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"Wie er wolle geküsset sein"

"Ich nur und die Liebste wissen, wie wir uns recht sollen küssen", schrieb der barocke Dichter Paul Fleming. Unglücklich verliebt ging der Dichter aus dem Vogtland auf mehrjährige Reise nach Russland und Persien. Bereits zeitlebens für seine Dichtkunst verehrt, gilt er heute als einer der bedeutendsten barocken Lyriker.

Von Thomas Rosenlöcher | 04.10.2009
    Etwas einfacher hätte ich mir die Lektüre dieser Gedichte aber auch vorgestellt. Schon Genealogen geraten bei ihren Nachforschungen im 30-jährigen Krieg leicht an einen toten Punkt, eine schwer überwindbare zeitliche Mauer. Und was für die Stammbaumförsterei gilt, gilt erst recht für das Poesieverständnis. Noch Klopstock kann sich da zum toten Punkt auswachsen. Obwohl er im Gegensatz zum Barock sein Denken und Fühlen bereits dem Jahrhundert entgegenstellt - was freilich diesen herumgenialisierenden "Wahrlich-ich-sage-euch-Ton" mit sich bringt, mit dem er beim Eislauf dem Kufenkollegen vom Kothurn einer kunstvollen Ode sein: "Künstle nicht!" zuruft.

    Nein, abgesehen von einigen Ausflügen zu Vogelweide hinunter, bin ich von den Romantikern her meist gleich bei Goethe hängengeblieben. Auch die Literaturprofessoren kommen in ihrer heutigen Schrumpfform kaum über "Wanderers Nachtlied" hinaus. Und ist - nach manchmal zu hörender These - die deutsche Sprache und Poesie nicht wirklich erst hier bei sich selbst angekommen?

    In der Balance von Anschauung und Abstraktion, Formelhaftigkeit und Empfindung, Diesseitigkeit und Transzendenz, Lakonie und zeitdehnendem Versgefüge, Innen-, Außen-, Ich und Welt? So unsereins im "Spürest du" die Schwerkraft seines Ichs verspürt, gerade weil mit jenem "Warte nur, balde" das Selbst schon Vergänglichkeit streift? Ein tastendes Erahnen dessen, wie das Ich sich das Ich einmal vorgestellt hatte? Auch wenn es sich im Übergang in die Maschine befindet? Ja, noch die turbogetriebenste Seele hält heimlich am Wahrbild des Wanderers fest. Und nicht ohne Grund ist Goethe unser letzter Außenvorposten in der Vergangenheit.

    Kurz, trotz jahrzehntelanger Versuche, ein Intellektueller zu werden, bin ich bei Gedichten am Ende auch nur auf Einfühlung aus. Darauf, dass der Dichter das, was er fühlt, denkt, erfährt, auch für mich fühlt, denkt, erfährt. Goethe lesend, bin ich Goethe, in aller Bescheidenheit, klar. Doch hoffentlich weniger der Geheimrat, als der jugendfrische Dichter, den alle Welt für einen Klassiker hält, obwohl er vor allem Romantiker ist. Sogar Brecht findet Gnade bei mir, seit er allenthalben in Ungnade fiel mit seinem Weltverändern, was sich auch wieder ändern kann. Sein Diktum, dass große Gedichte den Wert von Dokumenten hätten, in denen die Sprechweise ihres Verfassers - eines wichtigen Menschen - enthalten sei, deutet den Abstand an, der die Kommunion mit dem Dichter erst möglich und notwendig macht.

    Nun scheinen sich aber die Gedichte der Barockzeit gegen solche Anverwandlung besonders zu sperren. "Repräsentation", "Öffentlichkeit", "Zweckgebundenheit" lauten die Bestimmungsstücke der vor Jahrzehnten noch über "Wanderers Nachtlied" hinausgekommenen Literaturwissenschaft. Und auch Begriffe wie Mythologie, Hyperbolik, insistierende Nennung, Umschreibung, Substantivanhäufung ermuntern nicht gerade dazu, sich durch die Zeitmauern hindurchzuarbeiten.

