Freitag, 29. März 2024

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Wiederaufbau in einem traumatisierten Land

Noch vor drei Jahren war Grosny eine apokalyptische Trümmerwüste mit verkohlten Hausgespenstern. Jetzt prunkt die Hauptader der tschetschenischen Hauptstadt mit weißen Fassaden und Stuckgirlanden. Statt der von den russischen Raketen wegrasierten Parkanlagen zieren Baumsetzlinge in Kalkstrümpfen die kaukasische Metropole.

Eine Sendung von Barbara Lehmann | 03.08.2007
    Die Greifer der Kräne krallen sich über dem Dynamo Stadion in den Abendhimmel; Schweißbrenner lassen Funken regnen. Lichterketten wickeln sich um Gerüste, vor denen die Mauern der Nordtribüne wachsen. Mit seiner schwarzen Mütze überragt Ljoma die übrigen Arbeiter. Fast rund um die Uhr ist der Bauleiter an der Nordtribüne auf den Beinen. Im Hintergrund erheben sich die bunten Giebel der Wellblechdächer, unter ihnen erwachen Grosnys geschiente und gestützte Häuserinvaliden zu neuem Leben. "Unsere Stadt soll die Perle des Kaukaus werden", sagt Ljoma, "schöner als Paris oder London."

    Wiederaufbau in Grosny: Enthusiasten wie Ljoma sind Tschetscheniens neue zivile Helden. Viele der Arbeiter verdingen sich zu Mindestlöhnen, Anteile des Lohns verschwinden in den Aufbaukassen. Die Hoffnung, dem Leben in den Ruinen zu entkommen, reißt das Volk aus Lethargie und Depressionen und schweißt es zusammen. Das in den Schoß Russlands zurück gezwungene Tschetschenien spiegelt die "Vertikale der Macht" des großen Bruders. Die Direktiven für den Wiederaufbau kommen von oben, die Untertanen haben sich zu fügen.

    Die Scheinwerfer einer Wagenkolonne schneiden sich durch die Eingangssäulen. Achmad Gechajew und seine Wachmannschaften durchmessen das matschige Gelände. Der Bauminister taucht jederzeit unvermutet an den Baustellen auf, um die Arbeiten voranzutreiben. Derzeit hat er die Instandsetzung von 700 Objekten zu verantworten, die Restaurierung von anderthalb Millionen Quadratmetern Wohnraum liegen in seiner Obhut.

    Gechajew
    "Für unseren Generalplan des Wiederaufbaus alter Gebäude haben wir unsere wichtigsten Spezialisten herangezogen; gleichzeitig wurde er vom Zentralen Stadtplanungsinstitut in Moskau abgesegnet. Daneben planen wir aber auch neue Hochhäuser, in denen die vielen Flüchtlinge unterkommen sollen, die bislang noch in Heimen wohnen. Die historische Stadtansicht soll erhalten bleiben, allerdings mit zeitgenössischen Elementen. Wer keine Vergangenheit hat, für den wird es auch keine Zukunft geben. Nur so kann unser Volk seine Eigenheit erhalten.
    Wir haben einen Generalstab für den Wiederaufbau, den ich leite. Jeder Politiker ist verantwortlich für Baumaßnahmen in den Städten und Bezirken und beauftragt, die Fristen einzuhalten. Alles, was ich oder die anderen Leiter fordern, ist vom Präsidenten abgesegnet worden. Die Menschen folgen uns willig. Sie wissen, sie tun es für die Republik und bringen dafür Opfer. Einige Maschinen und Werkzeuge sind von hier, manches kaufen wir in den Nachbarrepubliken. Das Baumaterial wird importiert, denn bislang hat unsere Industrie die Arbeit noch nicht wieder aufgenommen. Unser Volk ist erfindungsreich, es findet, was immer es braucht, an jedem Ort und zu jeder Stunde."

    Noch vor drei Jahren war Grosny eine apokalyptische Trümmerwüste mit verkohlten Hausgespenstern. Jetzt prunkt die Hauptader der tschetschenischen Hauptstadt mit weißen Fassaden und Stuckgirlanden. Statt der von den russischen Raketen wegrasierten Parkanlagen zieren Baumsetzlinge in Kalkstrümpfen die kaukasische Metropole. Auf der Ödfläche der wegbombardierten Regierungsgebäude erhebt sich der Rohbau einer monumentalen Moschee für 10.000 Besucher. Und wo noch vor kurzem Straßenlaternen ihre Drähte wie Bittsteller in den Himmel reckten, neigen nun Art Deco Lampen ihre Kelche über lächelnde Flaneure. Allerdings wirken die in den Himmel schießenden leer stehenden Bauten am Achmad-Kadyrow-Prospekt wie Filmkulissen, manches wirkt einsturzgefährdet. Und kehrt man den Wiedergängern der pseudoklassizistischen Bauten am Prospekt des Friedens den Rücken, starren am Zentralmarkt leere Fensterhöhlen aus Häuserskeletten.

