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Widerwärtige und ungesunde Nahrung

Im Reich der Mitte mit seinen 1,3 Milliarden Menschen soll niemand hungern. Doch die Lebensmittelbranche kommt dieser Aufforderung scheinbar nur nach, indem sie mit zum Teil lebensgefährdenden Methoden produziert.

Von Silke Ballweg | 13.04.2013
    Kindertrubel hört Lan Yan Fei derzeit nur im Freien. Ihre eigene Wohnung ist totenstill. In der Ecke liegt eine Packung Windeln, daneben buntes Spielzeug. Es wird wohl ein paar Monate dauern, bis ihr Sohn die wieder in die Hände nimmt.

    "Ich habe ihn zu meinen Eltern nach Südchina gebracht, weil die Luft in Peking so schlecht ist. Ich mache mir Sorgen um seine Gesundheit und hoffe, dass es ihm bei meinen Eltern auf dem Land besser geht."

    Nicht nur die Luftverschmutzung macht Lan Yan Fei zu schaffen. Auch die endlosen Lebensmittelskandale scheuchen sie auf. Die 31-Jährige zieht eine Tüte hervor, in der zwei großen Dosen mit Milchpulver verpackt sind. Die hat sie sich aus dem Ausland bringen lassen:

    "Sobald ich höre, dass Freunde nach Hongkong fahren, bitte ich sie, mir Milchpulver von dort mitzubringen. Mein Mann bringt auch jedes Mal welches mit, wenn er dort auf Dienstreise ist. Und wenn mich gerade niemand versorgen kann, kaufe ich Milchpulver im Internet. Von ausländischen Marken."

    2008 wurde China von einem landesweiten Milchpulverskandal erschüttert. Ein einheimischer Hersteller mischte die Chemikalie Melamin in die Babynahrung, sechs Kinder starben, 300 000 weitere wurden krank. Seither vertrauen viele Chinesen nicht mehr den heimischen Produkten. Findige Kleinhändler haben daraus längst ein Geschäft gemacht. Sie kaufen im Ausland, auch in Deutschland, Milchpulver auf und bieten es in China übers Internet an. Besorgte Chinesen zahlen bis zu 100 Euro für eine Dose, die sonst rund 20 Euro kostet.

    Zheng Fengtian ist Nahrungsmittelexperte an der Pekinger Volksuniversität. Er kann das gut nachvollziehen.

    "Immer mehr Chinesen leben in den Städten und müssen mit industriell hergestellten Lebensmitteln versorgt werden, die gesamte Nahrungsmittelindustrie ist aber noch jung. Oft gibt es keine klaren Hygienestandards und viele Unternehmen wollen für die Sicherheit der Nahrung nicht viel Geld ausgeben, deswegen geben sie Chemikalien ins Essen, schädliches Zeug."

    Obst und Gemüse in China sind – nach Ansicht von Fachleuten - weitestgehend pestizidbelastet. Im Fleisch findet man oft so hohe Hormonwerte, dass es für Leistungssportler verboten ist, weil sie sonst bei Dopingtests als "positiv" gesperrt werden würden. Schätzungen zufolge wird jeder zehnte Liter Speiseöl unter ekelerregenden Umständen hergestellt: Korrupte Firmen pressen aus Speiseabfällen das alte Öl heraus, bereiten es chemisch auf und verkaufen es wieder an Geschäfte und Restaurants. Kurz: In China ist es inzwischen fast unmöglich, gepanschten Lebensmitteln zu entkommen. Die staatlichen Kontrollen sind auf zu viele Behörden verteilt, zu sehr dezentralisiert und ineffektiv, klagt Zheng Fengtian von der Volksuniversität:

    "Im Durchschnitt sind sieben oder acht Personen in den Behörden für die Lebensmittelsicherheit von rund 80.000 Menschen zuständig. Gleichzeitig gibt es Hunderte Millionen Bauern in China und Tausende von Firmen, die Lebensmittel produzieren. Die Regierung kann nicht alle kontrollieren."

    Hinzu kommt, wie so oft in China: Politiker und Unternehmer stecken oft unter einer Decke. Bei korrupten Machenschaften drücken die Kader durchaus ein Auge zu:

    "Die großen Firmen schaffen Arbeitsplätze und zahlen Steuern, deswegen lassen die örtlichen Regierungen ihnen viele Regelverstöße durchgehen. Und wenn einer einmal damit anfängt, dann machen das auch andere Unternehmen. Und so zieht das immer weitere Kreise. Bis schließlich alle denken: Hauptsache, schnelles Geld verdienen."

    Den Bürgern in China brennt das Thema Lebensmittelsicherheit jedoch unter den Nägeln. Im Internet macht sich nach jedem neuen Skandal die Wut breit. Die meisten fühlen sich vom Staat im Stich gelassen. Vor allem die Angehörigen der chinesischen Mittelschicht schauen schon lange ganz genau hin, woher ihr Essen stammt.

    Ein Biomarkt im Untergeschoss einer Pekinger Einkaufspassage. Obst und Gemüsehändler verkaufen ihre Waren an langen, einfachen Holztischen. Ying White, eine Endvierzigerin, schlendert an den Ständen entlang. Ihren Korb hat sie schon gut gefüllt.

    "Ich habe Salat gekauft, Kohl, Sellerie und etwas Tofu. Alles bio."

    Die studierte Juristin versucht, möglichst viele Lebensmittel hier einzukaufen. Den staatlichen Biomarken misstraut sie. Ihr gefällt ausgesprochen, dass sich diese Handvoll Kleinbauern zu einer Bio-Kooperative zusammengeschlossen hat.

    "Niemand hier ist mit einem staatlichen Label zertifiziert. Das Ganze basiert auf Teilhabe und auf privater Kontrolle. Ich vertraue ihnen. Sie wollen immer, dass man ihren Hof besucht, damit man sieht, wie sie arbeiten."

    Immer mehr Chinesen, die es sich leisten können, wenden sich von großen Marken ab und setzen auf derlei kleine Privatinitiativen. Denn kaum jemand glaubt, dass industriell produzierte Lebensmittel in China bald sicherer werden. Daran wird wohl auch der von der Politik angekündigte Umbau der zuständigen Ministerien nichts ändern.

    Ein Grund mag sein, dass Chinas Führung von diesem Thema ganz einfach nicht betroffen ist. Denn sie genießt Privilegien. Die Familien der Staats- und Parteispitze werden regelmäßig mit gesundem Fleisch und pestizidfreiem Obst und Gemüse versorgt – und zwar von großen, eigens nur für die Spitzenfunktionäre eingerichteten Bio-Bauernhöfen.