    Trotz Volkslied und Luthers Dem-Volk-aufs-Maul-schauen galt die Poesie als Unterabteilung gelehrter Rhetorik, die sich, im Gegensatz zum flott daherkommenden Sprachopportunismus der Gegenwart, vielleicht gerade deshalb besonders umständlich gebärdete, um auf der Höhe ihrer Zeit, sprich: up to date zu sein - und somit als Subordinationsvehikel auch schon Funktionärssprache war. Einleuchtend, dass gelehrte Rhetorik - zumal damals die Professoren sogar das Dichten gleich mit übernahmen - weniger das Gefühl als den Verstand ansprach, der immerhin "Wiz" genannt wurde.

    Im Überpersönlichen, lese ich, hatte das Persönliche sich zu objektivieren. Und vielleicht kommt Paul Fleming auch deshalb, nach dem Vorbild eines Ovid und Horaz, ab und an auf den Ruhm von Paul Fleming zu sprechen.

    Ich-Ausdruck war eben nicht klopstocksche Gefühlsentgegensetzung oder empfindsame Versgebärde im Sinne Goethes und der Romantik, sondern Ich-Einordnung:

    "Ein Weiser dient der Zeit
    nimmt sein Verhängnüs auf"

    … heißt es in Flemings erstem großen Bilanzgedicht "In Groß-Neugart".

    Allerdings ist dieser Erkenntnis ein gar nicht so schicksalsergebenes Ausweichmanöver vorausgegangen:

    "Kannst du nicht um die Elbe
    und Mulde sicher sein, so such ein ander Statt."

    Immerhin gehört Fleming zu der raren Sorte von Dichtern, bei denen die laufenden Katastrophen sogar im Gedicht vorkommen:

    "Deine Dörfer sind verbrannt,
    Deine Mauren umgerannt,
    deine Bürger sind verzagt,
    deine Bauren ausgejagt."

    "Man lebe, wie man soll, und brauche seine Zeit!
    Hier ist beständig nichts als Unbeständigkeit","

    … lautet Flemings Rezept schon in Leipzig. Der Cantus firmus der Selbstbeharrung, der ihn auf seiner Lebensreise beständig begleiten wird. Als Versuch, sich - im unablässig ändernden Unabänderlichen - selber ein Fixpunkt zu sein. "Unterdessen sei der Deine!" rät Fleming einem Freund - in einem für einen Barockmenschen erstaunlich lässigen Ton.

    Überhaupt: Die Musikalität schon in Flemings Leipziger Sachen - unmöglich da nicht an die hinfließenden, -fliegenden "Israelis Brünnlein" und "Wald-Liederlein" des Thomaskantors Schein zu denken, der Flemings Lehrer war.

    Doch was cool klingt, muss so cool gar nicht sein. Dem Rat "Sei der Deine" folgt das Ansinnen:

    ""Laß uns einen Rausch noch kaufen
    ehe wir denn müssen laufen!"

    Ist wirklich ganz der Seine, wer vorher noch einen Schluck nehmen muss? So selbstverständlich zieht sich der Cantus firmus der Selbstbeharrung denn doch nicht durch Flemings Gedichte. In seinen "geistlichen Sachen" sagt er sogar das Gegenteil: "Ich will nicht meine sein". Den durch christliche Heilserwartung unterfütterten Stoizismus der Antike durchkreuzen Demut und Hingabe, was bis zu Selbstverneinung, ja, Ich-Auslöschung gehen kann. Denn wenn der Tod das Leben ist und das Leben Tod bedeutet, muss das Ich Nichts sein und rennt auf der syntaktischen Himmelsleiter sich selber davon, dem Alles entgegen.
    Noch Flemings "Grabschrift" bindet Bejahung und Verneinung in eins. Denn wenn er ausdrücklich von einem erfüllten und selbstbestimmten Leben spricht - und sich dabei mit den Worten "jung, wachsam, unbesorgt" sogar als höchst lebendig charakterisiert - so treten die Terzette doch mit der Einsicht ab, dass, nachdem alles getan sei, der Verlust des Lebens keinen sonderlichen Verlust bedeute, wenn nichts weniger lebendig erscheint, als das Leben:

    "Was bin ich viel besorgt, den Othem aufzugeben? An mir ist minder nichts, das lebet, als mein Leben."

