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Wie ein wärmendes Feuer

Menschen, die weite Reisen antreten, wollen sich selbst vergessen oder sich selbst finden. Sich selbst vergessen durch die vielen neuen Eindrücke, denen sie sich aussetzen. Oder sich selbst finden, indem sie in einer fremden Umgebung eine neue Sichtweise auf sich selbst einnehmen. Reisen ins Ich oder aus dem Ich heraus also. Und manchmal wollen sie beides.

Von Dina Netz | 27.04.2010
    Anne, die Erzählerin in Michèle Lesbres Roman "Das rote Canapé", steigt in die transsibirische Eisenbahn, diesen mythischen Zug, bei dem häufig der Weg das Ziel ist. Und so wissen wir Leser von Anfang an, dass Anne nicht nur eine Reise antritt, bei der sie ihre einstige große Liebe Gyl suchen will, der den Kontakt abgebrochen hat. Denn aus der "Transsib" steigt man immer anders heraus, als man hineingestiegen ist.

    Die Erzählerin sucht Gyl nicht nur als alten Freund und verflossene Liebe, sondern sie sucht ihn als Teil ihrer selbst, weil er Wegbegleiter in einer Zeit war, die sie geprägt hat und von der sie nur schwer Abschied nimmt. Von der "Ohnmacht der Diskurse" und "ausgedienten Theorien" ist die Rede. Man darf wohl vermuten, dass es die abhandengekommenen Ideale von 68 sind, die Phantomschmerzen verursachen. Und mit ihnen das Altern.

    Gyl hatte dem, was seinem Leben einen Sinn verliehen hatte – eine ideale Welt zu erschaffen -, nicht abschwören wollen. Aus einer spontanen Laune heraus war er fortgegangen, um am Ufer des Baikalsees zu leben, zu malen, mit den Bewohnern Theater zu spielen und Stücke von Wampilow aufzuführen, der sein Leben lang in Irkutsk gewirkt hatte. Gyls Entscheidung beunruhigte mich, aber ich begriff, welche Symbolkraft und Verzweiflung in ihr steckte. Es wäre zwecklos gewesen, ihn davon abzubringen, nichts und niemand hatten ihn je von etwas abzubringen vermocht. Während der ersten sechs Monate schrieb er noch häufig, erzählte, er habe Zeit, im See Omule zu angeln und für die Kinder Drachen zu bauen. Und dann Schweigen.
    Der zweite Erzählstrang ist für das Titel gebende "rote Sofa" reserviert – was ein passenderer Titel gewesen wäre als das etwas gespreizte "rote Canapé". Auf dem roten Sofa verbringt die betagte Nachbarin der Erzählerin, Clémence Barrot, ihre Tage; von ihrer Freundschaft mit Clémence erzählt Anne im Rückblick, auf ihrer Russlandreise. Durch einen Zufall lernen die beiden sich kennen und freunden sich an. Bald erfährt Anne, dass Clémence Modistin war und als junge Frau ihre große Liebe Paul heiraten wollte, der dann aber im Zweiten Weltkrieg als Résistance-Kämpfer erschossen wurde.

    Diese Frau, die trotz Pauls Abwesenheit offenbar ein erfülltes Leben gehabt hatte, berührte mich tief. Sie war das Leben selbst, alles an ihr brachte dies zum Ausdruck, zu jeder Zeit. Trotz unserer verschiedenen Lebenswelten, trotz unseres Altersunterschieds stellte sich bei jedem unserer Treffen eine ganz einzigartige Verschworenheit ein. Ich gehörte zu niemandem, noch gehörte irgendjemand oder irgendetwas zu mir. Als junge Frau hatte ich diese Unabhängigkeit entschlossen eingefordert. In gewisser Weise hatte ich sie mir im Laufe der Jahre nicht ohne Mühe erobert. Sie hatte mich die Freiheit gelehrt, ohne die die Liebe häufig erstickt, verzweifelt, verkümmert. Clémence hatte diese Freiheit trotz des Verlusts von Paul kennen gelernt, dank ihres enormen Talents zum Glücklichsein.
    Diese Unabhängigkeit und trotzdem die Sehnsucht nach einer verflossenen Liebe verbinden die beiden Frauen. Wie auch die Literatur: Anne verdient ihren Lebensunterhalt damit, für Frauenzeitschriften Porträts berühmter oder zu Unrecht in Vergessenheit geratener weiblicher Persönlichkeiten zu schreiben. Über diese Frauen sprechen sie oder die Erzählerin liest ihrer aufmerksamen Nachbarin einfach vor.

    Je weiter sich Anne von Paris entfernt, desto häufiger denkt sie erstaunlicherweise an Clémence auf ihrem roten Sofa. Die Ferne ermöglicht eben oft einen neuen Blick auf das Daheimgelassene – hier wird der Erzählerin klar, wie nah ihr die alte Dame ist. Viel näher als Gyl, den sie doch so aufwendig sucht.

    "Das rote Canapé" ist zwar ein sehr privates Buch, indem es nur von ganz wenigen Personen und auch fast nur von deren Seelenleben erzählt. Aber es ist doch nicht nur privat, denn die Sorgen dieser Figuren sind immer auch die Sorgen ihrer Generation: Die Erzählerin und Gyl ziehen eine Zwischenbilanz ihres Lebens, die alte Nachbarin, deren Gedächtnis schwindet, sucht nach einem würdevollen Ende ihrer Tage.

    Am Schluss des Buches wird viel gestorben, im eigentlichen und im übertragenen Sinne – Hoffnungen, aber auch Illusionen werden zu Grabe getragen. Anne und Clémence, die zwar nur in den Erinnerungen der Erzählerin auftaucht, aber dennoch den Platz einer zweiten Hauptfigur einnimmt, kommen ans Ende ihrer unterschiedlichen Reisen. Aber das Leben nimmt auch wieder neuen Schwung.

    "Das rote Canapé" ist keine literarische Großtat, weder stilistisch noch inhaltlich. Aber es ist wie ein wärmendes Feuer, an das man sich setzt und das einen auch nach dem Zuklappen noch eine Weile weiter wärmt. Jorge Semprun hat in seinem Plädoyer in der Jury des Prix Goncourt vom "charme nostalgique" des Buches gesprochen, vom "nostalgischen Charme".

    Und damit trifft er es recht gut, denn Michèle Lesbre lässt uns auf eine fast altmodische Weise einer nicht mehr ganz jungen Frau bei der Selbstbefragung zuschauen. Das ist mutig, weil sie das Risiko der Rührseligkeit eingeht. Sie erzählt aber mit solch ungehemmter Offenheit und voller zärtlicher Sympathie für ihre Figuren, dass ihr Buch auf unsentimentale und kluge Weise zu Herzen geht. Man möchte sich sofort mit Anne zum Vorlesen verabreden.

    Michèle Lesbre: "Das rote Canapé"
    Aus dem Französischen von Nathalie Mälzer-Sämlinger
    dtv premium, 135 Seiten, 12,90 Euro; ISBN 978-3-423-24721-4