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Wilde Kapriolen

Winter 1922 in Frankreich. Im Garten einer kleinen Villa an der Cote d’Azur sitzt und schreibt ein Engländer, der in seiner Heimat als ‚erledigt‘ gilt. Dreißig Jahre rastloser literarischer Tätigkeit haben ihm wenig Ruhm und noch weniger Geld eingetragen. Der Erste Weltkrieg, in dem er als Oberleutnant diente und verwundet wurde, hinterließ schwere seelische wie körperliche Traumata. Seine erste Ehe ist gescheitert, und die öffentlich gewordene Liaison mit einer exzentrischen Society-Schriftstellerin hat Schlagzeilen und ihn gesellschaftlich unmöglich gemacht.

Joachim Scholl | 09.11.2003
    Der Skandal treibt den 49-jährigen aus dem Land, ein großzügiger Freund bietet das Haus in Frankreich als erste Zuflucht an. Und dort fasst der allseits Ruinierte neuen Mut. Sowieso ist er kein Weichei, kein zart-melancholischer Literat. Sondern ein Kämpfer von starker Statur, ausgestattet mit einem blitzenden Geist, in den vornehmen Londoner Salons hat er eine glänzende Figur abgegeben und mit zauberhafter Konversation so manche Lords und Ladies beeindruckt. Als man ihn noch einlud. In den kommenden Monaten wird er sich an viele solcher Szenen erinnern und sie zu einer großen literarischen Abrechnung formieren. Mit der englischen Gesellschaft, ihren Konventionen und Reglements, ihrer stets doppelten Moral.

    Aber er wird auch kritische Fragen an sich selbst richten. Er war und ist Teil eines Systems und einer Epoche, die der Katastrophe nur allzu willig zustrebte. Trägt nicht jeder Einzelne ebenfalls Schuld daran? Die Antwort wird umfangreich ausfallen. In schließlich vier Romanen liefert der Autor die Synthese seiner Zeit: "Das Ende der Parade" lautet der bezeichnende Obertitel dieser Tetralogie. Nein, Ford Madox Ford ist nicht am Ende. Es beginnt seine literarisch produktivste Zeit, überhaupt kommt er erst jetzt richtig in Fahrt. Und genau so fängt er zu Weihnachten 1922 unter südfranzösischer Sonne das Buch an Manche tun es nicht . Im Zug.

    Die beiden jungen Herren – sie gehörten dem englischen höheren Staatsdienst an – saßen in ihrem perfekt ausgestatteten Eisenbahnabteil. Die Ledergurte zum Öffnen der Fenster waren jungfräulich neu; die Spiegel unter den neuen Gepäckablagen so makellos blank, als hätten noch nicht viele hineingeschaut; die üppig schwellenden, wohlbemessenen Polster der Sitze in Scharlachrot und Gelb trugen ein verschlungenes, zierliches Drachenmuster nach dem Design eines Kölner Geometers. Das Abteil roch schwach und etwas klinisch nach einem teuren Lack; Tietjens erinnerte sich, früher schon einmal gedacht zu haben, der Lauf des Zuges sei so ruhig und sicher wie erstklassige britische Wertpapiere.. Und obwohl er schnell fuhr, hätte jedes Schwanken oder Rumpeln über den Schienenstößen, außer in der Kurve vor Tonbridge oder über den Weichen von Ashford, wo dergleichen Unregel- mäßigkeiten erwartet und zugestanden werden, Macmaster veranlasst, darin war Tietjens sich sicher, einen Brief an die Eisenbahngesellschaft zu schreiben. Vielleicht hätte er sogar an die "Times" geschrieben.