    Das ist gewiss vor dem Horizont eines ewigen Lebens gesprochen. Verkleinert jedoch auch das irdische Leben.

    "Schon seit geraumer Zeit
    Hatte ich keine Todesfurcht mehr. Da ja nichts
    Mir je fehlen kann, vorausgesetzt
    Ich selber fehle"

    … sagt reichlich 300 Jahre später Brecht in seinem Sterbegedicht: "Als ich im weiße Krankenzimmer der Charité". Und ob auch Brecht das Nichts und Fleming Alles vor sich hatte, so mögen sich Nichts und Alles doch im Unendlichen treffen.

    Freilich, wer schafft es schon, nicht auch am Diesseits zu hängen? Nicht einmal die Vanitaskunststücke des Barock können das Dasein völlig verneinen. "Nichts ist alles, du sein Schein", lautet der überbietende Schluss in Flemings "Bei einer Leichen", doch noch in der Überbietungsgeste des Wort-Äquilibrist steckt unvermeidlich ein Frohlocken: Schaut, was der Schein eines Nichts trotzdem kann!

    Fleming scheint dergleichen Widersprüche gespürt haben. In dem Sonett "Dass alles eitel sei" wundert er sich darüber, dass wir: "etwas, das nicht ist, doch schöne heißen müssen" und trotz unserer Unvollkommenheit: "vollkommen werden wollen", ja: "auf Neues so geschwollen" sind. Trotz Selbstbeharrung samt zugehöriger Ermahnung "an sich selbst vergnügt" zu sein - kann nicht einmal er von "Herzen sagen": "Ich bin vergnügt in mir, weiß weder Lust noch Klagen." Auch einen Stoiker sollte man sich nicht unbedingt als Stoiker vorstellen.

    Der 200 Jahre später bei Eichendorff so ganz anders zum Ausdruck gekommene Abgrund zwischen Selbstbeharren und dem Furchtverlangen, sich zu verlieren, findet sich jedenfalls auch schon bei Fleming: "Der wohnet überall, der nach der Tugend ringt!" entgegnet ein vermutlich in den Weiten Russlands geschriebenes Gedicht den eigenen Selbstzweifeln. Obwohl es vorher vielsagend hieß: "Ich bin ein schwaches Boot ans große Schiff gehangen". Und während nach manchem Treuegedicht die Nachricht vom Verlust der Geliebten abermals den Cantus firmus der Selbstbeharrung aufruft.

    "Komm, güldne Freiheit, komm, mein Leben,
    und setze mir dein Hütlein auf!","

    … hieß es in der Erinnerung an einen, die Liebenden beschützenden, Maulbeerbaum, nachgerade tristanartig: "Wie selig war ich da, wie aller Menschheit los". Doch während solches Außersichsein gleichzeitig ein Bei-sich-selbst-Sein ist, bringt die bange Frage "Ist dieses nun das süße Wesen?" schon einen angstvollen Juchzer aus der Tiefe der Brust hervor:

    ""Ich bin nun nicht mehr selber Ich.
    Ach Liebe, worzu bringst du mich!"

    In den Reisegedichten wird die Furcht vor Selbstverlust als unterschwellige Todesangst spürbar. Gerade weil diese - an Anschaulichkeit den Berichten des Adam Olearius (Vermehrte Newe Beschreibung der Muscowitischen und Persischen Reyse) kaum überlegenen Stücke - geradezu strukturiert sind von dem Versuch, Mut zu machen. Kein Wunder, wenn ein Unternehmen derart schief lief wie jene, zur Erschließung neuer Handelswege unternommene Gesandtschaftsreise, die in der Anklage und Enthauptung des Anführers Brüggemann ihren dramatischen Schlusspunkt fand.

    Von Anfang an ist Fleming im Zweifel, ob er das "von der Kriegesglut zu Pulver" verbrannte Vaterland hinter sich lassen darf. Auch wenn er - ganz Dichter - vor allem seine Poesie im Sinn hat und hofft, dass sie das …

    "was sie begehrt
    in fremder Welt erfährt"

    "Denkt, dass in der Barbarei
    alles nicht barbarisch sei."

