Seine Texte spiegeln die Bewegungen und Kämpfe der Zeit, in der keine Ordnung Bestand hat, in der in Europa immer irgendwo Krieg herrscht, in der Grenzen und Einflusssphären neu bestimmt werden. Er erlebt ihre Paradoxien und inneren Widersprüche, wird vom Offizier zum Dichter, vom Anhänger der Französischen Revolution zum Gegener Napoleons, der wieder in die Schlacht ziehen will. Die Leidenschaft, mit der Kleist sich seiner Zeit stellt, birgt immer wieder Ansatzpunkte, ihn für aus einer aktuellen Situation heraus zu vereinnahmen, ihn zum "großen Bruder" zu machen. Das gilt für den Scheiternden und Einsamen, den Pazifisten oder auch – man denke an das Kleist-Bild der Nationalsozialisten – für den Autor der "Hermannschlacht". Und es gilt für den Schwulen.

    Doch wo immer Kleist-Rezeptionen durch eine besondere Einfühlung "ihren" Kleist zu konstruieren beginnt, steuern Bisky und auch Gerhard Schulz mit einer Fülle von Material dagegen, das jedes runde Kleist-Bild fragwürdig erscheinen lässt. Bisky stellt dabei den oft strapazierten heutigen Kategorien die differenzierte Situation jener Jahre gegenüber, wo über Kleist selbst wenig herauszufinden ist und schon deshalb Spekulationen blühen, erhellt er mit Akribie das geistige und gesellschaftliche Umfeld. So bringt er dem Leser den "ganzen" Kleist in aller Widersprüchlichkeit nahe, zeichnet seine Wege, Stationen und Freundschaften nach, zeigt, wie sich auch sein Verhältnis zum Schreiben verändert und stellt die Bezüge zum Werk her.

    "Das versuche ich zu beschreiben, so weit wie möglich zu historisieren und am Ende stand ich dann da und dachte, ja, jetzt hast du das alles getan, doch er ist immer noch nicht völlig eingemeindet in seine Zeit. Er hat dieses Exzentrische, das seinen Zeitgenossen auch immer auffiel, dieses Rätselhafte behalten. Und dieser Spannung muss man irgendwie gerecht werden."

    Ein Themenkomplex, an dem seine provozierende Aktualität zeitlos deutlich wird, ist der von "Liebe und Sexualität". Bisky wendet sich entschieden gegen das Bild des "schwulen Kleist" – diese Kategorie gab es damals nicht. Er spürt aber mit Genauigkeit der Beziehung Kleists zu Pfuel nach. Den in der Literatur immer wieder herangezogenen Liebesbrief, den laut Bisky schönsten Liebensbrief eines Mannes an einen Mann, zitiert er vollständig. Er sei einfach nicht zu kürzen, ohne ihn ganz wesentlicher Aspekte zu berauben.

    "Man kann diesen Brief nicht lesen und abstreiten, dass er Pfuel geliebt hat. Jetzt ist aber die Frage: Wie drückt er das aus? Man kann das im Kasino-Ton machen oder im Feldlager-Ton, man kann das tun, wie Goethe es in seiner Eloge auf Winckelmann getan hat, man kann das tun, wie Friedrich II. darüber gesprochen hat. Es gibt Anklänge an den empfindsamen Freundschaftskult, der aber mit Sexualität nur entfernt etwas zu tun hatte. In all diesen Versionen – und das finde ich dann wirklich interessant – findet man zwischen beiden Partnern einen Machtunterschied. Da gibt es den Älteren und den Jüngeren, den Lehrer und den Schüler. Bei Kleist gibt es diesen Machtunterschied nicht. Und das Interessante ist: Weil sie absolut gleichberechtigt ist, tobt im Inneren dieser Liebe ein Wettstreit. Und davon handelt dann auch die "Penthesilea", von diesem Ineinander von Liebe und Krieg. Das sind ja überhaupt die beiden Themen von Kleist."

    Penthesilea und Achill sind gleichberechtigt im Kampf und in der Liebe. Die Pfeile, die sie in blutiger Schlacht aufeinander abschießen, so Bisky, sind Liebesboten. Penthesilea tötet Achill, den sie "von Herzen liebt". Nicht etwa das "Schwule" – nach gegenwärtigen Kategorien – machen das Verhältnis von Kleist zu Pfuel demnach interessant. Kleist bekennt Pfuel gegenüber in seinem Brief seine "wahrhaft mädchenhaften Gefühle", bewundert seinen vollkommenen Körper als, so wörtlich, "musterhaftes Bild der Stärke, als ob du dem schönsten jungen Stier, der jemals dem Zeus geblutet, nachgebildet wärest".

    "In diesem Brief gibt es einen ganz klaren Zusammenhang zwischen dieser Vergötterung Pfuels, des schönen Jünglings, den er beim Baden beobachtet, und der Fantasie, ihn zum Opferstier zu machen und ihn bluten zu lassen. Das gibt es. Das kehrt dann auch literarisch bei Kleist mehrfach wieder. Zur Liebe gehört, zumindest in der Literatur, etwas vom Rasen, weil zur Liebe in der Literatur immer ein Ausschließlichkeitsanspruch gehört und auch die Behauptung, dass die Liebe immer Recht hat und der Liebe alles erlaubt ist."

    Indem Bisky seinen Protagonisten vor Vereinnahmungen schützt und eine historisierende Distanz zu ihm schafft, hebt er die Aktualität Kleists – so könnte man beinahe sagen – auf eine höhere Stufe. Das Geheimnisvolle und Unfassbare dieses faszinierenden Autors und Zeitgenossen funkelt vielfach gebrochen wie Edelsteine, nicht einzeln, jeder für sich, sondern solide verankert in einer stabilen Fassung. Auch wenn der Leser gelegentlich stöhnt unter der Fülle des Materials: er spürt, wozu es dient und fühlt sich dankbar belohnt.
    Jens Bisky: Kleist. Eine Biographie, Rowohlt Berlin 2007, 528 Seiten, 22,90 Euro