    Christopher Tietjens heißt der Held der Geschichte, die um 1912 einsetzt. Tietjens ist 26 Jahre alt, stammt aus einer alten wohlhabenden englischen Familie. Die Privilegien seiner Klasse – materielle Sorglosigkeit, erstklassige Ausbildung und ein entsprechend beruflicher Rang – genießt er selbstverständlich und eher achtlos. Er verfügt über einen scharfen Verstand und leistet sich mit britischem Spott und einer gewissermaßen aristokratischen Arroganz durchaus unorthodoxe Meinungen, die er unverblümt auch gegenüber Vorgesetzten zum Besten gibt. In seiner Tätigkeit für das Imperiale Amt für Statistik gilt er als Zahlengenie mit enzyklopädischem Gedächtnis. Allenthalben strömt ihm Respekt entgegen, "brillanter Mann" lautet stets die Einschätzung, wenn die Rede auf Christopher Tietjens kommt. Sein Kollege und Freund Macmaster ist noch nicht so weit. Der Schotte stammt aus kleinen Verhältnissen, Tietjens Familie hat ihm Studium und Karriere ermöglicht, und bewundernd-neidvoll schaut er auf Christopher.

    Im Schlagschatten von dessen Persönlichkeit versucht Macmaster die Mängel seiner Herkunft zu beheben, betreibt der Sohn eines Lebensmittelhändlers das ehrgeizige Projekt des eigenen gesellschaftlichen Aufstiegs. Er kleidet sich teuer, übt vornehme Manieren und Konversation. Nie würde er einem Höhergestellten widersprechen, sich Kritik erlauben. Macmaster weiß, er nicht ‚brillant‘ ist, also muss er auf anderen Wegen erfolgreich sein. Und gerade hat er ein Buch veröffentlicht, eine Studie zum Werk des berühmten präraffalitischen Malers Dante Gabriel Rossetti. Damit hofft er auf das Entree in die feinen Kreise des Establishments. Tietjens verliert über diese kulturellen Anstrengungen seines Freundes kein Wort.

    Davon spricht er als Gentleman genauso wenig, wie er den eklatanten privaten Makel thematisiert, der seine soziale Stellung und Existenz bedrohlich gefährdet: Christophers reiche Ehefrau Sylvia hat ihm öffentlich Hörner aufgesetzt, ist mit einem dubiosen Lebemann durchgebrannt. Und jetzt, der flotten Zeit des Ehebruchs überdrüssig, möchte sie zurückkehren. Und stellt dazu Bedingungen! Wie wird sich Christopher verhalten?

    Als hätte es sich einmal in sein Gedächtnis gebrannt, erinnerte er sich daran, wie ihr Frühstückszimmer aussah, mit all dem Messing, den elektrischen Geräten, den Pochiertöpfen, Toastern, Grills und Kannenwärmern, die er ihrer blöden Unzuläng- lichkeiten wegen allesamt hasste; die vulgären Sträuße aus Treibhausblumen – die er ihrer wächsernen Exotik wegen verabscheute! – mit hineingeflochtenen bunten Bändern, die er nicht mochte; gerahmte, minderwertige Graphiken – natürlich absolut echt, mein Lieber, mit Garantie von Sotheby – mit rosastichigen Damen unter Gains- borough nachempfundenen Hüten, die Makrelen oder Besen verkauften, ein Hochzeitsgeschenk, für das er nur Verachtung empfand.

    Und Sylvias Mutter Mrs. Satterthwaite, zwar im Morgenmantel, aber mit einem riesigen Hut und unter nicht enden wollendem Geraschel die "Times" lesend, weil sie sich nie für eine bestimmte Seite entscheiden konnte; und Sylvia, die immer auf und ab lief, entweder mit einem Stück Toast in der Hand oder mit den Händen auf dem Rücken, weil sie nie ruhig dasitzen konnte. Sehr groß, blond, so anmutig, so vollblütig und grausam wie die degenerierten Vollblüter, die die Derbys gewinnen. Seit Generationen zu einem Zweck angezüchtet: Männer eines bestimmten Typs zum Wahnsinn zu treiben... Auf und ab tigernd, um immer wieder "Mit ist so langweilig! LANGWEILIG! auszurufen. So langweilig, dass manchmal sogar die Frühstücksteller dran glauben mussten...