    Er selber wird von "Des alten Vatern Not, der frommen Mutter Leid, der lieben Schwester Angst, so vieler Freunde Neid" sprechen. Und ausgerechnet ein Leipziger Literaturprofessor glaubt, dem nunmehrigen Truchseß und Hofjunker der Gesandtschaft ein Probe seiner Verskunst hinterherrufen zu müssen:

    "Ein ander ziehe hin biß wo der Parther fleucht
    Und wo der Crocodil dort bey dem Nilus kreucht"

    Die Zweifel an dem Unternehmen wird Fleming nicht mehr losbekommen. Auch wenn er einem frühzeitig Heimkehrenden entgegenhält, selber "stärker Wasser" sehen zu wollen. Denn nach dem glücklichen Revaler Jahr - dem Jahr vieler seiner Liebesgedichte und der für die Poesie nicht zu überschätzenden Begegnung mit der Kaufmannstocher Elsabe Niehus - heißt es für ihn bis zum Ende seines Lebens nur noch: "Itzt muss ich weiter fort". Auch Zweckgedichte können zwecklos sein, auch Treuebeschwörungen verhindern nicht, dass Fleming - noch ehe die Gesandtschaft das Ziel der Reise, die Königsstadt Esfahán, erreicht - von der abermaligen Verlobung Elsabes erfährt: "Ich habe Müh und Angst, ein ander meine Braut". Bis dahin, dass er selber schon nicht mehr an die Heimkehr glaubt: "weil dieser schwere Zug mich täglich mürber macht".

    Gleichwohl zählt er in der "Grabschrift" die siebenjährige Reise zur Bilanz eines gelungenen Lebens hinzu. Tatsächlich lassen Flemings positive Wendungen an Goethes Hang zur Selbstbegütigung denken. Wobei gewiss auch Fleming besitzt, was Goethe die "Frohnatur" nennt. Entsprechend Flemings eigenen Worten: "jung, wachsam, unbesorgt".

    "Wachsam", lese ich, heißt auf lateinisch: "vigil". "Vigil" hängt mit "vigilant" zusammen, was soviel wie aufgeweckt, rührig bedeutet. Wobei ein sich hoffentlich noch seiner Ausdrucksmöglichkeiten entsinnender Sachse natürlich nicht "vigilant", sondern "fischilant" sagt. Der Dichter Paul Fleming ist also laut Grabschrift "fischilant" gewesen. Obwohl die "Deutsche Poeterey" den Dialekt aus gutem Grund untersagte, hat da die Mundart dem Hartensteiner ein Schnippchen geschlagen.

    Wenn Fleming in dem Sonett "Dass alles eitel sei" die schwierige Gemengelage von Daseinsbejahung und -verneinung sogar ins Gedicht zu bringen vermochte, so hat es denn doch etwas Enttäuschendes, wenn er am Ende auch das - anderen Zeiten als göttlich geltende - Streben nach Schönheit und Vollkommenheit, der Eitelkeit zurechnet. Erfahrung - lese ich bei den einstigen, früher leichtsinnigerweise gerade von Leuten wie mir wegen ihrer Althergebrachtheit belächelten Literaturkoryphäen - Erfahrung, lese ich, war im Barock durch Muster und Zwänge nicht nur bestimmt, sondern vorgeformt - im Leben wie im Gedicht. Noch 300 Jahre nach Petrarca erwies die Geliebte sich als unerreichbar, selbst wenn man verheiratet war. Wandte sie sich ab, starb man auf der Stelle, wandte sie sich zu, starb man erst recht. Der sogenannte Petrarkismus, dem Fleming als direkter Nachfolger des Versreformators Opitz besonders anhing. Dass ein Ring vor dem Glanz der Geliebten verblasst, hat damals wohl zum Alltag gehört. Dass der Ring sich aber gar nicht erst an ihren Finger stecken lassen will, sondern aus Furcht vor ihrer Schönheit "sterbende Gebärden" vollführt, lässt mich - entgegen den noch aus der Schule der Ernsthaftigkeit kommenden Kommentatoren - bedauern, dass derartige Preziosen nur 700 Jahre nach Petrarca schon aus der Mode sind.

