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Wie Kanzler gehen
Merkels Macht

Noch hat kein Bundeskanzler in der Geschichte der Bundesrepublik seinen Abgang selbst bestimmt. Die Amtsinhaber wurden entweder abgewählt oder von den eigenen Leuten oder der Opposition gekippt. Langsam erodiert auch Angela Merkels Macht.

Von Moritz Küpper | 15.02.2018
    Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) kommt am 09.10.2017 in Berlin in einer gepanzerten Limousine am Konrad-Adenauer-Haus, der CDU-Zentrale, an.
    Der Rückhalt für Bundeskanzlerin Angela Merkel schwindet in der Union und auch in der Bevölkerung (dpa / picture alliance / Kay Nietfeld)
    Ein sonniger Morgen in Wachtberg im Rhein-Sieg-Kreis. Hier, nahe der ehemaligen Hauptstadt Bonn, ist es grün, zwitschern die Vögel und leben viele ehemalige Politiker der Bonner Republik. Am Ende einer Straße mit Hanglage steht das Haus von Michael Mertes.
    Seit vier Jahren ist der heute 64-Jährige im Ruhestand. Nun aber ist Mertes, der von 1987 bis 1998 als Chefredenschreiber für Helmut Kohl im Kanzleramt arbeitete, wieder gefragt. Denn: Viele erinnern sich wieder an seinen Aufsatz aus dem Jahr 2001. "Der Zauber des Aufbruchs – die Banalität des Endes. Zyklen des Regierens", lautet die Überschrift der 15 Seiten. Und weil dieses Thema wieder aktuell ist, melden sich jetzt Reporter bei ihm, wird er um einen Vortrag gebeten:
    "Also, in der Tat ist zu meinem Erstaunen noch einigen Zeitgenossen präsent, dass ich mich damals über dieses Thema ausgelassen habe."
    Wie Macht erodiert
    Für CDU-Mitglied Mertes, der später noch als stellvertretender Chefredakteur des "Rheinischen Merkurs" sowie als NRW-Staatssekretär für Bundes- und Europa-Angelegenheiten arbeitete, war die Zeit im Kanzleramt prägend:
    "Ich habe aus der Nähe beobachten können, das Phänomen der Erosion von Macht und deshalb beobachte ich im Augenblick auch mit großem Interesse erneut das Phänomen, wie Macht erodiert."
    "Ich habe sprichwörtlich unendlich viel darüber nachgedacht. Die Entscheidung für eine vierte Kandidatur ist nach elf Amtsjahren alles andere als trivial."
    Michael Mertes steht in der Einfahrt vor seinem Haus.
    Michael Mertes schrieb viele Jahre die Reden von Helmut Kohl (Deutschlandradio / Moritz Küpper)
    Hatte die amtierende Bundeskanzlerin Angela Merkel im November 2016 gesagt, als sie bekannt gab, erneut zu kandidieren – und die Geschichte scheint ihr Recht zu geben. Das Wort der Kanzlerinnen-Dämmerung erfährt aktuell Konjunktur. Und für Mertes gibt es da zum einen die Pendeltheorie…
    "Es ist ein Modell, in dem der Zeitgeist im Wechsel der Generationen immer hin- und herschwingt. Es geht sozusagen um inhaltliche Veränderungen im allgemeinen Denken und die Partei, die am ehesten dem Zeitgeist entspricht, befindet sich im Aufwind und kommt dann schließlich an die Regierung."
    … und, als zweites, vom ihm präferiertes Modell, die Verschleißtheorie:
    "Die Zyklen der Macht kommen dadurch zustande, dass Macht erodiert und verfällt, sodass irgendwann die Opposition an der Reihe ist."
    Auch wenn er sagt:
    "Wir haben allerdings auch den Fall, dass eine Opposition so schlecht aufgestellt ist, in gewisser Weise erleben wir das gegenwärtig, dass sie nicht in der Lage ist, auch wenn die Leute mit der Regierung unzufrieden sind, jetzt als neue Regierung ins Amt zu kommen. Oder wir haben Ausnahmesituationen, wie im Fall der 16 Jahre von Helmut Kohl, dass die Uhr noch einmal neu zu ticken beginnt."