    Chudschijew:
    "Die Menschen sind die Spuren des Krieges leid. Das jahrelange Leben in den Ruinen hat in den Seelen unauslöschliche Spuren hinterlassen. Erst jetzt können wir uns langsam von diesem Schock erholen. Natürlich kann man den Krieg und die Erinnerung an tote Verwandte und Freunde nicht einfach aus den Herzen entfernen. Und auch wenn wir alles in Gold wiederaufbauen würden, blieben Trauer und Sehnsucht nach dem für immer Verlorenen."

    Muslim Chudschijew, der neu ernannte junge Bürgermeister, fegt mit seinen Bewachern über den Markt von Grosny. Energisch versucht der ehemalige stellvertretende Leiter des Präsidentenapparates den Wildwuchs von Korruption, Steuerhinterziehung und kaukasischem Schlendrian zu kappen. Schon in seiner ersten Amtswoche hatte der Mann mit dem grauen Bürstenschnitt das zwischen den Ruinen wuchernde Markttreiben eingezäunt und die Händler zum Steuernzahlen verpflichtet. Auch durch den Dschungel der ins Staatseigentum übergegangenen zerbombten Wohnungen, die nach der Entschädigungszahlung oft mehrfach verhökert wurden, versuchen seine Abgesandten Schneisen zu schlagen. Aber will man mit den hastig hochgezogenen weißen Fassaden nicht auch ein Leichentuch des Vergessens über die Kriegsverbrechen breiten?

    "Das Programm "Krieg ohne Spuren" heißt nicht, das wir alles vergessen wollen. Wir möchten nur einfach ein normales Leben, schöne Häuser, Arbeitsplätze, und Glück für unsere Kinder. Unser Volk hat in unmenschlichen Bedingungen gelebt und ist durch die Hölle gegangen. Der Wille zu einem friedlichen zivilen Leben löst uns aus der Zersplitterung und schweißt uns zusammen."

    Das Gerücht, Ramsan Kadyrow werde bei einem Galopprennen weilen, treibt uns an einem verregneten Samstagmorgen aus Grosny heraus über die Landstraße ostwärts. Eine russische Militärbasis, eine abgeschlossene Welt mit Schulen, Krankenhäusern und Geschäften, duckt sich vor Kadyrows Wohnort Gudermes in die Ebene. Überall an den Straßenrändern Aufräumkommandos, selbst russische Soldaten harken die Wege. Am Horizont eines windgepeitschten Stoppelfeldes drängeln sich stämmige Typen um die beste Sicht auf ihre Galopper-Favoriten. Doch Ramsan Kadyrows Wagenkolonne ist schon wieder verschwunden

    Am Holzpodest der improvisierten Ehrentribüne posieren neben wenigen müden Gäulen immerhin noch ein paar seiner Vertrauten. Unter ihnen ist auch der Parlamentsvorsitzende Duckwacha Abdurachmanow. Der studierte Historiker mit den feinen Gesichtszügen war schon unter dem ersten tschetschenischen Präsidenten Dschochar Dudajew Bürgermeister von Gudermes. Als einer der wenigen überlebte er die unzähligen Regierungswechsel und Verwerfungen der letzten fünfzehn Jahre unbeschadet. "Was ist die dringlichste Aufgabe für Tschetschenien?", fragen wir den Mann unter der schwarzen Regenkapuze.

    "Das Wichtigste ist die Beschaffung von Arbeitsplätzen. Grosnys Zuckerfabrik wird wieder eröffnet, Milch und Konservenfabriken sowie ein Fleischkombinat sollen folgen. Allein vom agrarindustriellen Sektor sind 80.000 Arbeitsplätze zu erwarten. Ebenso sollen die Zementfabrik und die Öl verarbeitende Industrie bald wieder den Betrieb aufnehmen. Um Investoren anzulocken, wollen wir Tschetschenien für die nächsten zehn Jahre zur Freihandelszone zu machen. Eine andere zukünftige Einnahmequelle ist der Tourismus. Schon jetzt ist der Friede augenfällig, bis zum Jahresende wird es hier keinen einzigen Banditen mehr geben. Die meisten Widerstandskämpfer sind amnestiert und glücklich über die Rückkehr ins zivile Leben. Achmed Zakajew, der Außenminister der Untergrundregierung Itschkeria, wird demnächst aus London kommen. Wir fühlen uns als Bürger des großen russischen Reichs, und sind froh, an dessen Zivilisation, Rohstoffen und ökonomischen Ressourcen teilhaben zu können."