    Allein die Worte, die Fleming für den Mond hat, können einen noch heute, ja gerade heute, mit dichterischem Neid erfüllen: "Nachtauge", "Borgelicht", "Liederfreund", "Horngesicht". Und ein Sonnenschirm, der bei Fleming "Schiedemann" heißt, schützt nicht die Geliebte vor dem Glanz der Sonne, sondern verhindert, dass die Sonne beim Anblick der irdischen Konkurrenz nicht gar zu alt aussieht. Im Sonett: "An ihren Mund, als er sie umfangen hatte" fußt der Vers:

    "Ach! dass mein ganzer Leib doch nichts als Mund sollt sein!"

    … laut Kommentar auf Catull. Aber in dem mir wegen Lateinunkenntnis einzig zugänglichen deutschen Catull ist an der angegebenen Stelle nur von Parfüm die Rede, das zu riechen man "ganz Nase" werden möchte. Wogegen Fleming nach dem Beschwörendem:

    "ihr hohen Lippen ihr, die ihr so hoch geschwollen
    von feuchter Süße seid"

    … eben jene, doch ganz anderen, Worte weiß:

    "Ach! dass mein ganzer Leib doch Nichts als Mund sollt sein!"

    Eine rhetorische Geste, mit der er die dem Barock nachgesagte, fehlende Empfindungskraft schon einmal mit links widerlegt. So ganz unerreichbar kann die Geliebte Fleming denn doch nicht gewesen sein - weder im Leben noch im Gedicht. Allenthalben der Verdacht, dass auch Kleinteiligeres, sprich: eigenes Erleben, Schreibantrieb gewesen sein muss.

    Klar, die Fachleute warnen vor allzu raschen Rückschlüssen auf Biografisches. Und es ist ja wirklich befremdlich, was dieser Fleming alles woanders her hat. Oft gleich direkt von Opitz, der vorzüglich bei den Niederländern und Franzosen klaute. Wobei man als mildernden Umstand hinzuziehen muss, dass Klauerei den Dichter damals erst ausgemacht hat, und dass die barocken Avantgardisten nur insofern neu zu sein hatten, indem sie das Diebesgut neu variierten.

    Doch kommt es nicht ohnehin auf das Erleben im Wort an? Und kann es Kunst ohne Nachahmung geben? Vielleicht sollte die kleine Gemeinde der womöglich doch über "Wanderers Nachtlied" hinaus gekommenen Lyrikfreunde dem Dichter besser dankbar sein, wenn er einen aus römischer Zeit stammenden Nasenvers derart ins Deutsche zu heben verstand, dass man noch nach 400 Jahren der Geburt der Empfindung aus der Rhetorik beiwohnen kann.

    Gerade als Petrarkist zählt Fleming zu den Cheferotikern. Und ohne die Tradition der Antithetik hätte es auch seinen, noch heute die Zeitmauern mühelos durchdringenden Hit "Wie er wolle geküsset sein" gar nicht gegeben. Eine Kussanleitung, die auch unsereins schon zu Rate zog, gerade, weil er verheiratet ist. Wobei sich der Bescheid …

    "Küsse nun ein jedermann,
    Wie er weiß, will, soll und kann!"

    … auch als Aufforderung verstehen lässt, alle Regeln hinter sich zu lassen. Und das, obwohl das Barock vor allem aus Regeln besteht. Freilich, erst die Regeln zeigen, dass Küssen kein "Kinderspiel" ist. Nur wer beim "halb gebissen, halb gehaucht, halb die Lippen eingetaucht" einigermaßen Qualität bewies, darf zum Freistil übergehen. Keine Anarchie ohne Formen. Kein Ausstieg aus dem Kunsthandwerk ohne das Handwerk der Kunst. Schon vor der Erfindung der Liebe durch die Romantik zeigt Fleming sich als ganzheitlich Liebender. Allein die selbstverständliche, bis heute jugendlich wirkende Geste, mit der er die Liebste mit ins Gedicht nimmt. Und uns gleichzeitig sagt, was damals im Gedicht noch gar nicht sagbar war: nämlich dass das Unsagbare nur durch Nichtsagen gesagt werden kann:

    "Ich nur und die Liebste wissen,
    wie wir uns recht sollen küssen."

