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Wider den Aggressionen gegen Sinti und Roma

Das "Requiem für Auschwitz" des niederländischen Roma-Komponisten Roger Moreno Rathgeboren ist eine Erinnerung an alle Opfer des Holocaust, insbesondere an den "vergessenen Holocaust" an den Sinti und Roma. Außerdem will das Projekt auf die aktuelle Situation der Roma – insbesondere in Mittel- und Osteuropa – aufmerksam machen.

Von Silja Schultheis | 05.11.2012
    Einstimmen für die Generalprobe im Rudolfinum, der Prager Philharmonie. Riccardo Sahiti, der Dirigent, begrüßt die Musiker seines internationalen Roma und Sinti Philharmonie-Orchesters.

    Mit der Gründung dieses professionellen Roma-Ensembles hat sich Sahiti vor zehn Jahren einen Lebenstraum erfüllt. Anfang der 1990er-Jahre wie so viele Roma aus dem Kosovo vertrieben, fand er in Frankfurt am Main einen neuen Anfang. Sahiti glaubt fest an die Kraft der Musik – das bringt er beim Dirigieren mit jeder Faser seines zierlichen Körpers zum Ausdruck. Das Requiem bedeutet für ihn nicht nur Gedenken, sondern auch Blick nach vorne:

    "Eine Hommage ans Leben. Wir brauchen nicht Krieg. Wir brauchen Frieden. Und wir brauchen, dass die Menschen zusammenleben auf dieser Erde. Gleichzeitig, zusammen, mit vielen verschiedenen Kulturen. Jeder kann etwas geben. Und ich möchte, dass diese Kultur, diese Musik, die Menschen unterstützt. Dass sie Nahrung ist für unsere Seele und unseren Geist. Und ich bitte die Komponisten aus aller Welt, dass sie komponieren."

    Auf dem Podium des ausverkauften Prager Rudolfinums steht zusammen mit drei anderen Solisten die 24-jährige tschechische Roma-Sopranistin Pavlina Matiova. Für sie und ihre vielen angereisten Verwandten ist heute ein großer Tag, nicht nur wegen der minutenlangen Standing Ovations:

    "Ich bin die erste Roma-Sängerin, die auf dem Podium der Philharmonie auftritt. Das ist natürlich eine große Ehre für mich. Und ich habe viel Hoffnung in dieses Projekt und wünsche mir sehr, dass es in der Gesellschaft etwas bewirkt."

    Noch nimmt die tschechische Gesellschaft die Roma, die größte Minderheit im Land, überwiegend als kriminelle Außenseiter wahr. Soziale Ghettos mit einer Arbeitslosenrate von über 90 Prozent, katastrophale Bildungsmöglichkeiten, Verschuldung, Perspektivlosigkeit – das ist die Lebensrealität der meisten Roma in Tschechien. Seit einigen Jahren wird dazu die Stimmung in der Gesellschaft aggressiver. Es gab wiederholt Brandanschläge auf Roma-Häuser, Naziaufmärsche in verschiedenen Städten gehören zum Alltag. Renata Horvatova von der Bürgerinitiative Slovo21, die das Projekt "Requiem für Auschwitz" auf tschechischer Seite betreut:

    "Die Situation in Tschechien ist sehr angespannt. Es reicht immer ein kleines Fünkchen und schon entlädt sich wieder eine unglaubliche Welle von xenophober Stimmung. Der Antiziganismus wächst ständig. Dieses Projekt sollte die Gesellschaft zum Nachdenken anregen, dass wir nicht in die Zeit der 1930er- und 1940er-Jahre zurückkehren sollten und dass sich die Tragödie von damals auch heute wiederholen kann."

    Die Tragödie, den Genozid an den tschechischen Roma, ruft eine Ausstellung des Brünner Museums für Roma-Kultur in Erinnerung, die jetzt in Prag gezeigt wird. 90 Prozent der tschechischen Roma wurde während des Nationalsozialismus ermordet – von den ursprünglich 6.500 Roma im Land überlebten nur knapp 600 den Holocaust. Im Geschichtsbild vieler Tschechen nach wie vor ein weißer Fleck.

    Das Projekt "Requiem für Auschwitz" will aber vor allem in die Gegenwart weisen. Ganz wichtig für einen toleranteren Umgang der Mehrheitsgesellschaft mit der Roma-Minderheit seien positive Vorbilder – Roma wie die Sopranistin Pavlina Matiova, meint Karla Čížková von der Organisation Slovo21, die auf tschechischer Seite das Requiem organisiert:

    "Viele Leute, mit denen ich zu tun habe, sagen: Gut, es gibt ein paar positive Ausnahmen unter den Roma. Aber wenn ich sage: Ich kenne Dutzende gebildete und intelligente Roma, dann wundern sie sich schon. Ich glaube, je mehr über solche positiven Beispiele in den Medien berichtet wird, desto mehr überzeugt das die Leute davon, dass es eben nicht nur die eine Sängerin gibt, die eine Ausnahme ist."