    Was ist Wahrheit, wo beginnt die Täuschung? Und was ist hier vor Ort womöglich der politischen Konjunktur geschuldet? Unter der vielbeschworenen Einheit in Kadyrows neuem Tschetschenien köcheln die Traumata und Fehden der letzten fünfzehn Jahre. Objektivität und Toleranz wurden im Krieg zerrieben, die zerstrittenen Parteien sprechen nicht miteinander, unabhängige Vermittler aus dem Westen sind nicht geduldet. Russland, das die zwei Kriege als Antiterrormaßnahmen beschönigt, fürchtet die Aufdeckung der Kriegsverbrechen und verbietet sich die Einmischung in seine inneren Angelegenheiten. Die emigrierten Vertreter der tschetschenischen Untergrundregierung Itschkeria wiederum sind marginalisiert, zerstritten und ohne Einsicht in die eigenen politischen Fehler.

    Sainap Gaschajewa:
    "Tausende in unserer Republik sind psychisch krank, traumatisiert, es gibt keine Rehabilitierungsmaßnahmen. Es fehlen Ärzte, Medikamente und medizinische Geräte. Nach wie vor gibt es keine zentrale Wasserversorgung und keine Kanalisation. Niemand schert sich um die Räumung der Minen. Die Schul- und Universitätsausbildung ist absolut unzureichend, alles läuft nur über Korruption. Wir brauchen eine allumfassende Unterstützung für unsere Republik, russische und internationale Rehabilitationsprogramme, die den Aufbau von unten betreiben."

    Die Bürgerrechtlerin Sainap Gaschajewa empfängt uns an Grosnys dörflichem Stadtrand. In ihrem Wohnhaus lebt und arbeitet sie mit ihren Gefährtinnen und Verwandten. Seit 1994, dem Beginn des 1. Tschetschenienkrieges, schlagen die Frauen eine Lichtschneise durch die Dunkelzonen der Gewalt, indem sie mit der Kamera die Kriegsgräuel dokumentieren. Ihre Organisation "Echo des Krieges" ist im Ausland bekannter als in Tschetschenien.

    Sainap Gaschajewa:
    "Wenn wir das, was mit uns geschehen ist, nicht begreifen, werden wir auch die Gegenwart nicht aufbauen können. Erst wenn die Schuldigen bestraft sind, kann man den Staat neu errichten. Unsere Politiker sollten die Zeit des Krieges studieren, die Fehler analysieren und diese Jahre nicht einfach ausradieren. Stabilität wird es erst geben, wenn wir einen Kompromiss für alle Seiten finden. Selbst wenn alles in Gold verkleidet wird, wird das nichts nützen, solange die zerstrittenen tschetschenischen Lager sich nicht an einen Tisch setzen werden."

    Psychisch und physisch, sagt Sainap Gaschajewa, sei die Bevölkerung am Ende. Kinder würden bereits im Mutterleib oder in den ersten Wochen nach der Geburt sterben. Tuberkulose, Krebs, Herzinfarkt seien die häufigsten Todesursachen schon bei den ganz Jungen. Die frühere sowjetische Betriebsdirektorin hat mithilfe deutscher Spendengelder eine Ruine in Grosny in ein Waisenhaus für dreißig Kinder verwandelt. Es ist das einzige in Grosny, die anderen ließ Präsident Kadyrow – ungeachtet Tausender jugendlicher Kriegwaisen und Invaliden - kürzlich schließen. Russland und seine Verbündeten in Tschetschenien wollen für die Folgen des Krieges nicht haften. Von Sport- und Spielplätzen oder qualifizierten Pädagogen für ihr Waisenhaus kann Sainap Gaschajewa bislang nur träumen. Dennoch betonen sie und ihre Mitarbeiterinnen, Kadyrow habe sich vom Kriegsherren zum soliden Politiker gewandelt.

    Sainap Gaschajewa:
    "Der junge Präsident hat viel verändert. Von den Älteren wird er wie ein Heiliger verehrt, für die Jugend verkörpert er die Hoffnung. Er fordert viel von seinen Beamten. Und im Volk ist man der Ansicht, eine starke Hand sei nötig. Die Menschen sind müde, leben in Angst und sehen bislang noch keine Zukunft. Jede neue Lampe macht uns glücklich, doch wir wissen nicht, für wie lange. Alles Positive in unserer Republik hat auch eine negative Seite – Polizeischikanen, Gewalt und Folter. Schon morgen kann das Volk die Machthaber wieder hassen. Die Unsicherheit treibt die Menschen aus dem Land in die ungewisse Ferne."