    Natürlicher Zyklus von Amtszeiten
    Damals machte sich 1987/88 eine gewisse Müdigkeit breit – die von der Wiedervereinigung überdeckt wurde. Letztendlich, so Mertes, gebe es in Deutschland zwar keine Amtszeitbeschränkung, aber eben doch eine Art natürlichen Zyklus von acht bis zehn Jahren. Und: Keinem Bundeskanzler gelang ein selbstbestimmter Abgang. Der erste, Konrad Adenauer, kam mit 73 Jahren ins Amt – und thematisierte sein Nicht-loslassen-wollen bisweilen sogar humoristisch:
    "Als ich zum ersten Mal Bundeskanzler wurde, vor über zwölf Jahren, habe ich den Professor Martini in Bonn gefragt, ob er wohl glaube, dass ich trotz meines Alters noch ein Jahr lang die Arbeit leisten könne, er hat mich pflichtgemäß untersucht und hat mir gesagt, und das hat mich sehr beruhigt, sie werden sicher anderthalb Jahre die Arbeit leisten."
    Dr. Konrad Adenauer (CDU) wird am 20. September 1949 durch Bundestagspräsident Dr. Erich Köhler zum ersten Kanzler der Bundesrepublik Deutschland vereidigt.
    Dr. Konrad Adenauer (CDU) wurde 1949 als erster Kanzler der Bundesrepublik Deutschland vereidigt. (dpa)
    14 wurden es dann insgesamt. Und obwohl eine starke Opposition fehlte, musste Adenauer dann gehen. Auch weil die eigene Partei sowie der Koalitionspartner einen Wechsel wollten. Das, so Mertes, sei eine Parallele zu heute, wenn auch …
    "… Konrad Adenauer hat mit Händen und Füßen versucht, Ludwig Erhard als seinen Nachfolger zu verhindern und ich sehe im Augenblick nicht, dass es einen natürlichen Nachfolger oder eine natürlich Nachfolgerin für Angela Merkel gibt."
    Die Folgen langer Amtszeiten
    Nach Adenauer läuteten auch bei Erhard der Koalitionspartner und die eigene Fraktion das Ende ein. Kurt Georg Kiesinger wurde abgewählt, Willy Brandt trat zurück, Helmut Schmidt mit einem konstruktiven Misstrauensvotum gestürzt. Kohl, aber auch Gerhard Schröder erlitten Wahl-Niederlagen. Für Mertes lassen sich daraus durchaus generelle Lehren ziehen:
    "Wenn jemand lange an der Macht ist, entsteht ein Gewöhnungseffekt und dann taucht auf einmal ein frisches Gesicht anderswo auf und die Leute haben das Gefühl: Naja, es ist jetzt mal Zeit für einen Wechsel."
    Das, so Mertes, habe sich bei Adenauer beobachten lassen, als John F. Kennedy auftauchte. Einen ähnlichen Effekt gab es 1997 bei Kohl, als Tony Blair in Großbritannien übernahm.
    "Und im Grunde genommen beobachten wir jetzt etwas Ähnliches: Sie haben in Frankreich Macron, sie haben Kurz in Österreich und vor diesem Hintergrund wirkt Frau Merkel auf einmal doch, ich will es höflich ausdrücken, eben etwas älter. Das ist überhaupt gar keine Kritik in der Sache, sondern es geht zunächst einmal nur um das Erscheinungsbild."
    Hinzu kommen aber weitere Auswirkungen einer langen Amtszeit: Die Zahl der enttäuschten Anhänger wachse, der Handlungsspielraum werde kleiner und es hat noch eine andere Seite, so Mertes, denn Kohls Erfolge führten zu fehlender Dynamik.
    Ein Punkt, der auch im Fall Merkel gelten könnte, aber, so Mertes:
    "Meine Vermutung ist, so wie ich Frau Merkel einschätze, dass sie sich nicht von irgendjemandem etwas diktieren lassen wird, sondern, dass sie sehr überraschend eines Tages, wenn sie das Gefühl hat, das Haus ist halbwegs bestellt, die Entscheidung bekannt geben wird."
    Und das wäre historisch.