    Sicher, bei einer Überschrift wie "Er redet die Stadt Moskau an, als er ihre vergoldeten Türme von ferne sah" würde man auch mit dem Wissen, dass Veranschaulichung im frühen Barock kaum vorgesehen war, doch lieber ein bisschen Moskau schimmern sehen, anstatt das offenbar zwiebelturmartige Haar der Basilene rühmen zu hören. Catull und Horaz kannte man bestens, aber ein schon ganz natürlich vor sich hindichtender Mann wie Vogelweide war mit der mittelhochdeutschen Minne hinter einer Zeitmauer verschwunden.

    Noch 100 Jahre nach Luthers "Biblia Deudsch" dichtete man meist lateinisch. Und auch Fleming musste mit noch nicht zehn Jahren auf die Lateinschule nach Mittweida, wo er, in einem Alter, da unsereins noch "Hänschenklein" sang, bereits mit Poetik traktiert worden ist. Bis zuletzt schrieb er auch lateinisch, bedankte sich aber in seiner "Grabschrift" einzig bei den deutschen Musen:

    "Dies, deutsche Klarien, dies Ganze dank ich euch."

    Während nun aber das Latein die Verbindung zwischen den Zeiten über Jahrhunderte aufrechterhielt, sitzt unsereins unterdessen in der Sächsischen Landesbibliothek vor den Folianten der Neulateiner erst recht wie hinter einer Zeitmauer. Und kann es sich durchaus nicht ersparen, sich eine Schrumpfform von Dichter zu nennen. Zwar soll es noch nicht lange her sein, dass jeder Esel Latein sprach, doch auch die Esel sind selten geworden. Und ohne auch nur kontrollieren zu können, ob die mich aus den Folianten klüglich anblickenden Herren in ihren Renaissancekostümen tatsächlich fortwährend vor Liebe starben, auch wenn sie verheiratet waren - schleppe ich das zentnernde Material trübsinnig an den Tresen zurück.

    "Alles schon gelesen?", fragt mich die Bibliothekarin ohne vom Bildschirm aufzublicken. "Bin leider kein Esel", sage ich traurig, worauf sie auch noch zustimmend nickt. Sogar in der Landesbibliothek gehört Unbildung unterdessen zum guten Ton. Und als ich "Wanderers Nachtlied" verlange, fragt sie, wer der Verfasser sei. "Was sie kennen Goethe nicht?" rufe ich in kultureller Verzweiflung. "Verfasser ist Benutzersache" lautet ihr Bescheid. Sogar Goethe muss ich ihr in die Tastatur buchstabieren.

    Jedenfalls war mir auch schon die Lektüre der deutschen Barockgedichte wie Kiesschaufeln vorgekommen. Als hätte mich Apoll verdonnert, das Jahrbuch der Gegenwartslyrik zu lesen. Eine Zeitmauer von 400 Jahren kann ebenso undurchdringlich sein wie eine Zeitmauer von Null. Entpersönlichte Abstraktion und Konkretion ins Private laden beiderseits nicht dazu ein, über "Wanderers Nachtlied" hinauszukommen. War im Barock Tradition übermächtig, fehlt jetzt eher: Vereinbarung.

    Allzuleicht vergisst es sich heute, dass auch für mich nur ausgedrückt ist, was ich auch für andere ausgedrückt habe. Hingegen hatten die Barockkollegen den großen Vorteil, dass sie bereits etwas auf dem Papier stehen hatten, ehe sie auch nur die Feder eintauchten. Schon Goethes Alexandriner haben bekanntlich geklappert, weil Goethe aus einer rascheren Zeit kam und viel zu viel in den Vers hineinpackte, anstatt immer wieder denselben Gedanken abwandelnd auf der Stelle zu treten.