    Exakt solch ein Teller, mit Koteletts und Salat, landet später, im zweiten Teil des Romans, auf Tietjens Armee-Uniform, Sylvia wird sich am Anblick ihres bekleckerten Gatten höhnisch freuen. Ja, er hat den blonden Drachen wieder aufgenommen und sogar die demütigenden Bedingungen akzeptiert, die Sylvia ihm abnötigte. Es sind seine konservativen, ja geradezu asketischen Ideale, die Tietjen erneut in eine verhasste Ehehölle zwingen: Höflichkeit, Zuverlässigkeit, äußerste moralische Integrität. Scheidung kommt nicht in Frage, ein Mann, ein Jawort, so bitter die Konsequenzen auch sein mögen. Und Selbstbeherrschung bis in den seelischen Ruin hinein. Der äußere folgt bald. Denn mit Sylvias Rückkehr beginnt Tietjens Abstieg.

    Die Gesellschaft schlägt sich auf die Seite der mondänen, attraktiven Frau, die ihrerseits alle Register der Intrige und übler Nachrede zieht, um sich in der öffentlichen Meinung als strahlendes Opfer eines minderwertigen Ehemannes zu stililsieren. Immer lächerlicher klingt Tietjens verzweifelte Parole "Darüber spricht man nicht" in einer Welt, die mit Wonne über alles spricht, was anderen schaden kann. Es kommt der Tag, an dem Tietjens Bank seine Schecks nicht mehr annimmt. Das ist der gesellschaftliche Fangschuss. Tietjens hat ihn erwartet. Denn längst spürt und weiß er, dass seine moralische Aufrichtigkeit, der feste Glauben an die Superiorität englischer Wertvorstellungen gegenüber der herrschenden Wirklichkeit chancenlos bleiben müssen.

    Wie ein Ehrenmann hat er stets gedacht, gehandelt – und sogar das echte Liebesglück bekämpft, das ihm unvermutet in Gestalt einer jungen Frauenrechtlerin begegnete. Die hübsche und kluge Valentine Wannop, Tochter einer verschrieenen sozialkritischen Schriftstellerin, verliebt sich in Tietjens. Auch dieser fühlt sich mit Macht zu dem Mädchen hingezogen. Aber er darf diese Empfindung nicht zulassen. Noch nicht. Während eines gemeinsamen Spaziergangs bricht alles aus ihm heraus.

    "Bei Gott", sagte er, "Kirche! Staat! Armee! Das Ministerium Seiner Majestät: Seiner Majestät Opposition: Seiner Majestät Geschäftsleute... Die ganze regierende Klasse! Alles verrottet! Dem Himmel sei Dank, dass wir eine Marine haben!... Aber vielleicht ist die auch verrottet! Wer weiß! Britannia braucht keine Schiffswände... Dann also Gott Dank für den aufrechten jungen Mann und das tugendhafte Mädchen in den Gefilden des Sommers: er der Inbegriff des Torys, wie er zu sein hat: sie Suffragette der militanten Spielart: militant hier auf Erden... wie sie es sein muss! Wie sie es sein muss! Wie könnte eine Frau des zwanzigsten Jahrhunderts anders sauber und gesund bleiben! [...] Schöne Augen! Anziehender Rücken. Jungfräuliche Keckheit...

    Eine bessere Beschäftigung für die Mütter des Empire, als jahraus, jahrein unzüchtigen Gatten aufzuwarten und hysterisch zu werden wie läufige Katzen... Aber bei Gott! Wir stehen ja unter einer Wolke! Beide!... Dieses Kindchen und ich! Und General Lord Edward Campion, Lady Claudine Sandbach und der Ehrenwerte Paul, Parlamentsmitglied (suspendiert), sind dazu da, das Gerücht zu verbreiten... Und vierzig zahnlose Philister im Club verbreiten es weiter... Und zahllose Gästebücher verzehren sich danach, deinen Namen ausgelöscht zu sehen, mein Junge! ... My dear boy: tut mir so leid: der älteste Freund deines Vaters... Wär‘ mir recht, wenn die ganze Bande uns hier sähe, würde die Sache entscheiden..."