    Wir fahren mit der russischen Menschenrechtlerin Tanja Lokschina nach Gudermes, in Ramsan Kadyrows Sportclub. Hinten an der Stirnwand der Führerkult: "Achmed, wir gedenken deiner in Liebe", "Ramsan, wir sind stolz auf dich" verkünden riesige Plakate. Der Kult um die aus einfachen Verhältnissen aufgestiegene Präsidentenfamilie soll die Jahre der tschetschenischen Unabhängigkeit und ihrer vom Volk gewählten Führer wegwischen. Dabei kämpfte auch Ramsans Vater Achmed, damals der Mufti der Republik, zunächst gegen die Russen. Erst im zweiten Krieg ergriff er die Partei der einstigen Feinde. Ramsan war immer an der Seite des Vaters, auch später als Chef der Leibwache - diese Schule des Lebens prägte ihn, nicht das bisschen Unterricht in den zerbombten Klassen.
    Plötzlich ist der Präsident da, umschwirrt von Bewachern - geballte Energie in schwarzen Sportklamotten. Zwanglos nimmt er Platz, stützt sich leger auf die gekreuzten Arme. Ramsan steht wie sein Vater auf der Todesliste der Rebellen, doch in der Männergesellschaft des Sportclubs fühlt sich der Hobbyboxer sicher. Tanja Lokschina:

    "Viele sagten damals: Dieser Kolchosbauer Ramsan Kadyrow ist eine Schande für unsere Nation, er kann weder lesen noch schreiben. Inzwischen ist er, umgeben von Imageberatern, ein echter Populist geworden, je nach Zielgruppe spielt er mit diesen und jenem. Für die Traditionalisten kämpft er bewusst gegen Alkohol und Drogen, weil sie dem Bild des tschetschenischen Volkes schadeten. Andererseits veranstaltet er Schönheitswettbewerbe für "Miss Tschetschenien", was gut ankommt bei der Jugend. Dann wieder spricht er sich dafür aus, dass eine tschetschenische Frau unbedingt ein Kopftuch tragen solle. Doch das meiste Ansehen hat ihm der Wiederaufbau eingetragen."

    Der junge Präsident ist eine Projektionsfläche für Legenden und Mythen. Der internationalen Politik gilt er als persona non grata, ausländische Journalisten erleben ihn zumeist nur bei Kurzaudienzen, bei denen er vorgestanzte Antworten gibt. Westliche und russische Menschenrechtler, auch die ermordete Journalistin Anna Politkowskaja, beschreiben ihn als Folterer und Mörder. Verschanzt in einem feudalen Anwesen im seinem Heimatdorf Zenteroj halte er mit seiner riesigen Privatarmee das Land in Angst und Schrecken.

    Tanja Lokschina:
    "Ramsan Kadyrow herrscht über die Republik wie ein mittelalterlicher Feudalherr. Er stand an der Spitze von Sicherheitsorganen, die in einem bestimmten Zeitraum für entsetzliche Verbrechen verantwortlich waren, in erster Linie für die Entführung von Menschen. Rechtsstaatliche Normen haben in Tschetschenien keine Geltung. Und diese Rechtlosigkeit breitet sich über ganz Russland aus. Präsident Putin wird Anfang 2008 gehen. Wie werden sich Kadyrows Beziehungen zu seinem Nachfolger gestalten? Die tschetschenische Republik ist klein, Kadyrow ist jung, ein ehrgeiziger Politiker, wie unsere Presse sagt. Was will er dann? Auf diese Fragen gibt es bislang keine Antwort."

    Für Putin ist Ramsan Kadyrow Garant für Ruhe und Ordnung in Tschetschenien. Als Gegenleistung versucht Kadyrow, beim Kreml soviel Souveränität wie möglich für die Republik rauszuschinden: Er fordert immer mehr Aufbaugelder sowie die Hoheit über die Erdöleinnahmen, an denen Tschetschenien derzeit nur ungefähr zur Hälfte beteiligt ist. Wenn der Kampf um die Unabhängigkeit schon begraben werden musste, dann soll Tschetschenien wenigstens zur kaukasischen Vorzeigerepublik werden.

    Tanja Lokschina:
    "Es gibt keinen stabilen Frieden, wenn die Leute kein Gefühl der Gerechtigkeit haben. Es war Krieg – und er dauerte 12 Jahre. Tausende sind umgekommen. Tausende haben ihre Verwandten verloren. Leute wurden gefoltert. Und plötzlich – ist alles vergessen. Aber das ist nicht möglich. Jede Familie hat schreckliche Verluste erlitten. Heute, morgen, übermorgen werden die Leute zufrieden sein, dass sich etwas ändert. Aber das ist nicht für lange. Es gibt Hunderte, Tausende von Verbrechern, die nicht bestraft worden sind. So ein Frieden kann nicht von Dauer sein."