    Auch in der Kirche fiel mir auf, wie endlos sich Paul Gerhard hinzieht. Und kommt dann auch noch Fleming mit seinen fünfzehn Strophen "In allen meinen Taten" hinzu, kann man den Sonntag gleich abschreiben, zumal ja der Pfarrer auch noch was sagt. Bei gleichzeitiger Sonntagsausdehnung, so dass sich ein Sonntag mit Kirchgang am Ende doch als bedeutend länger erweist als ein Sonntag ohne Georgel.

    Hatte die Barockzeit mehr Zeit? Obwohl das Leben kürzer war? Lebte man damals sogar länger? Länger noch als unsereins? Der länger lebt und trotzdem nie Zeit hat?
    Fleming scheint das für möglich zu halten:

    "so grob hat keiner noch der Rechenkunst gefehlt,
    als der sein Alter nur von seinen Jahren zählt,"

    … schreibt er in Astrachan. Und setzt als 28-Jähriger hinzu: "Ich habe satt gelebt". Wie alt muss unsereins werden, um das von sich behaupten zu können? Kann man als 100-Jähriger noch den Stoizismus erlernen? Den Cantus firmus der Selbstbeharrung? Der als lebenslange Todeseinübung dem 30-jährigen Fleming immerhin die Geistesgegenwart gab, sich "drei Tage vor seinem seligen Absterben" die "Grabschrift" selber zu schreiben und sich zu bescheinigen, dass alles getan sei "bis an das schwarze Grab".

    Gedichte der Barockzeit lesen, heißt, sich ein anderes Zeitverhältnis aufzwingen zu lassen. Wochen, ja Monate braucht das; und das, obwohl man keine Zeit hat. Und froh sein muss, wenn irgendwo wieder Fleming auftaucht und "Sei dennoch unverzagt" sagt. Auch Mythologie ist gewöhnungsbedürftig für heutige Schrumpfformen von Dichtern. Doch irgendwann hört jeder heraus, dass keine andere Epoche so reich an unterschiedlichen Stimmen gewesen ist, wie jenes Katastrophenjahrhundert.

    Freilich: auch bei Fleming Verzagen. Trotz: "Sei dennoch unverzagt". Der Sammelbegriff "poetische Wälder" hat schon etwas Undurchdringliches. Und dann auch noch die Oden, Sonette. Und immer wieder Glückwünschungen, Hochzeiten, Leichenbegängnisse; sogenannte Casualcarmen. Was einem Dichter damals doch alles abverlangt wurde, auch wenn er die Zeit nicht nach Jahren zählte. Bloß gut, dass Gedichte jetzt gleich zwecklos sind. Casualcarmen verlangen heute höchstens die, die gar nicht wissen, was Casualcarmina sind. Meine Schwiegermutter zum Beispiel: "Schreibst du auch mal was für mich?", fragt sie, wenn Geburtstag droht. Übertrage die Ausführung dann immer der Frau, mit der ich verheiratet bin. Allerdings fällt sie mit ihren entsetzlich holpernden Knittelversen weit hinter Opitz zurück. Sogar Hans Sachs wäre verblüfft gewesen, wie viele Onkel und Tanten sie in eine Zeile presst. Trotzdem Schulterklopfen. Nicht für sie, für mich. So schlecht kann sie gar nicht schreiben, dass man mich nicht doch für den heimlichen Dichter hält. "Na siehst du, es geht ja", heißt es. Und: "Das hätte ich nicht gedacht, dass man dich manchmal auch versteht."

    Kurz, auch die Familie ist auf Einfühlung aus. Und Schwiegermutter lächelt still in sich, weil ich sie "verewigt" habe. Und wirklich: Geht es nicht immer darum? Egal, zu welcher Zeit? Nicht, dass die Wissenschaft mit der Beobachtung Unrecht hätte, dass im Barock das Persönliche ins Öffentliche transformiert wird. Doch noch die Transformation braucht ein Ich, und sei es meine Schwiegermutter. Will sagen: Gerade das Gesellschaftliche kann dem Gedicht etwas Dialogisches geben. Und wird erst einmal ein Du angesprochen, ist auch das Ich nicht weit, um auf sich selber zu sprechen zu kommen. Fleming hat das vielfach genutzt. Und auch wenn das Biografische nur ein Element im Gedicht ist: Ich kenne keinen anderen Dichter, der derart dicht am Verlauf seines Lebens entlanggeschrieben hat.