    Die Sache ist bereits entschieden, "die Bande" muss es gar nicht sehen, die Gerüchte reichen aus. Und Macmaster? Hält er wenigstens zu seinem Freund? Ein bißchen, aus schlechtem Gewissen, aber nicht wirklich. Mit Gewandtheit hat er sich inzwischen emporgearbeitet, die reiche respektable Witwe Duchemin geheiratet und einen literarischen Salon etabliert, in dem sich bald die ganze Londoner Haute Volee versammelt.

    Fünf Jahre sind mittlerweile vergangen, der Krieg ausgebrochen und zieht sich hin, die Spitzen der Gesellschaft bleiben davon unberührt. Christopher Tietjens hatte sich sofort freiwillig gemeldet - in den Augen der Gesellschaft natürlich eine Flucht, die ihn aber auch nicht retten kann. Durch die Explosion einer Granate büßt er sein phänomenales Gedächtnis ein. Auf dem Genesungsurlaub fliegt ihm nicht nur der Frühstücksteller, sondern seine gesamte Existenz um die Ohren. So schnell wie möglich möchte er an die Front zurück. Für eine Einladung bei Macmaster’s kommt solch ein Mann nicht mehr in Frage. Dafür aber Sylvia. Ihr Auftritt wird zum Triumph.

    Im Salon war völlige Stille eingetreten. Jede der anwesenden Frauen zählte die Falten von Sylvias Rock und schätzte, wieviel Material darin wohl verarbeitet war. Denn das war außergewöhnlich: Er passte genau um die Hüften und vermittelte einen Eindruck von Länge und schwingender Fülle – dabei reichte er nicht einmal auf die Knöchel. Diese Wirkung wurde zweifellos durch die Üppigkeit des Materials hervorgerufen, wie beim Kilt eines Highlanders, für den man zwölf Yards Stoff braucht. Und aus dem allgemeinen Schweigen konnte Valentine schließen, dass allen Frauen und den meisten Männern – falls sie es nicht wussten, das dies Mrs. Tietjen war – bewußt war, dass hier eine Persönlichkeit aus der Welt der "Illustrated Weekly" vor ihnen stand, jemand von Rang und Namen, eine Persönlichkeit aus dem Adel. Die kleine Mrs. Swan, die erst vor kurzem geheiratet hatte, erhob sich sogar, durchquerte den Raum und ließ sich neben ihrem Bräutigam nieder. Es war eine Reaktion, die Valentine verstehen konnte.

    Sylvia, die Mrs. Ducheim interesselos begrüßt hatte, stand da und blickte sich um. Sie machte den Eindruck einer Dame im Gewächshaus eines Gärtners, die sich überlegte, welche Blume ihr gefallen könnte, und dabei samt und sonders die Gärtner übersah, die sich vor ihr verbeugten. Sie hatte lediglich die Wimpern gesenkt, zweimal, zum Zeichen, dass sie zwei mit vielen scharlachroten Streifen prangende Stabsoffiziere erkannt hatte, die sich zögernd von ihren Plätzen erhoben. Sie Stabsoffiziere, die zu den Macmasters kamen, gehörten nicht zur ersten Garnitur, trugen aber gleichwohl die erforderlichen Rangabzeichen, um ihr zugerechnet werden zu können.


