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"Wie weit wir doch gekommen sind"

Ich bin sehr froh, Europäerin zu sein, also im Sinne von einem Bewusstsein von einem Kontinent, einer Kultur, einer gemeinsamen Geschichte. Und ich bin deswegen sehr froh, weil ich alt genug bin, um mich zu erinnern, wie das war nach dem Krieg, nach der Bombardierung, nach der Zerstörung, nach dem Hunger und alles, was ich als Kind erlebt habe in der Nähe der großen Industriestadt Manchester.

Von Patricia Clough | 27.05.2009
    Und ich werde nie vergessen, ich war acht Jahre alt, ungefähr, und meine Mutter hat eines Tages gesagt: Guck mal, der Winnie, also der Winston Churchill, hat eine tolle Rede gehalten. Er hat gesagt, wir sollen eine Art Vereinigte Staaten von Europa bauen. Und sie war so begeistert. Und ich, obwohl ich noch ganz klein war, ich wusste schon, was das bedeutete. Und das war für mich vielleicht der Ausgangspunkt sozusagen von meinem Europäerin-Sein.

    Ich habe lange in Deutschland gelebt und fühle mich dort fast zu Hause. Ich bin in Italien zu Hause, bin allerdings in England aufgewachsen, obwohl das England von heute nicht mehr so sehr mein England ist. Aber vielleicht deshalb fühle ich mich eher international, sagen wir.

    Und wenn man vom Ausland kommt, von Amerika oder von Asien oder so, egal wo man in Europa landet, hat man das Gefühl, dass man irgendwie nach Hause kommt. Da ist etwas Besonderes an Europa, das von einem Land zum anderen immer noch fühlbar ist, finde ich.

    Was läuft schief in Europa? Also eigentlich ganz schief kann man kaum sagen. Aber es gibt viele Sachen, die man sich anders wünschen könnte. Man könnte sich wünschen, dass es mehr Identifizierung mit Europa gibt in verschiedenen Ländern, mein Land eingeschlossen, dass man sich mehr dafür begeistert. Aber vielleicht ist Europa auch ein bisschen wie eine Ehe: Die Hochzeit ist sehr spannend und sehr schön und man denkt an die Wichtigkeit von der ganzen Sache, aber das tägliche Leben ist schon ein bisschen anders.

    Wenn man denkt, wie weit wir gekommen sind, heute, 60 Jahre nach Ende des Krieges, dann kann man sagen, da ist sehr viel gut gelaufen. Und vor allem, dass wir die östlichen Länder mit eingebunden haben. Es ist für sie natürlich nicht leicht, diese ganzen 20 Jahre waren gar nicht leicht, aber das ist schon bewegend und ich glaube sehr positiv, dass diese Hälfte von Europa jetzt zusammen mit dem Rest zusammenwachsen kann.

    Was könnte Europa werden? Europa könnte vielleicht ein bisschen mehr wie die Vereinigten Staaten von Amerika werden im Sinne von einem engeren Zusammensein und eine größere Identität von Europa. Aber natürlich kann das nie genau so sein, denn jedes Land hier in Europa hat so eine lange und sehr wichtige Geschichte. Aber es wäre so schön, wenn man sich als Einheit, als vereintes Europa wirklich denken könnte und agieren könnte alle zusammen. Aber damit das passiert, ich glaube, vielleicht müsste man eine Drohung von draußen haben, dass man zusammenrückt, und das natürlich ist nicht zu wünschen. Ich glaube, nur die Zeit eigentlich kann so was bringen.

    Also ich habe einen besonderen Erinnerungsort, an dem ich an Europa wirklich gedacht habe, und das war in Prag im Jahre 1991. Da waren viele osteuropäische Politiker und militärische Oberbefehlshaber aus den Ostblockländern, und die saßen in einem großen Saal. Und ich sah den Oberrussen, so einen großen, mächtigen, dicken Marschall. Er nahm einen Stift und fing an, seinen Namen zu schreiben, und der Stift funktionierte anscheinend nicht, hat's hingeworfen und einen neuen Stift genommen und hat dann unterzeichnet. Und damit war der Warschauer Pakt aufgelöst. Und die Polen, die Tschechen, die konnten ihr Lächeln kaum unterdrücken, die hatten sich so gefreut. Das war für mich das Zusammenkommen von Europa. Die waren dann frei, um sich an die NATO anzugliedern, an die Europäische Union, und das war ein großer Tag. Alle haben ganz, ganz toll gefeiert an dem Tag.

    Kurzbiografie:
    Patricia Clough, geboren 1938 in Bury bei Manchester. Sie studierte Germanistik und Romanistik an der Universität Bristol und absolvierte anschließend eine journalistische Ausbildung bei den Bolton Evening News und der Nachrichtenagentur Reuters. Für Letztere berichtete Clough aus Genf, Bonn und Rom. Danach arbeitete sie für die Times. Zunächst fünf Jahre als Deutschlandkorrespondentin, später in London als Autorin von Leitartikeln und als stellvertretende Chefin des Auslandsdienstes. 1986 wechselte Patricia Clough mit mehreren Kollegen zur neu gegründeten Zeitung The Independent und kehrte als Korrespondentin nach Deutschland zurück. Sie berichtete über den Fall der Berliner Mauer, verfolgte ab 1990 von Warschau aus den Übergang zur Demokratie vom Baltikum bis zum Schwarzen Meer und ging dann nach Italien. Dort informierte sie aus Rom über den Zusammenbruch des alten Parteiensystems. 1990 erhielt Clough den Journalistenpreis der Deutsch-Britischen-Stiftung.
    Sie veröffentlichte mehrere Sachbücher, darunter "Helmut Kohl. Ein Portrait der Macht" (1998), "English Cooking. Ein schlechter Ruf wird widerlegt" (2001), "Hannelore Kohl. Zwei Leben" (2002) und "In langer Reihe über das Haff. Die Flucht der Trakehner aus Ostpreussen" (2004). Zuletzt erschienen von ihr "Gebrauchsanweisung für Umbrien" (2007), ein humorvolles Portrait der italienischen Region, und "Aachen-Berlin-Königsberg. Eine Zeitreise entlang der alten Reichsstrasse 1" (2007). Heute lebt Patricia Clough in Umbrien.


    Mehr zur Europawahl finden Sie auf den Seiten der Bundeszentrale für politische Bildung.