    Wenn Fleming in Astrachan den Arzt Grahman nicht nur mit dem Lockmittel, dass er sich als Dichterfreund ebenfalls "den Kranz der Ewigkeit" aufsetzen könne, sondern überdies mit der Behauptung "Dies ist mein Ebenbild. Was, Bild? Mein ganzes Wesen" zu beschwören sucht, sich im Notfall seiner Papiere anzunehmen, heißt das auch, dass Grahman im Fall seines Versagens Fleming auf dem Gewissen hätte. Der Dichter selber scheint da schon unwichtig. Die Nichtbeachtung seiner Gedichte bringt den Dichter um. So denken alle Dichter. Auch Fleming kann man sich als ein kompliziertes Subjekt vorstellen.

    Zugegeben: Selbstmitteilung ist nicht unbedingt Poesie. Doch eben das Persönliche, der biografische Antrieb, das Auf-sich-gestellt-sein in der Ferne, bringt Fleming zu Einfachheit, besonders wenn es um Zuwendung geht. Das Fleming ganz eigene Treuemotiv setzt das antithetische Muster von Beharren und Selbstverlust manchmal außer Kraft, sodass ein anderer Ton sich einstellt. Deshalb strebt man die Ehe ja an, um Selbstbeharrung und Außersichsein über die Jahre auszubalancieren.

    Weniger Russlands Endlosigkeit und Persiens Hochgebirge als sich selber hat Fleming "in der Barabarei" gefunden. Sogar Vergegenständlichung gibt es; das Gedicht "Auf einen Berg gegenüber dem Jungfernberg" ist trotz mythologischer Umschreibung vielleicht eines der frühesten konkreten Landschaftsgedichte. Und als ich nach "An einen gewissen Baum" mit dem Sonett "An ihren Garten" gleich noch ein weiteres Beispiel für Veranschaulichung fand, bin ich erst einmal ein Bier trinken gegangen.

    Das Auffinden eines Gedichts kann verdienstvoller sein, als ein Beitrag zur Gegenwartslyrik. Und Goethe hat Unrecht gehabt, wenn er gegenüber Eckermann ausgerechnet Fleming zum toten Punkt erklärte: " ... er kann jetzt nichts mehr helfen". In jeder Zeit können Gedichte entstehen, die nur in dieser Zeit entstehen können, von nun an aber für alle Zeit gelten. So wie die Sprache jeder Zeit zu sich selber kommen kann, nur dass dieses Selbst je ein anderes ist. Das gilt sogar für die Gegenwartslyrik.

    Die eigentliche Leistung der Barockzeit bestand gerade im Abstrakten und Überpersönlichen. Eben weil Sprücheklopfer wie Gryphius, Logau oder Czepko aus einer langen rhetorischen Tradition kamen, konnten sie ihre Weltformeln finden. Da steht auch Fleming groß da mit seinem: "Sei-dennoch-unverzagt". Obwohl es aus lauter Gehabtem besteht, klingt es noch immer wie neu. Und gewiss spricht das Gedicht auch daher derart kraftvoll durch die Zeitmauern, weil der Stoiker Fleming kein Stoiker war und gegen seine eigene Verzagtheit anreden musste.

    Das Geniale ist hier ja der fragmentarische Anfang. Statt Gründe aufzuzählen, setzt das Sonett gleich mit einem Auftakt ein, dem ein rhythmisch gewichtiges Dennoch folgt, an das jeder andocken kann. Man mache die Probe, man stelle sich hin und schreie das Gedicht gegen die Wand; es wirkt rückenstärkend. Samt Aufforderung, nicht nur der Seine, sondern "Meister" seiner selber zu sein. Und das in der Epoche des Übergangs in die Maschine. Doch was, wenn sich die Maschinen auch nur als Traum erweisen? Und wir wieder zu Fuß gehen müssen? Um so staunenswerter die Nachricht, dass nichts mir fehlen kann, wenn ich mich nur selber habe.

    Paul Fleming: Ich habe satt gelebt
    Gedichte, Insel Verlag