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Wiederkehr des Verdrängten

Am Anfang erscheint alles zwar skurril, aber noch ganz einfach. Kishor Babu, ein Familienpatriarch aus dem reichen Südkalkutta, muss sich wegen einer Herzverkalkung behandeln lassen. Seltsamerweise bleibt von der Operation eine Beule am Kopf, eigentlich beunruhigend ist aber, dass der Alte sein Verhalten ändert. Er beginnt, zu Fuß herumzulaufen, alte Artikel und Tagebücher zu lesen, seine Erinnerungen zu durchforschen. Aus dem autoritären Starrkopf, von seinen Kindern schlicht "Hitler" genannt, wird ein unkonventioneller Spinner:

Von Dorothea Dieckmann | 30.11.2006
    "Nach der Bypass-Operation und durch das ständige Umherstreifen durch die Straßen der Stadt haben sich Kishor Babus Maßstäbe verändert. Für ihn (...) war das Nebensächliche jetzt zur Hauptsache geworden.
    Nichts, was einmal auf der Welt geschehen ist, geht verloren. Wie könnte es auch verlorengehen, solange es uns gibt? Meist vergraben wir es irgendwo tief in uns unter den oberen Schichten wie in zerstörten alten Städten (...) Nicht eine einzige Stunde stirbt für immer."


    Nach unseren Maßstäben würde man das, was Kishor widerfährt, eine Wiederkehr des Verdrängten nennen. Alles, was in seinem etablierten Dasein verschüttet wurde, tritt wieder zutage – angefangen mit seinem Urgroßvater Ramwilas, der aus Rajasthan nach Kalkutta auswanderte. Wie die Autorin selbst gehört Kishors Familie zu den Marwari, die in Bengalen als rückständig galten. In Verbindung mit den gegenwärtigen Eskapaden Kishor Babus entfaltet sich nach und nach die Vergangenheit, aus den Schichten entwickeln sich zahllose Geschichten und aus den Geschichten die Geschichte Kalkuttas und ganz Indiens – denn Kishor hat, zusammen mit seinen Freunden Amolak und Shantanu, den Kampf gegen den Kolonialismus, die Teilung Bengalens, die Unabhängigkeit, Ghandis Tod, Hungersnot und die schrecklichen Schlachten zwischen Hindus und Moslems miterlebt.

    "Im Leben von Kishor Babu vereinigen sich drei Leben. Das erste währte bis zur Befreiung des Landes, das heißt bis zu seinem zweiundzwandzigsten Lebensjahr. Danach begann sein zweites Leben, das ganze fünfzig Jahre währte (...). Jetzt sieht Kishor Babu darin so etwas wie eine Wiedergeburt. Man könnte sagen, daß diese fünfzig Jahre im Leben von Kishor Babu den fünfzig Jahren des ‚demokratischen’ Indien gleichen, in denen von den Idealen des Kampfes um Freiheit auch nicht die geringste Spur geblieben ist.
    Bis heute war noch kein einziges Problem gelöst! Was hatte denn die mit so viel Blut errungene Teilung gebracht? Den Kampf zwischen Menschen, die dieselbe Sprache sprachen wie wir, die wie wir Jalebi und Kalakand aßen? Dafür, daß wir sie als unsere Feinde ansahen, wurden astronomische Summen Geld für Waffen und Ausrüstung der Armee ausgegeben, während in den Straßen Kalkuttas genau wie früher Aussätzige, Krüppel, hungrige und fast nackte Frauen und Kinder umherirrten."


    So öffnen die Erinnerungen Kishor die Augen für die Gegenwart. Nicht nur die politische Entwicklung rückt ihm auf die Pelle, sondern auch die eng damit verwobene, lebendige und schmerzvolle Geschichte seiner Familie. Da ist der Großvater, der dem Urgroßvater Ramwilas nach Kalkutta folgte und durch die grausame Behandlung von Seiten der Engländer politisiert wurde; da ist der Tod des Vaters und der des geliebten Bruders, die in Mutter und Schwägerin Witwen hinterlassen; da ist der strenge Onkel, der seine Frau mit den Prostituierten auf dem Bahu-Bazar betrügt, und schließlich die eigenen fünf Töchter, die Kishor freier aufwachsen lassen wollte, ohne ihnen jedoch eine volle Universitätsbildung zu erlauben; eine von ihnen treibt nun ihre Kinder ab, wenn sie weiblich sind.

    All diese Geschichten sind ein Spiegel der indischen Gesellschaft – nicht nur, weil die oft schwer durchschaubaren Verzweigungen der Familie die Existenz des Einzelnen erfüllen und beglaubigen, sondern auch, weil die verschiedenen Gestalten des Daseins gleichzeitig lebendig sind. Ein sanyasischer Swami erläutert dem jungen Kishor einmal diese Mentalität:

    "Eine Besonderheit Indiens besteht darin, daß man sich von nichts trennen kann. Dies ist Wahrheit, das ist Wahrheit, etwas anderes aber auch. Deshalb hat sich so viel Plunder in unserer Religion angesammelt. Wenn wir einmal eine Form angenommen haben, werfen wir dennoch nichts weg, weil wir nicht wissen, in welcher ‚Form’ sich die Wahrheit verbirgt. Jede Form hat einen Namen und auch einen Vorzug. Ja, und dann verstricken wir uns in dieser Vielfalt von Formen ..."

    Alka Saraogi, mit ihren 46 Jahren in Indien eine bekannte Erzählerin, wird dieser Verstrickung literarisch gerecht, indem sie nicht nur zwischen Damals und Heute hin- und herspringt, sondern ab und an auch einen Erzähler einschaltet, der Kishor Babus Geschichten liebevoll und manchmal ironisch kommentiert. Die gewissermaßen postmoderne Verschränkung der Ebenen, die dadurch entsteht, vergleicht sie mit der Arbeit der bengalischen Goldschmiede, die stets 22-karätiges Gold verwendeten. Die für die Schmuckarbeit notwendige Beimischung anderer Substanzen durfte nicht mehr als zwei Karat betragen. Dies entspricht dem Spielraum des Erzählers. Und während ihm der Leser bei der Arbeit über die Schulter sieht, entsteht unmerklich eine Vertrautheit mit dieser fremden Welt, so dass wir reich aus der Lektüre entlassen werden – gerade weil es sich bei diesem Roman nicht um reines Gold handelt.


    Alka Saraogi: "Umweg nach Kalkutta", Insel Verlag.