    "Die große Gereiztheit" und "Donnerschlag" heißen die zwei letzten Kapitel von Thomas Manns Zauberberg , die unmittelbar vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs spielen. Beide Überschriften taugen gut als kategoriale Umschreibungen von Ford Madox Fords Roman, der im selben Jahr, 1924, wie der Zauberberg erscheint und in seinem ersten Teil exakt jene nervös-angespannte, europäische Stimmung von unterdrückter Aggression, saturiertem Ennui und larmoyanter Mutlosigkeit widerspiegelt. Christopher Tietjens ist kein Hans Castorp und nicht lungenkrank, dennoch sind er und die Gesellschaft, die ihn umgibt, ebenso tief von einer ‚maladie anglaise‘ befallen, die den geistigen und kulturellen Auflösungsprozeß steuert und beschleunigt. In verblüffender Parallelität verdichten sich in den Figuren beider Romane die Krisensymptome der Epoche.

    Der Donnerschlag des Ersten Weltkriegs löst in einer kurzen Katharsis – auch Christopher ist regelrecht erleichtert, als er ausbricht – den Stau der Frustrationen, doch auf den Schlachtfeldern wird dann erst offenbar, wie weit die Katastrophe schon fortgeschritten ist. Ohne dass es der Verfasser in einigen Fällen wissen konnte, unterhält Manche tun es nicht weitere zahlreiche Beziehungen zu den Werken seiner Zeit. 1925 veröffentlicht Virginia Woolf ihren Roman Mrs. Dalloway , der auf seine Weise von denselben Erschütterungen erzählt. Vier Jahre zuvor ist Three Soldiers von John Dos Passos erschienen, 1922 T.S. Eliots furioses Langgedicht The Waste Land . Noch deutlichere Verbindungen lassen sich zu D.H.Lawrences 1920 erschienenem Roman Women in Love herstellen.

    Dort werden neben harscher Zivilisationskritik in verschiedenen sozialen, aber vor allem erotischen Arrangements genau jene massiven zerstörerischen Kräfte beschworen, die Ford auf sein Personal wirken lässt. Der Autor hat fast sämtliche große Autoren der Dekade persönlich gekannt, zum Teil entdeckt und gefördert. In deren gewaltigen ästhetischen Kräftefeld gewinnt seine Prosa an Kontur und stellt sich auf innovative, eigenständige Weise an ihre Seite. Besonders in formaler Hinsicht zehrt Ford von den aktuellen Prägungen und Experimenten des modernen Romans. Geschult zum einen durch die filigrane psychologische Erzähltechnik von Henry James, mit dem er eng befreundet war, zum anderen beeinflusst vom zupackenden Stil eines Joseph Conrad – drei Romane schrieben sie zusammen -, gebietet Ford zwar über alle Finessen traditionell realistischer Romankunst; mit Leichtigkeit gibt er den "raunenden Beschwörer des Imperfekts".

    Aber ebenso souverän durchbricht er die Konventionen und reagiert auf die Schübe moderner Erkenntnistheorie. Es ist die Phase, in der die Künstler das seit Ernst Mach, Albert Einstein und Sigmund Freund veränderte Bewusstsein von Raum, Zeit und Seele erstmals zu gestalten beginnen. James Joyce weist mit seinem Ulysses die neue aufregende Bahn. Der "stream of consciousness", der Bewusstseinsstrom – gebrochen, assoziativ – zieht ein in den Roman, zurücktritt die Allwissenheit des realistischen Erzählers. Auch Ford verlangt hier dem Leser einiges ab: er verlegt die Handlung zum Teil ganz in den subjektiven, von Emotionen und Erinnerungen durchrauschten Innenraum seiner Figuren. Erzählzeit und erzählte Zeit schlagen zwischendurch wilde Kapriolen. Ereignisse werden diskutiert, die für den Leser noch gar nicht stattgefunden haben, es ist bisweilen nicht leicht, sie verlässlich zu rekon- struieren. Der Erzähler bleibt passiv, erläutert nichts, hält äußerste Distanz zu seinen Figuren wie zu ihren Empfindungen, scheinbar wie von selbst entfaltet sich der Roman.

