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Wiener Festwochen 2019
Experimentelle Lückenbüßer

Um große Opern- oder Musiktheaterprojekte auf die Beine zu stellen, fehlte dem neuen Intendanten der Wiener Festwochen, Christophe Slagmuylder, einfach die Zeit. Die Lücken füllte er mit experimentellen Spielformen. Viele überzeugten, doch es gab auch Reinfälle.

Von Reinhard Kager | 17.06.2019
    Der Trompeter Paul Brody spielt vor zwei rot und gelb angeleuchteten quadratischen Bühnen, in die Glasscheiben eingelassen sind
    Das Stück Narziss und Echo wurde im Rahmen der Wiener Festwochen uraufgeführt (Wiener Festwochen / Nurith Wagner-Strauss)
    Andächtig kauert das Publikum auf Sitzkissen inmitten einer brütend heißen, ehemaligen Fabrikhalle. Rund um die sitzenden Zuhörerinnen und Zuhörer stehen in wechselnden Besetzungen die Musikerinnen und Musiker des belgischen Ensembles Ictus. Sechs pausenlos ineinander übergehende Stücke spielen sie in ihrem Projekt "Pneuma", unter anderen von Sofia Gubaidulina, Peter Ablinger und Heinz Holliger, dessen mit "Lied" betiteltes Flötensolo eingangs kurz zu hören war.
    In Michael Schmids "Breathcore" ist die Idee dieses Abends am stärksten präsent: musikalisch einen fließenden Atem zu erzeugen. Die Stimmen in Schmids Vokalkomposition sind so ineinander geschachtelt, dass der Eindruck entsteht, als vollführten die Choristen tatsächlich einen gemeinsamen, langen Atemzug.
    Ähnliche Empfindungen erweckt Jürg Frey mit den lose gespielten, ohne lineare Entwicklungslogik in sich kreisenden Akkorden seines halbstündigen "Streichquartet 2" – gleichsam ein musikalisches Mantra, zu dem auch gesummt wird.
    Experimentelle Spielformen als Lückenfüller
    Obwohl nicht theatralisch angelegt, zählte dieser atmende Abend zu den überzeugendsten im Musikprogramm der Wiener Festwochen. Die Lücke durch fehlende Musiktheater schloss Intendant Slagmuylder mit experimentellen Spielformen, die herkömmliche Grenzen zwischen Schauspiel, Videokunst, Performance und Musiktheater überschreiten. Gezeigt wurden theatralische Projekte, in denen überwiegend auf Sprache verzichtet wird, um stattdessen mit Musik atmosphärisch Situationen zu schaffen.
    Exemplarisch sei der italienische Theatermacher Romeo Castellucci genannt, dessen "La vita nuova" nur wenige gesprochene Passagen enthält. Den Rest erzählen die Musik von Scott Gibbons, das Bühnenbild und rituelle Handlungen, die fünf wie Priester in Weiß gekleidete Schwarzafrikaner in einer früheren Fabrikhalle vollziehen – zwischen rund zwanzig weiß verhüllten Autos, von denen zwei krachend umgestürzt werden.
    Dazwischen ertönt ein aus mehreren Quellen gespeister elektronischer Soundtrack, in dem sich unter metallene Alltagsgeräusche zartes Vogelgezwitscher und Zirpen mischen oder kaum hörbare afrikanische Rhythmen. Erst am Ende liest einer der fünf Schauspieler in einer Art Bergpredigt der kapitalistischen Kultur die Leviten. Ein rätselhaft-vielschichtiger, zivilisationskritischer Abend.
    Eine Frau in einem Kleid blickt zu einem weißen Stöckelschuh hinunter
    Robert Wilsons "Mary said she was" entpuppte sich als Reinfall (Wiener Festwochen / Lucie Jansch)
    Andere Aufführungen versuchten wiederum, aus der Sprache heraus musikalische Strukturen entstehen lassen. Das beste Beispiel für solch ein Theaterexperiment bot ein libanesisches Trio um den Theatermacher Rabih Mroué mit dem Projekt "Borborygmus". Anfänglich an einem Tisch sitzend, beginnen drei Performer in rasenden, oft einander überlagernden Tempi aus ihrer frühen Kindheit zu erzählen.
    Kleinere Produktionen konnten überzeugen
    In der Zeit, von der die drei erzählen, war der Libanon noch nicht so verwüstet wie seit dem Beginn des Bürgerkriegs. Selbst die aus Verzweiflung geleerten Schnapsgläser werden anschließend streng rhythmisiert zertreten. Und als einige zerknüllt zu Boden geworfene Papierblätter magisch zu brummen beginnen, um anschließend vibrierend in einem Plastiksack zu landen, scheint es, als würde ein irritierter Magen angesichts des derzeitigen Grauens in Nahost nervös zu gluckern beginnen.
    Ähnlich nachdenklich stimmte die Uraufführung von David Martons theatralischer Reflexion auf die Episode "Narciss und Echo" aus Ovids "Metamorphosen". Diese Parabel auf die Gefangenschaft im eigenen Selbst überträgt Marton auf die Smartphone-Generation von heute. Das lange, von kurzen lateinischen Textfragmenten unterbrochene Schweigen nimmt eine kommunikative Wendung, als der Trompeter Paul Brody und der Pianist Michael Wilhelmi zu improvisieren beginnen. Die beiden zelebrieren jene Kunst des spontanen Zusammenspiels, die ohne gemeinschaftliches Miteinander keinen Sinn ergäbe.
    Trotz der jazzigen Annäherungsversuche landen die fünf Protagonistinnen und Protagonisten bei Marton am Ende doch wieder in einem von der Außenwelt isolierten Kubus. Und stimmen dort einen Endzeitchor an, der an depressive Christoph-Marthaler-Abende erinnert.
    So eindrücklich die kleineren Produktionen dieser Wiener Festwochen gelangen, so wenig überzeugten die vermeintlich großen. Ein Reinfall war etwa Robert Wilsons "Mary Said What She Said" mit der Filmschauspielerin Isabelle Huppert, eine Hommage an Maria Stuart. Nicht nur die ungewohnt schroffen Lichtwechsel irritierten, sondern vor allem die pseudobarocke Klangtapete des Filmkomponisten Ludovico Einaudi.
    Da wirkte selbst ein kleines, von zwei Sängern und einem Pianisten getragenes Projekt weit gegenwärtiger: In ihrer "Suite no3 – Europe" nehmen Joris Lacoste und Pierre-Yves Macé von sprachlichen Strukturen den Ausgang, von Texten aus Interviews oder Internetspots in 24 Sprachen. Sowohl die Rhythmen als auch die inhärenten Melodien dieser meist gesprochenen Texte aus ganz Europa bestimmen den Musikpart des begleitenden Klaviers. Auf diese Weise entsteht ein durchaus zwiespältiges Stimmungsbild des heutigen Europas.