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Wie aus dem Nichts

Fast fünf Millionen Menschen sind in Spanien inzwischen ohne Arbeit, die Erwerbslosenquote liegt bei 21 Prozent, unter den Jugendlichen sogar bei 40 Prozent. Angesichts des Spardrucks haben sich die Iberer bisher erstaunlich ruhig verhalten. Das hat sich am Wochenende schlagartig geändert. Einem Protestaufruf der neuen Initiative "Echte Demokratie jetzt!" sind in rund 50 Städten mehr als 100.000 Menschen gefolgt. Und die Proteste gehen weiter, sie könnten Auswirkungen auf die landesweiten Kommunalwahlen am Sonntag haben.

Von Hans-Günter Kellner | 19.05.2011
    "Wir haben keine Wohnung, darum bleiben wir auf dem Platz" - rufen rund 5000 vor allem jugendliche Demonstranten auf dem Madrider Platz Puerta del Sol. Seit Sonntag halten sie den Platz besetzt, seither wollen viele junge Protestierende die Madrider Innenstadt überhaupt nicht mehr verlassen - zumindest bis Sonntag, wenn die Spanier neue Kommunal- und Regionalparlamente wählen. Jurist Fabio Gándara über die Ziele der Bürgerinitiative "Echte Demokratie jetzt!", die zu den Protesten aufgerufen hat:

    "Es geht um mehr als nur um die Kürzungen und Sparmaßnahmen der Regierung. Wir wenden uns auch gegen diese Diktate aus der Finanzwelt an die Politik. Die Politik ist ins zweite Glied getreten, die Finanzwelt sagt ihr, was sie zu tun hat. Das ist überall in Europa ein Problem. Dann haben wir in Spanien dieses Wahlrecht, das große Parteien bei der Sitzverteilung bevorzugt und faktisch zu einem Zweiparteiensystem führt. Es sind einfach grundlegende Dinge, die sich ändern müssen."

    Der Forderungskatalog der Organisation ist lang: Die in der spanischen Verfassung verankerte Arbeitsplatzgarantie soll umgesetzt werden, der Einfluss der Parteien auf die höchsten Gerichte des Landes zurückgehen, korrupte Politiker nicht mehr zur Wahl antreten dürfen und die Kürzungen der Regionen insbesondere bei Bildung und Gesundheit zurückgenommen werden. Die Protestierenden verlangen, dass die Vermögenssteuer wieder eingeführt und Steuerhinterziehung entschlossener als bisher bekämpft wird. Architekturstudent Jon Aguirre, ebenfalls Sprecher der Bürgerinitiative:

    "Es gibt demokratische Wege, das zu erreichen. Mit 500.000 Unterschriften kann man im Parlament eine Gesetzesinitiative einbringen. Millionen sind bereit, an diesen Dingen etwas zu ändern! Leute auf der Straße, Arbeitslose oder Menschen, die Angst vor der Arbeitslosigkeit haben! Diese Leute werden abstimmen, unsere Vorschläge werden Gesetzestexte werden. Das wird keiner aufhalten können."

    Die Vertreter von "Echte Demokratie jetzt" sind selbstbewusst geworden. Dabei waren sie von ihrem Erfolg zunächst überrascht. Fast wie aus dem Nichts seien sie entstanden, erklären sie. Vor knapp drei Monaten haben sie sich über die sogenannten Social Media im Internet gefunden, die meisten kannten sich vorher nicht. Umso größer das Erstaunen, als am vergangenen Sonntag in mehr als 50 Städten weit über 100.000 Menschen ihrem Aufruf gefolgt sind. Protestcamps wie in Madrid gibt es inzwischen auch in weiteren spanischen Innenstädten. Ihre Anhänger sind nicht nur Jugendliche und Studenten. Auch dieses Ehepaar ist zum zentralen Platz Puerta del Sol in Madrid gekommen:

    "Das ist ja keine Studentenbewegung. Meine Frau und ich sind beide arbeitslos. Wir haben zwei Kinder. Die Krise betrifft alle - auch die Glaubwürdigkeit der Politiker. Die beiden großen Parteien machen was sie wollen - unabhängig von den Interessen der Bürger. Nein, die Alternative ist hier auf der Straße, bei dieser Bürgerbewegung. Sie sagt den Politikern auf friedliche Weise: Entweder Ihr verändert Euch oder Ihr kommt weg. Wir haben ja nichts mehr zu verlieren."

    Vor allem die beiden großen Parteien, Sozialisten wie Konservative, stehen in der Kritik. Ihre Politik sei kaum noch zu unterscheiden, ideologische Unterschiede würden nur noch vorgetäuscht, so der Tenor bei den Protesten. Zum Kommunalwahlkampf meinen diese beiden älteren Damen:

    "Der Wahlkampf ist wie immer, Politik ohne Inhalte. Mir wäre zum Beispiel der öffentliche Nahverkehr wichtig, und dass die Wasserversorgung nicht privatisiert wird. Aber darüber redet keiner. Die Politiker beleidigen sich nur gegenseitig. Die Parteien sind eigentlich überhaupt nicht mehr zu gebrauchen."

    In dieser Stimmungslage konnten die zaghaften Versuche von Politikern nur scheitern, die Bewegung für sich zu gewinnen. Tomas Gómez, Spitzenkandidat der Sozialisten in der Region Madrid, habe angefragt, ob er auf den Platz kommen könne, berichten die Protestierenden. Ihre Antwort: Er solle lieber wegbleiben. Unterdessen hat sich der Wahlausschuss zu Wort gemeldet: Er hat gesagt, die Proteste seien eine unzulässige Beeinflussung der Wähler und gefährdeten freie Kommunalwahlen am Sonntag, auf dem Madrider Platz Puerta del Sol dürfe bis Sonntag nicht mehr demonstriert werden. Die Protestierenden reagieren mit Unverständnis. Auf dem Platz würde seriöser über Politik diskutiert als bei den Parteiveranstaltungen im Wahlkampf, erklären die Vertreter von "Echte Demokratie jetzt!"

    Das Demonstrationsverbot wurde gestern erst einmal ignoriert. Am Abend haben wieder Tausende auf dem zentralen Platz Puerta del Sol. Trotz des Verbots hat die Polizei den Platz nicht geräumt.