    Diese Methode nannte Ford selbst "progression d’effet‘, die Entwicklung von Wirkungen gemäß seiner auf künstlerischem Wege gewonnenen Erkenntnis, "dass das Leben selbst keine Geschichten" erzähle, sondern nur Eindrücke verschaffe, die es dann literarisch umzusetzen gelte. Der Herausgeber und Übersetzer Joachim Utz zitiert diese wichtige Passage in einem klugen, exzellenten biographischen Nachwort, das zum Verständnis von Fords Werk und seinem literarhistorischen Rang wesentlich beiträgt. Überhaupt hat der Verlag in der Wahl von Joachim Utz die glücklichste Hand bewiesen. Dem renommierten Professor und Experten für englische Literatur des Fin de siecle gelingt eine Übertragung, die man nur meisterlich nennen kann. Mit außerordentlichem Gespür für die idiomatischen Nuancen des englischen Originals trifft Utz jeden Ton, seine sprachhistorische Kenntnis jener Zeit sichert Fords Stilistik auch im Deutschen ihre elegante Wucht.

    So wird Manche tun es nicht zu einem machtvollen, aufregenden Lektüre-Erlebnis, und umso unbegreiflicher erscheint einem die Tatsache, dass solch ein großer Autor dem literarischen Bewusstsein so sehr entfallen konnte. – Wie geht sie nun aus, die kummervolle Geschichte? Eine kleine Hoffnung auf Glück hält Ford für seinen Helden gott sei Dank parat. Mit Mühe und Not windet sich Christopher aus seinem inzwischen reichlich aufgesprengten englischen Korsett. Er macht Valentine einen Antrag, wenn auch ein wenig ungeschickt. Aber er hat es auch noch nie getan.
    An Schwänen vorbei – es könnten aber auch Hütten gewesen sein; sie konnte sich nicht mehr genau daran erinnern – führte er sie zu einem Sitzplatz unter oder neben einer Trauerweide. Nach Luft schnappend wie ein Fisch hatte er gesagt: "Willst du heute nacht meine Geliebte sein? Morgen früh rücke ich aus. Acht Uhr dreißig von Waterloo." Sie hatte geantwortet: "Ja! Sei kurz vor zwölf bei dem und dem Atelier... Ich muss meinen Bruder nach Hause bringen... Er wird betrunken sein." Dann wollte sie sagen: "Oh, mein Liebling, ich habe mich so nach dir gesehnt..." Stattdessen sagte sie: "Ich habe die Kissen geordnet..." Sie sagte zu sich: "Was hat mich nur dazu gebracht, dies zu sagen? Genauso gut hätte ich sagen können: ‚Der Schinken ist in der Speisekammer unter einem Teller...‘ Ohne eine Spur von Zärtlichkeit."

    Und dann ging sie dahin, auf dem mit Muschelschalen bedeckten Weg,zwischen knöchelhohen Geländern, und weinte bitterlich. Ein alter Stadtstreicher mit entzündeten, tränenden Augen und schütterem weißen Bart beobachtete sie neugierig von seinem Ruheplatz auf dem Rasen. Er schien sich hier wie der Herrscher vorzukommen über diese Gefilde. "So sind die Weiber!" sagte er mit der scheinbar dümmlichen Orakelhaftigkeit der Alten und Abgebrühten. "Manche tun’s!" Dann spuckte er auf den Rasen; sagte: "Ach ja!" und setzte hinzu: "Manche tun’s nicht.


    Ford Madox Fords Roman ist grandiose Weltliteratur, und man wünscht sich, dass ihn viele Leser entdecken. Und so ließe sich vielleicht auf eine Fortsetzung hoffen. Wie gesagt: In drei weiteren Büchern begleitet Ford diesen Christopher Tietjens durch Krieg und allerlei Wirrnisse. Davon müssen wir irgendwann lesen dürfen.

    Ford Madox Ford
    Manche tun es nicht
    Aus dem Englischen und mit einem Nachwort versehen von Joachim Utz.
    Eichborn Berlin, 430 S., EUR 24,90