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Wiedergeburt eines Klassikers

"Kindlers Literatur Lexikon" gilt als das deutsche Nachschlagwerk für Literatur Nummer eins. Nun ist mit der dritten Auflage eine aktualisierte und neu geschriebene Version des Klassikers erschienen.

Von Helmut Böttiger | 17.09.2009
    Auf den Buchrücken wirkt es sehr bescheiden: "Kindlers Literatur Lexikon. 3. Auflage", steht da. Doch es ist bei Weitem nicht einfach nur die dritte Auflage. Es ist die völlig neue, von Grund auf renovierte, aktualisierte und neu geschriebene Version eines Klassikers. Eine Kraftanstrengung also, die noch einmal alle Möglichkeiten des Editions- und Verlagswesens ausschöpft, wie sie heute gegeben sind - und vielleicht bald so nicht mehr vorstellbar sein werden.

    Der Kindler ist ein Mythos. Es ist das deutsche Literaturlexikon, das aber bereits bei seinem Erscheinen 1965 bis 1974 ein radikales Konzept von Weltliteratur verfolgte. Alphabetisch geordnet, verzeichnete es die Werke der Weltliteratur streng nach ihren Originaltiteln - wer also nach den "Erzählungen von 1001 Nacht" suchte, musste beim arabischen Originaltitel "Alf laila wa-laila" unter dem Buchstaben A nachschlagen. Es gab allerdings ein mehrbändiges Register, wo man unter der Abteilung "Anonyma" beim Buchstaben T einen Verweis von "Tausendundeiner Nacht" auf "Alf laila wa-laila" finden konnte.

    In der zweiten Ausgabe des Kindler, zwischen 1988 und 1992 erschienen, erfolgte die alphabetische Ordnung immerhin schon nach den Autorennamen, vom portugiesischen Autor Ruben A. bis zum Schweizer Reformator Zwingli. Im Zeitalter des Internet ist die nun im Jahre 2009 auf einen Schlag erschienene und in 18 Bänden lieferbare dritte Auflage des Kindler ein Meilenstein und wahrscheinlich auch ein Abgesang auf diese Form der Enzyklopädie - eine vierte Auflage des Kindler in Buchform wird es in vergleichbarer Form nicht mehr geben.

    Der Herausgeber des neuen Kindler, der Göttinger Literaturvermittler und verdiente Publizist Heinz Ludwig Arnold, wendet sich in seinem Vorwort nicht von ungefähr direkt der neuen Herausforderung zu. In seiner aktuellen Form heißt sie Wikipedia. Arnold setzt den Kindler in seiner Seriosität und wissenschaftlichen Objektivität offensiv gegen diese freie Form einer Internetenzyklopädie, die "oft unkritisch" sei, "selten wirklich professionell geprüft und deshalb im Grunde doch unzuverlässig". Der Kindler hingegen lebe vom gründlichen und detaillierten Wissen ausgewiesener Fachleute - 75 Fachberater und 1600 Mitarbeiter haben die Artikel im neuen Kindler konzipiert und verfasst.

    Ein Blick in die 18 Bände des Kindler zeigt, dass hier wirklich noch einmal alles in die Waagschale geworfen wurde. Die alte Unübersichtlichkeit wurde durch eine neue Übersichtlichkeit ersetzt. Das Druckbild ist klar, einfach und benutzerfreundlich. Die Artikel sind sauber gegliedert, man findet das Gesuchte sofort, ohne vorher umständlich im Register nachzuschauen oder sich mit diversen Formen einer sich verselbstständigenden Binnenlogik befassen zu müssen, wie es bei derlei skrupulösen wissenschaftlichen Nachschlagewerken allzu oft der Fall war.

    Im Vergleich zu vorangegangenen Editionen des Kindler ist das Lexikon um einiges schlanker geworden - statt wie bisher 22 Bände sind es nunmehr 18. Was weggelassen wurde, könnte auf den ersten Blick interessante Abschweifungen vermuten lassen, die Abgründe von apokryphen Schriften. In Wirklichkeit handelt es sich aber vor allem um mittlerweile zu vernachlässigende Einträge aus der Zeit des Kalten Krieges und der Ost-West-Konfrontation. Mit einem Schlag sind viele vorher scheinbar unvermeidliche Werke des Sozialistischen Realismus und einer offiziellen Ostblockliteratur hinfällig geworden.

    Eine gewisse Verlagerung ist aber auch generell, im Zuge der Globalisierung, festzustellen: Auffallend viele Werke aus dem asiatischen und afrikanischen Raum sind hinzugekommen. Dazu kommt eine Besonderheit aus den Ursprüngen des Kindler: Vorbild war Mitte der 60er-Jahre der italienische Bompiani, von dem damals viele Rechte zum Nachdruck von Artikeln erworben wurden. Das ergab, vom weltliterarischen Anspruch her betrachtet, doch gewisse Unwuchten. Die frühere Übermacht der romanischen Literaturen ist mittlerweile nicht mehr spürbar.

    Eine geglückte Weiterentwicklung des vorangegangenen Kindler ist die konsequente Einrichtung von sogenannten Werkgruppen bei einzelnen Autoren. Das heißt, dass in gewissen Fällen das dramatische, das lyrische, das essayistische und oft auch das erzählerische Werk eines Autors unter einem Artikel zusammengefasst erscheint - und nicht mehr ausschließlich unter den einzelnen Buchtiteln. Das erleichtert die Orientierung ungemein. Die Zeit seit 1990, dem ungefähren Schlusspunkt der letzten Auflage, ist zudem meist recht sorgfältig eingearbeitet worden. Das geht bis in die unmittelbare Aktualität.

    Bei Wolfgang Hilbig beispielsweise wird der 2008 erschienene erste Band der Gesamtausgabe gewürdigt, der der Lyrik gewidmet ist und einen neuen Blick auf diesen Autor ermöglicht - man hatte ihn zuletzt ja fast ausschließlich als herausragenden Prosaautor wahrgenommen. Interessant ist auch die Vorstellung des zurzeit zentralen ukrainischen Autors Jury Andruchowytsch: Hier werden, aus der Sicht der Fachleute der Slawistik, noch nicht in Deutschland erschienene, offenkundig schwergewichtige Romane wie Rekreationen oder Perversion hervorgehoben. Die in Deutschland erschienene leichtfüßige Moskowiada taucht dagegen nicht auf. Und schon sind wir mittendrin in Debatten um Autoren, mittendrin in Entdeckungsreisen, die, wenn man die 18 Bände erst einmal vor sich liegen hat, so schnell nicht enden werden.

    Kindlers Literatur Lexikon
    3. Auflage, Verlag J.B. Metzler, Stuttgart, 18 Bände, 1950 Euro
    (Zum selben Preis: Onlineausgabe mit regelmäßigen Aktualisierungen)