Donnerstag, 18. April 2024

Archiv


Wiederkehr eines Autors

Der Dramatiker Bernard-Marie Koltès starb 1989 mit 41 Jahren. Er hinterließ eine Handvoll Stücke, die jedoch selten gespielt wurden. Nun haben zwei Regisseure Koltès Stück "Quai West” wiederentdeckt. Erst präsentierte Andrea Breth es am Wiener Burgtheater, jetzt Werner Schroeter an der Berliner Volksbühne.

Von Michael Laages | 11.03.2010
    Zunächst wird hier die Welt zurückgedreht, und zwar wenigstens bis kurz vor Galilei; keine Kugel im System von Kugeln ist sie mehr, sondern wieder eine Scheibe, platt und begrenzt. Wer über den Rand hinaus wollte, stürzte ins Nichts.

    Allerdings darf wohl kaum vermutet werden, dass sich der Film-, Opern- und Schauspielregisseur Werner Schroeter, im Beiprogramm der zurückliegenden Berlinale gerade ausgezeichnet mit dem schwul-lesbischen Teddy-Filmpreis fürs künstlerische Lebenswerk, für die jüngste Theaterarbeit inspirieren ließ durch die kultigen Scheibenwelt-Romane des kruden englischen Literatur- und Fantasy-Komikers Terry Pratchett. Komisch nämlich ist "Quai West”, das sicherlich kompakteste und komplexeste unter den Stücken von Bernard-Marie Koltès, eher gar nicht.

    Abend- und bühnenfüllend wird nun aber Schroeters Inszenierung dieses sonderbar ziellosen, zuweilen auch stark schwatzhaften Stückes - in der auch nicht sonderlich ordnungsstiftenden Übertragung von Heiner Müller - geprägt von dieser monströsen Scheibe, die Schroeter selber gemeinsam mit Werner Hohlfeld für die große Volksbühnen-Drehbühne konstruieren ließ. Sie ist beweglich, lässt sich also auf steil und auf flach stellen - und damit die Akteure nach Betreten dieser Platte nicht herunterrutschen, wenn sie auf steil steht, gibt es mehrere Treppen, an denen sich das Personal im Notfall rücklings lagern kann.

    Hinter allem ragt ein hohes Wasserbecken auf, aus dem zarte Lichtreflexe aufs rückwärtige Bühnenhalbrund gespiegelt werden; daneben dräut ein Mast, an dem womöglich früher mal Schiffe festmachten - der Koltès-”Quai West” sollte ja in der Tat eine alte, leere, nur mehr von Lemuren, von Ausgestoßenen besiedelte Lagerhalle an den aufgelassenen Kaianlagen des Hafens von New York sein. Dafür immerhin bietet diese Aufführung ein starkes, wuchtiges Bild.

    Hierher, in dieses Nichts-und-Niemandsland, strebt nun - aus heiterem Himmel, aber mit Luxusschlitten und treuer Sekretärin - ein gescheiterter Bankboss, der sich umbringen will; mit Steinen in den Taschen will er im Hafenbecken ersaufen. Zunächst wird er gerettet von den sozial verkommenen Bewohnern der Halle - doch kaum ist er da, und zwar als eine Art Objekt der Spekulation, setzt seine Anwesenheit Prozesse der Verwerfung in Gang, die nur zu lösen sind durch einen stummen Schwarzen, der schlussendlich den Bankier und seinen Retter eiskalt erschießt. Dazwischen wird geredet, geredet und dann noch mal geredet - und das fast immer solo und jeder und jede für sich, sehr selten mit- und zueinander.

    Noch immer wirkt das szenische Koltès-Konstrukt bemerkenswert modern - das war auch schon in Andrea Breths Wiener Fassung neulich zu spüren; das heißt in diesem Fall vor allem: zu hören. Noch immer allerdings sind die unendlich monologischen Gardinenpredigten aber auch bemerkenswert unlebendig. Sie wirken oft eher so, als wären sie entworfen für das Aufnahmestudio, in dem ein Hörspiel produziert wird.

    Die ganze Zeit über simulieren diese Texte ein Leben, das sie eigentlich gar nicht haben. Und in Berlin scheint sich Werner Schroeter obendrein nicht wirklich entschieden zu haben - will er die latenten Zuckungen von "wirklichem” Leben verstärken; etwa, wenn er die junge Maria Kwiatkowski als Mädchen Claire nach dem Verlust eines Schuhs mit dem nunmehr nackten Fuß manisch zittern, zucken und zappeln lässt? Oder sucht er für das komplette dramatische Gefüge eine Art Choreografie, in der nun wirklich nichts und niemand mehr "wirkliche” Wirkungen anstreben soll; und etwa dieselbe Darstellerin der Claire einer gnadenvoll kurzen Vergewaltigungsattacke ausgesetzt ist oder jeder, der gerade gestorben ist, sofort wieder aufsteht und sich an den Rand der Scheibenwelt setzt. Distanz schaffen also? Oder Momente von Realität? Schroeters Inszenierung bietet letztlich keinen wirklich funktionierenden Ansatzpunkt für den Umgang mit Koltès. Dann aber kann dieser Autor auch recht langweilig sein.

    Und das Personal der Volksbühne, einige Gäste und ein stark verjüngtes Rest-Ensemble, gelangt nie so recht an den Punkt - wie das bei Andrea Breth immerhin fallweise gelang -, an dem die programmatische Dunkelheit der Monologkaskaden für Momente dann eben doch schön finster zu funkeln beginnt. Hier aber leuchtet nichts, hier ist der Himmel leer - über einer Welt, die eine Scheibe ist.